Halle-Attentat: Reportage zum vierten Prozesstag Einblicke ins Privatleben des Attentäters

30. Juli 2020, 08:16 Uhr

Auch am vierten Prozesstag wird das Privatleben des Angeklagten durchleutet. Die Eltern und die Halbschwester sind als Zeugen geladen. Es wird deutlich: Es hat Anzeichen für antisemitisches Gedankengut gegeben. Sie wurden nur nicht gedeutet.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Der Angeklagte Stephan Balliet wird vor dem vierten Prozesstag in Handschellen in den Gerichtssaal gebracht.
Vor allem der Ex-Freund der Halbschwester machte Aussagen über den Angeklagten. Bildrechte: dpa, Max Schörm

Heute wird es privat – so viel steht schon zu Beginn des vierten Verhandlungstages fest. Insgesamt acht Zeugen sind geladen, darunter die Familie des Angeklagten, zwei frühere Lehrerinnen und ein Schulfreund. Ob sie alle aussagen werden? Ungewiss.

Die Familie hatte bereits vergangene Woche in einem Brief angekündigt, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen will. Allerdings sickerte gestern zum Ende des Verhandlungstages durch, dass zumindest die Halbschwester des Angeklagten eine Erklärung verlesen lassen könnte. So oder so: Um das Zeugnisverweigerungsrecht zu beanspruchen, müssen sie entweder persönlich vor Gericht erscheinen und dies erklären oder sich durch einen Anwalt vertreten lassen.

Die Familie schweigt

Als erste Zeugin betritt die Mutter des Angeklagten den Saal. Eine dezent gekleidete Frau mit sehr kurz geschnittenen grauen Haaren und Brille. Im Zeugenstand ist sie nur für wenige Minuten. Nach der Belehrung durch die Vorsitzende Richterin erklärt sie, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wird.

Direkt darauf folgt der Vater des Angeklagten. Ein kleiner Mann mit Brille und blütenweißem Hemd. Das Prozedere ist gleich: Auch er wird belehrt, auch er möchte nicht aussagen. Nach wenigen Minuten verlässt auch er den Saal. Sein Sohn auf der Anklagebank nickt ihm kurz zu.

Als dritte Zeugin betritt die Halbschwester den Saal. Es ist offensichtlich, dass ihr die Situation unangenehm ist. Sie wirkt bedrückt. Ihre Arme sind vor ihrem Körper verschränkt, der Blick auf den Boden gerichtet. Sie geht langsam den kurzen Weg von der Tür zum Zeugenstand. Wie ihre Mutter wird sie von einer Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes der Justiz begleitet. Wie schon bei seinen Eltern, schaut der Angeklagte die ganze Zeit in ihre Richtung.

Vor der Verhandlung ging das Gerücht herum, dass eine schriftliche Erklärung der Halbschwester verlesen werden könnte. Sie wird es nicht. Auch sie erklärt, dass sie nicht aussagt. Die Richterin will sie schon aus dem Zeugenstand entlassen, als Rechtsanwalt Alexander Hoffmann plötzlich das Wort ergreift. 

"Verstehen Sie mich nicht falsch, ihr Halbbruder hat ja die Tat gefilmt. Es geht hier nicht um eine Belastung…", erklärt er. Doch die Vorsitzende Richterin unterbricht und entzieht ihm das Wort. Die Zeugin dürfe nicht beeinflusst werden – und so verlässt auch die Halbschwester wieder den Saal.

Damit können weder die von ihr während der Polizeivernehmung getätigten Aussagen, noch die der Eltern vor Gericht verwendet werden. Schade, denken sich in diesem Moment sicherlich viele im Saal. Es wäre spannend gewesen, zu erfahren, welches Bild sie von ihrem Sohn, Bruder haben. Hat er sich ihnen gegenüber antisemitisch oder rassistisch geäußert? Und wenn ja, wie haben sie darauf reagiert? Haben sie sich nie gefragt, was der Sohn in der Werkstatt des Vaters eigentlich genau baut?

Anzeichen wurden übersehen

Auskunftsfreudiger ist der frühere Lebensgefährte der Halbschwester. Durch ihren gemeinsamen Sohn ist er auch heute noch mit der Familie des Angeklagten verbunden. Er wirkt wie jemand, der nichts Falsches sagen möchte. Er antwortet ruhig, überlegt. Jemand, der sich nicht aufspielt. Aber auch jemand, der nach familiären Details und Gesprächen befragt, sich nicht an besonders viel erinnern kann.

Vielleicht, weil scheinbar nicht ganz so viel in der Familie miteinander gesprochen wurde, wie man es in einer Familie erwartet, wo der erwachsene Sohn noch zu Hause lebt. Eine Familie, die sich im kleinen Kreis regelmäßig sonntags zum Essen getroffen hat.

