Landwirtschaft und Nachhaltigkeit EU-Verordnung: 50 Prozent weniger Pestizide – Ist das überhaupt möglich?

22. März 2022, 15:07 Uhr

Die EU-Mitgliedsstaaten sind sich einig: Der übermäßige Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist schädlich, sie müssen reduziert werden. Weil es bei der Umsetzung allerdings hakt, soll nun eine rechtlich bindende EU-Verordnung auf den Weg gebracht werden. Damit wären die Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihren Pestizideinsatz zu halbieren. Aber ist das überhaupt möglich? Und was würde das für uns Verbraucher, die Landwirte und Landwirtinnen bedeuten?

In dieser Woche (23.03.2022) will die EU-Kommission den Entwurf zu einer Verordnung vorlegen, die eine Verringerung des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft um mindestens 50 Prozent bis 2030 vorschreibt. Kommt es zu dieser Verordnung, wäre das Ziel für alle Mitgliedsstaaten der EU rechtlich verbindlich.

Auch die "Farm-to-Fork"-Strategie (also von der Farm auf die Gabel) sieht die Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 vor. Sie wurde bereits 2020 als Teil des EU Green Deals vorgestellt. Allerdings sieht es in Sachen Umsetzung der Länder eher mau aus. Die Vorgaben der bisher bestehenden EU-Richtlinie werden nicht besonders konsequent umgesetzt, Deutschland ist da keine Ausnahme. Konkrete Reduktionsziele und -vorschläge gibt es noch nicht. Eine EU-Verordnung würde zum Handeln zwingen.

Pestizide: Fluch und Segen

Fakt ist: Durch den übermäßigen Einsatz von Pestiziden nimmt die Natur Schaden. Nicht nur die Biodiversität, also die Vielfalt von Pflanzen und Tieren wird beeinflusst, sondern auch die Qualität von Ökosystemen. Böden und Gewässer leiden unter dem Einsatz der Chemikalien. Allein in Deutschland gibt es 980 zugelassene Pflanzenschutzmittel, in denen 283 Wirkstoffe zum Einsatz kommen. 2020 wurden 100.251 Tonnen an die Landwirte und Landwirtinnen ausgegeben. Aber ist es überhaupt möglich, 50 Prozent weniger Pestizide einzusetzen?

"Möglich ist das natürlich, aber es scheitert am Willen", sagt Bärbel Gerowitt, Professorin für Phytomedizin an der agrar- und umweltwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock. Sie ist ganz klar der Meinung, dass der derzeit massive Einsatz, also die schiere Menge an Pestiziden, ein großes Problem ist. Eine Reduzierung sei notwendig und auch machbar, aber man müsse ganz klar sehen, dass das weitreichende Folgen hat – und die müsse man gewillt sein auf sich zu nehmen.

Knappheiten ertragen

Mit weniger Pestiziden kann es zu Produktionsausfällen kommen. Das würde den Landwirten und Landwirtinnen natürlich schaden. Lebensmittelpreise würden sich dadurch erhöhen und auch die Vielfalt in unserer Speisekammer wäre eine andere. "Der Verbraucher müsste Knappheiten in Kauf nehmen", sagt Gerowitt. Das bedeutet: Verzicht aushalten. Denn sollten die Verbraucherinnen und Verbraucher einfach auf Lebensmittel aus Drittstaaten zurückgreifen, in denen der Pestizideinsatz ohne Einschränkungen möglich ist, wird das Problem nur verlagert. Wirkliche Nachhaltigkeit wird dadurch nicht erzeugt.

Die Menschen müssen umdenken

Damit dieses Vorhaben gelingt, müssen Politik, Landwirtschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen, alle müssen ihren Beitrag leisten. Auch Christoph Schäfers, Leiter des Bereichs Angewandte Oekologie und Bioressourcen am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie (IME), sieht das so. Die Menschen müssen umdenken. "Man muss Geld in die Hand nehmen", sagt Schäfer. Aktuell sei es nämlich so, dass wir zwar immer einen prall gefüllten Kühlschrank haben wollen, die Lebensmittelpreise im globalen Vergleich aber sehr niedrig sind. Kurz gesagt: Wir wollen alles, aber zum kleinen Preis. Doch diese Discounter-Mentalität lässt sich sehr schlecht mit Nachhaltigkeit zusammenbringen. Es ist leicht zu sagen: Klar, wir wollen weniger Pestizide. Aber sind wir auch gewillt, unseren Teil dazu beizutragen?

