Freitag, 30.07.2021: Rosenreich
Heute mal wieder einen üppigen Rosenstrauß geschenkt bekommen - einfach so - wer wünscht sich das nicht? Vermutlich werde ich mir das vergeblich wünschen. Aber 8.600 Rosenarten, die weltgrößte Sammlung bewundern, das könnte klappen. Ich plane einen Sommerausflug nach Sangerhausen ins Rosarium. Ich liebe die Düfte und Farben dort. Den Rausch von Millionen Rosenblättern.
Aber die Menge macht es nicht. Jede Rose spricht ihre eigene Sprache. Und jede erinnert mich immer wieder an die bekannte Geschichte von Rainer Maria Rilke.
Als der Dichter in Paris lebt, geht er mit einer jungen Französin jeden Mittag über einen Platz, an dem eine Bettlerin sitzt - stets am gleichen Ort. Rilke gibt nie etwas. Seine Begleiterin schenkt meist ein Geldstück, das die Bettlerin annimmt, ohne aufzublicken.
"Warum geben Sie nichts?", fragt die Französin einmal. Und Rilke antwortet: "Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand." Wenige Tage später bringt Rilke eine eben aufgeblühte Rose mit. Er legt sie in die abgezehrte Hand der Bettlerin und will weitergehen. Da geschieht etwas Unerwartetes: die Bettlerin blickt auf, küsst Rilkes Hand, erhebt sich mühsam und geht mit der Rose davon.
Eine Woche lang bleibt sie verschwunden. Nach acht Tagen sitzt sie plötzlich wieder an ihrem Platz. "Wovon hat sie denn all die Tage gelebt?", fragt Rilkes Begleiterin. Und er antwortet: "Von der Rose."
Nicht nur das großartige Rosarium wird mich demnächst wieder an Rilke erinnern: Wir müssen dem Herzen schenken, nicht nur der Hand. Geben will eben doch gelernt sein, das lehrt mich jede Rose. Vielleicht verschenken Sie zur Übung heute mal wieder eine?