"Über was unterhält man sich denn, wenn fünf Erwachsene am Tisch sitzen," fragt die Vorsitzende Richterin. "Alltag. Was so passiert ist. Manchmal auch, was in den Medien kam." Der Zeuge berichtet davon, wie sein Sohn bei Besuchen auf dem Bett des Angeklagten hüpfte – das Bett, unter dem der Angeklagte seine selbstgebauten Waffen versteckte. Eine Geschichte, die im Widerspruch zu der Aussage steht, dass die Tür immer verschlossen gewesen wäre.

Er erzählt, er habe mitbekommen, wie der Angeklagte in der Werkstatt des Vaters Metall bearbeitet habe. Weil er ausgebildeter Konstrukteur ist, habe sich der Angklagte bei ihm einen Rat geholt. Einmal habe der Angeklagte eine selbstgebaute Metallpresse präsentiert. Welchen Zweck sie erfüllen sollte, hat der Zeuge aber nie nachgefragt. Warum nicht? Warum fragte niemand nach? Fragen, die wir hinter der Panzerglaswand leider nicht stellen können. 

Sein Eindruck vom Angeklagten? Zurückhaltend. Wenig hätten sie miteinander gesprochen. Meist saß der Angeklagte am Computer, habe etwas in Foren gelesen. Was, weiß der Zeuge nicht. Er habe auch nicht nachgefragt.

Eine Zeit lang hätten er und seine damaligen Freundin auf Bitte der Mutter den Angeklagten mit zu Freunden mitgenommen. Auch da sei der Angeklagte nicht aufgefallen.

Doch nach und nach wird durch die Fragen von Richtern und den Vertretern der Nebenkläger deutlich: Ganz so unauffällig war der Angeklagte nicht. Es hat Anzeichen gegeben. So erzählt der Zeuge von einer Situation in einem Supermarkt, bei der er ihn als Bedrohung wahrgenommen habe. Damals hätten sich zwei Mitarbeitende einer Pizzeria in einer anderen Sprache unterhalten. Der Angeklagte soll laut und aggressiv geworden sein, gesagt haben, sie sollen Deutsch reden. Auch habe sich der Angeklagte einmal antisemitisch geäußert. Allerdings wusste der Zeuge nicht, ob das ernst gemeint oder ein "Jux" war. Darüber hinaus soll der Angeklagte nach einer Geburtstagsfeier im Streit ein Messer gezückt haben. Der Zeuge und die Schwester sollen zwar Äußerungen und Vorfälle, wie diese abgelehnt haben – ernsthaft reagiert oder aktiv gehandelt hätten sie aber nicht.

Zeuge stolpert über eigene Aussagen

Es steht fest: In dieser Familie wurde viel geschwiegen, das bemerkt auch Rechtsanwältin Assia Lewin. Sie fragt, ob der Zeuge denke, dass man mit Schweigen Probleme lösen kann. Er verneint. "Dann sollten sie vielleicht beginnen zu sprechen."

Ob er heute anders handeln würde, fragt kurze Zeit darauf Rechtsanwalt Juri Goldstein. "Eins habe ich gelernt, da ich auch selbst mal in dieser Szene tätig war. Was heißt tätig, ich war mal in so ner Gruppe. Die Leute sind so stur, dass ich gar nicht sicher bin, ob es was bringt die Leute damit zu konfrontieren." Eine Aussage, mit der sich der Zeuge selbst ein Bein stellt. Denn plötzlich steht seine Vergangenheit im Mittelpunkt. 

Er wird zu Freunden aus der rechtsextremen Szenen befragt. Was haben sie gemacht? "Leute angepöbelt, sich mit der Polizei angelegt." Er selbst habe dies aber nicht getan. Rechtsanwalt Onur Özata hakt nach: "Sie standen daneben und haben zugeguckt oder was war ihre Rolle dabei?" Der Zeuge sagt ja. Versucht deutlich zu machen, dass er nur für eine kurze Zeit Teil dieser Gruppe war. "Ich habe mich mit den Leuten rumgetrieben, weil ich jung und unwissend war – dumm." 

Zwei Lehrerinnen und ein Bundeswehrkamerad

Die Befragung des ehemaligen Schwagers des Angeklagten geht lang, über die Mittagspause hinaus. Erst gegen 14 Uhr sind weitere Zeugen an der Reihe – zwei frühere Grundschullehrerinnen und ein Bundeswehrkamerad, der sich für drei Monate eine Stube mit dem Angeklagten teilte.

Besonders tiefe Einblicke können sie nicht in die Kindheit und das Familienleben geben. Eine der beiden früheren Lehrerinnen beschreibt den Angeklagten als guten, ehrgeizigen Schüler. Als Kleinster der Klasse, den anderen vielleicht körperlich, aber nicht geistig unterlegen. Selbstbewusst, wenn er etwas erklären konnte. Aber eben auch damals schon eher ein Einzelgänger. Freunde? "Sie haben zwar in den Pausen auch gespielt. Aber Freunde hatte er nicht direkt." Eine Beschreibung, die auf viele Kinder zu trifft. 