Einsatz auf gut Glück

Der Einsatz von Pestiziden läuft im Moment prophylaktisch ab. Die Landwirte und Landwirtinnen wissen im Voraus selten, ob der Einsatz gerechtfertigt ist oder nicht. Um potenzielle Ernteausfälle zu vermeiden, werden Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Die Reduzierung dieses Einsatzes ist aber laut Marcel Dehler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, im Sinne der Landwirte und Landwirtinnen. "Sie selbst haben auch ein Interesse daran, den Pflanzenschutzmitteleinsatz so gering wie möglich zu halten, denn ein übermäßiger Gebrauch geht letztendlich auch zu Lasten ihres Einkommens." Rückwirkend betrachtet stellt sich nämlich oft heraus, dass ein gewisser Anteil an eingesetzten Pestiziden ökonomisch gar nicht sinnvoll gewesen ist.

Einsparpotenzial vorhanden

Einsparpotenzial gebe es auf jeden Fall. Bärbel Gerowitt könnte sich hier vor allem die Bereiche Mais-, Getreide und Futtermittelanbau vorstellen. Die seien nämlich robuster als man annimmt. Bei Kartoffeln, Obst und Wein wird es da schon schwieriger. Einen Teil könnte man auch reduzieren, wenn die Pestizide cleverer eingesetzt werden würden. Das würde aber voraussetzen, dass man den Landwirten und Landwirtinnen prognostisch besser unter die Arme greift. "Man müsste ihnen sagen können: Jetzt lohnt es sich und jetzt lohnt es sich nicht, da lassen wir jetzt die Finger davon. Da müssen wir noch deutlich besser werden", so Gerowitt. Darüber hinaus könne man einen Teil der Chemie durch Biologie und Physik ersetzen. Vom Ökolandbau kann man da sehr viel lernen. Hier wird vorwiegend versucht, auf physikalische oder biologisch-biotechnische Verfahren zurückzugreifen. Die Unkrautregulierung erfolgt zum Beispiel in der Regel mechanisch.


Natürlich gibt es auch viele moderne und vielversprechende Ansätze, Anbaumethoden zu optimieren, Ernteausfälle zu vermindern und ressourceneffizienter zu wirtschaften. Das sogenannte Smart Farming ist laut Gerowitt aber nur ein Silberstreif am Horizont und ist kurzfristig und umfänglich nicht die Lösung des Problems. Denn auch hier gilt: Es ist teuer. Um die EU-Ziele umsetzen zu können, muss also stark auf die Sorgen und Nöte der Landwirtinnen und Landwirte eingegangen werden.

Dominanz verträgt sich nicht mit Diversität

Hinzu kommt laut Christoph Schäfer, dass der Biodiversität mit dem alleinigen Weglassen der Pestizide noch immer nicht geholfen ist, denn "Dominanz und Diversität gehen nicht zusammen". Soll heißen: Lassen wir die Pestizide weg, halten aber weiterhin an einer Landwirtschaft fest, die vorrangig auf Monokulturen setzt, gewinnen wir im wahrsten Sinne des Wortes keinen bunten Blumenstrauß. Doch wie bereits erwähnt ist die Pestizidreduktion nur ein kleines Puzzleteil im umfangreichen Plan, das europäische Lebensmittelsystem bis 2030 in verschiedenen Dimensionen nachhaltiger zu gestalten. Doch schon allein an diesem kleinen Puzzleteil sieht man, wie schwierig und kleinteilig eine erfolgreiche Umsetzung eines solchen Vorhabens ist. So viele Komponenten sind zu beachten.

Welche Modelle letztendlich eingeführt werden, um den Pestizideinsatz zu regulieren, seien es Steuern oder Subventionen, wird sich zeigen. Und auch auf welchen Ebenen die Reduzierung erfolgt, ist noch unklar. Klar ist aber, dass noch sehr viele Schritte gegangen werden müssen, um das gesetzte Ziel zu erreichen.

(JeS/SMC)

Links/Studien

Green Deal
Farm to Fork Strategy
Absatz an Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland 2020

1 Kommentar

part am 22.03.2022

Fraglich bleibt zudem, ob die Fachkräfte in der Landwirtschaft überhaupt immer das richtige Mischungsverhältnis hinbekommen. Tränende Augen, gereizte Schleimhäute oder Kopfschmerzen in der Nähe von Wohnbebauungen erfüllen schon den Straftatbestand der Körperverletzung beim Pestizideinsatz. Die Kontrollbehörden dürften an permanenter Unterfinanzierung und Personalmangel leiden, so wie in anderen Bereichen auch.