Collage zur Medienkolumne Das Altpapier vom 23. September 2019: Logo ZDF. Davor läuft eine Figur davon, die sich die Hände an den Kopf hält.
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Das Altpapier am 23. September 2019 Latenter Migränemodus

24. September 2019, 08:37 Uhr

Wie das politische Feuilleton eine beliebte rhetorische Figur der AfD salonfähig gemacht hat. Weiterhin ein Thema: Björn Höckes "schauspielreife" (Georg Restle) Leistung im ZDF. Außerdem geht’s um gerappte Medienkritik vom POL1Z1STENS0HN. Ein Altpapier von René Martens.

Welchen Anteil haben die Medien am Erfolg der AfD? Das ist - auch und gerade in dieser Kolumne - immer wieder Thema. Oft geht es dabei um Interviewer, die schlecht vorbereitet sind und (nicht nur) deshalb zu zahme Fragen stellen, und Talkshows, die ihre Sendungstitel an der Agenda der AfD orientieren. Möglicherweise muss man die eingangs gestellte Frage aber auch historisch angehen. Die unter anderem zum Thema Rechtsextremismus forschende und unter anderem in diesem Altpapier erwähnte Soziologin Franziska Schutzbach tut dies in einem am Sonntag bei Spiegel Online erschienenen Interview:

"Die heute populäre rhetorische Figur der 'politischen Korrektheit', mit der Menschenrechte und Gleichstellung als politische Tyrannei diskreditiert werden, geht zum Beispiel zurück auf die Reagan-Ära, das war eine Strategie des US-amerikanischen Wahlkampfes. In den Neunzigern wurde sie von antisemitischen, rechtsradikalen Verschwörungstheoretikern in den deutschen Sprachraum überführt. Heute ist dieser Begriff auch salonfähig, weil das politische Feuilleton ihn so lange bejubelt hat, bis demokratische Prämissen wie Menschenrechte oder Gleichstellung unter Verdacht gerieten. Deswegen können Rechtspopulisten heute behaupten, dass deren Proklamation totalitär sei."

So gesehen, kommen die Positionen der AfD aus der Mitte der Medien. Was Schutzbach hier sagt, habe ich, natürlich weniger elaboriert, 2015 mal im Altpapier angerissen. Obwohl mir bewusst ist, dass Selbstzitate in der Regel narzisstisch wirken, sei es an dieser Stelle kurz aufgegriffen:

"Den Kampfbegriff der 'politischen Korrektheit' haben Intellektuelle im weitesten Sinne eingeführt, vor allem diverse Feuilleton-Radaubrüder (Rechte mit gut gefülltem Bücheregal) haben geradezu ein Geschäftsmodell daraus gemacht, gegen ein - um es mal nachsichtig zu formulieren - Zerrbild der politischen Korrektheit und des Mainstreams anzuschreiben. Die Pöbelanten (…) haben den Jargon übernommen. Nicht der Brandstifter hat den Biedermann beeinflusst, sondern der Biedermann den Brandstifter."

Der einstige politische Feuilletonist und Power-Kolumnierer Alexander Gauland ist in diesem Zusammenhang gewiss eine der interessantesten Figuren, weil er beide Rollen schon früh in sich vereint und etwa "die zunehmenden Einschränkungen der demokratischen Debattenkultur durch alle möglichen moralischen Verbote aus dem Fundus der politischen Korrektheit" bereits im Februar 2008 (!) im Tagesspiegel beklagt hat.

Hauptanlass des von Elisa von Hof geführten Gesprächs mit Franziska Schutzbach ist indes das ZDF-Interview mit Björn Höcke vom vorigen Wochenende (siehe Altpapier). Schutzbach lobt die Strategie des Interviewers:

"Ich halte es für klug, jemandem wie Höcke zu verweigern, seine üblichen Spielwiesen zu betreten. Statt ihn über Islam oder Schweinefleischverbote referieren zu lassen, wurde hier darauf beharrt, die ideologischen Dimensionen seines Handelns zu dekonstruieren."

Das Interview mit Höcke ist auch Thema in Markus Feldenkirchens Kolumne für den gedruckten Spiegel (€). Er erwähnt dort ein weiteres Beispiel für "die Weh- und Weinerlichkeit, die Höcke und sein Sprecher" beim ZDF-Interview an den Tag gelegt hätten. Der Sprecher - also der frühere Springer-Mann Günther Lachmann - habe bei einem Interview, das Feldenkirchen mit Höcke führte, darauf hingewiesen, "dass sein Chef gerade eine lange Sitzung hinter sich habe":

"Wäre ich Anhänger der völkischen Ideologie, würde ich mir jedenfalls Sorgen um den Endsieg machen, wenn meine Anführer ständig mit ihren Emotionen ringen, im latenten Migränemodus unterwegs sind und auch sonst den Eindruck hinterlassen, sie müssten sich mal kurz hinlegen."

Das ist natürlich unterhaltsam formuliert, aber was hilft das, wenn die Anhänger der völkischen Ideologie abfahren auf die Jammerlappen-Masche, die Höcke und sein Sprecher in dem ZDF-Interview zelebriert haben und die laut Georg Restle gekrönt war von dem "schauspielreifen Abbruch … mit dem Satz 'Ich bin auch nur ein Mensch!'" (Die Zeit, siehe auch Altpapier)?

Derzeit spricht jedenfalls viel dafür, dass die Selbstviktimisierung neben der "Selbstverharmlosung" (Götz Kubitschek, aufgegriffen im erwähnten Restle-Text und am Donnerstag auch im von Restle moderierten Magazin "Monitor") zu den erfolgreichsten Komponenten im Geschäftsmodell der AfD gehört.