Und die Mutter? Beide Grundschullehrerinnen waren lange Kolleginnen von ihr. Eine sogar etwas enger mit ihr bekannt. Sie wusste, dass sich die Mutter des Angeklagten Sorgen um die Zukunft ihres Sohnes machte. Sie schlug ihr vor, sie solle ihn rauswerfen. Danach kühlte sich das Verhältnis der beiden Frauen ab. Auch sie wird auf eine mögliche antisemitische, rassistische Einstellung der Mutter angesprochen. Bereits gestern wurde nach dem Verlesen ihres Abschiedsbriefes danach gefragt.

Die Zeugin gibt an, die Berichterstattung dazu verfolgt zu haben. "Wenn ich das als Fremde lesen würde, würde ich sagen, die Anschauung ist menschenfeindlich gesinnt, rassistisch. Aber ich kenne sie seit über 20 Jahren, sie ist Ethiklehrerin. Sie hat nie – und wenn ich sage nie, dann stimmt das – sich in irgendeiner Weise rassistisch geäußert."

Gegen 16 Uhr wird der siebente und letzte Zeuge, der Bundeswehrkamerad, entlassen. Auch er konnte nur wenig Licht ins Dunkel bringen. Seine Beschreibungen der Persönlichkeit decken sich mit dem, was wir bereits gehört haben. Er war nicht sonderlich beliebt, war eher unsportlich und stand in der Hierarchie unten.

Kameraden zogen den Angeklagten mit dem Spitznamen "Kartoffel" auf. Er selbst kam mit dem Angeklagten gut aus. Über Politik habe man sich damals aber nicht unterhalten. Hat der Angeklagte schon bei der Bundeswehr Worte wie "Jude" als Schimpfwort verwendet? Das könne er sich rückblickend vorstellen. "Aber solche Beleidigungen waren ziemlich normal in diesem Umfeld."

Die Beweisaufnahme wird damit am 25. August fortgesetzt. Die fünfte Sitzung kommende Woche Montag wird rein formeller Natur sein. Lediglich eine Stunde ist dafür angesetzt. In Deutschland darf ein Hauptverfahren nicht länger als für drei Wochen unterbrochen werden.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Über die Autorin Marie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Quelle: MDR/ff,olei,pow

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 29. Juli 2020 | 19:00 Uhr

12 Kommentare

Magdeburg1963 am 31.07.2020

Der Prozess ähnelt zunehmend einem Forum über Antisemitismus, Möglichkeiten einer Radikalisierung und rechte Netzwerke. Um das eigentliche Tatgeschehen scheint es kaum noch zu gehen. Kaugummikauende und gähnende Rechtsanwälte, eine Pflichtverteidigung, die sich so gut wie nicht zu Wort meldet. Das erklärt auch die avisierte Prozessdauer - man benötigt Zeit, den Prozess medial zu gestalten und sich auszuleben. Und bevor jetzt Anfeindungen kommen - ich habe das Geschehen selbst beobachtet, bin für eine lebenslange FS und kein AfD - Mitglied!

Daniel K. am 31.07.2020

Ich war vor 18 Jahren als Grundwehrdienstleistender bei der Bundeswehr und dort waren derartige rassistische Ausfälle auch an der Tagesordnung, auch durch Vorgesetzte.

Natürlich liegt die Ursache, wenn Wehrdienstleistende "Jude" als Schimpfwort nutzen, in ihrer Sozialisation vor der Zeit bei der Bundeswehr. Aber im Umfeld der Bundeswehr sollte den Soldaten sehr schnell und sehr deutlich klar gemacht werden, dass derartiges Verhalten absolut inakzeptabel ist. Dafür steht während der Grundausbildung auch "politische Bildung" auf dem Lehrplan, aber die Zeit wurde lieber damit verschwendet, uns alle Bundeskanzler und Bundespräsidenten auswendig lernen zu lassen, statt über Dinge wie Rassismus zu sprechen. Und das ist schon ein großes Problem.

Anders gesagt: Man kann jungen Menschen, die frisch von der Schule kommen und eine rassistische Denkweise verinnerlicht haben, nicht Waffen in die Hand drücken, ohne ihnen erst diesen Rassismus auszutreiben... das lief bisher stets falsch.

Daniel K. am 31.07.2020

Die schlimmste Tatsache, die in diesem Bericht mal wieder an's Tageslicht kommt, ist der letzte Absatz:

"Hat der Angeklagte schon bei der Bundeswehr Worte wie "Jude" als Schimpfwort verwendet? Das könne er sich rückblickend vorstellen. "Aber solche Beleidigungen waren ziemlich normal in diesem Umfeld.""

Leider deckt sich das auch mit meiner Erfahrung aus dem Wehrdienst im Jahr 2002. Dieser typische "racial slur" war damals in der Bundeswehr weit verbreitet (auch unter Vorgesetzten) und ich habe keinerlei Grund, davon auszugehen, dass dieses Problem heute kleiner ist, da diese Problematik über Jahrzehnte ignoriert und klein geredet wurde.

Es darf nicht Normalität sein, dass "Jude" als Schimpfwort genutzt wird und dies niemanden sauer aufstößt, nicht einmal auffällt. Weder bei der Bundeswehr, noch in der Schule, nirgendwo.

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