Pressefreiheit in Österreich

Was Björn Höcke kann - also Journalisten drohen, deren Fragen ihm missfallen (siehe dazu noch einmal das bereits erwähnte Altpapier vom vergangenen Montag) -, kann jemand, der mit den österreichischen Björn Höckes koaliert hat, natürlich auch ganz gut. Sebastian Kurz jedenfalls hat in einem Interview, das Monika Feldner-Zimmermann und Klaus Webhofer für das "Ö1 Morgenjournal Spezial" des ORF geführt haben, Feldner-Zimmermann angepflaumt. Die Kleine Zeitung greift die Sache auf. Demnach performte der Medienkritikgigant Kurz dort unter anderem den Ausspruch "Ich halte die Formulierung für höchst problematisch" und "warnte die ORF-Journalistin, 'hier mit Vorwürfen, die Sie nicht belegen können, sehr vorsichtig zu sein'".

In dieser Woche sind Nina Horaczek vom Wiener Falter, Bartosz Wieliński, Außenpolitikchef der Gazeta Wyborcza, und Márton Gergely, leitender Redakteur der Wochenzeitung HVG, auf einer gemeinsamen, vom Falter organisierten Veranstaltungsreihe in Deutschland und Österreich unterwegs, "um davon zu erzählen, wie es sich anfühlt, wenn mitten in Europa die Pressefreiheit Schritt für Schritt verloren geht". So formuliert es die SZ, die die Tournee zum Anlass genommen hat, für ihre Wochenendausgabe mit den dreien zu reden. Horaczek sagt, das Problem sei eben nicht nur die FPÖ, "die sich ein ihr nahestehendes Medienimperium aufgebaut" habe:

"Es gab (…) auch bei den klassischen Medien einen ziemlichen Schwenk. Wir haben kürzlich Teile der Buchhaltung der ÖVP öffentlich gemacht, die belegen, wie die Partei die Wahlkampfkostenobergrenze überschritten hat. Das sind Steuergelder, also ist das von öffentlichem Interesse. Trotzdem wurden wir von manchen Medien für diese Recherche scharf angegriffen."

Das hat Falter-Chefredakteur Florian Klenk in einem Interview, das in der aktuellen Ausgabe der Zeit (€) unter der Überschrift "Die Pressefreiheit ist unter Druck geraten" erschienen ist, noch weiter ausgeführt:

"Kurz wird von der Krone auf Händen getragen. Das führt dazu, dass jeder, der Kurz kritisiert, also auch das vermeintliche Bolschewisten-Blatt Falter, auf eine Weise angegriffen wird, die nicht mehr normal ist. Auch bürgerliche Tageszeitungen, etwa der Kurier oder die Presse, versuchen, den Falter als Oppositionszeitung in eine bestimmte Ecke zu stellen. Da heißt es dann, wir sollten doch kandidieren, wenn wir die politische Auseinandersetzung suchten."

Klenk kritisiert in diesem Zusammenhang des weiteren, dass die genannten "bürgerlichen" Zeitungen "Sprachregelungen der ÖVP" übernähmen. Worum ging es noch mal bei der von Horaczek erwähnten Teil-Zugänglichmachung der "Buchhaltung der ÖVP"? Siehe dazu dieses Altpapier von Mitte der vorvergangenen Woche.

Auf welche Weise das, vornehm formuliert, konservative Milieu in Österreich links vom Konservatismus zu verortende Publizisten zu diskreditieren und verächtlich machen versucht - das analysiert die Politikwissenschaftlerin und Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl, nicht zuletzt aufgrund eigener Betroffenheit, in einem Twitter-Thread:

"Das Mittel sind Ad hominem-Angriffe mit falschen Kausalitäten, entkontextualisierten Fakten, Insinuationen, pseudokritischen Fragen, wilden Assoziationen und dem Schaffen einer Gemengelage, die die betroffene Person aus dem politischen Diskurs rausnehmen soll."

Zu behaupten, dass diese Beschreibung - aber auch das, was Falter-Redakteurin Horaczek gegenüber der SZ und Falter-Chefredakteur Klenk gegenüber der Zeit sagen - zumindest in Teilen auch fürs nördliche Nachbarland zutreffen, ist leider nicht verwegen.

Beeinträchtigte Selbstwahrnehmung

Als eine Art Dauerbrenner erweist sich die vom Reuters Institute an der Universität Oxford Studie erstellte Studie "Old, Educated, and Politically Diverse: The Audience of Public Service News", die im Altpapier zum ersten Mal am 11. September Erwähnung fand.

Nachdem Übermedien unter der Überschrift "Linke Programme für ein linkes Publikum? Was die Reuters-Studie wirklich zeigt" darauf aufmerksam gemacht hat, dass die bisherige Berichterstattung von einigen Interpretationsfehlern geprägt war (um es nett auszudrücken), hat die NZZ am Wochenende einen Artikel korrigiert:

"In der ersten Version dieses Textes hieß es, das Publikum von ARD und ZDF verorte sich fast vollständig links der Mitte. Das stimmt nicht. Zu dem Fehler kam es, weil eine entsprechende Grafik in der Studie verkehrt interpretiert wurde."

Das hält aber Stephan Russ-Mohl nicht davon ab, im Tagesspiegel zu trompeten:

"ARD und ZDF (haben) das Problem, dass sie ihr Publikum sehr stark im linken Spektrum finden."

Tja. Wenn es so wäre, dass sie ihr Publikum "sehr stark im linken Spektrum" fänden, hätten ARD und ZDF allerdings eine Quote, die selbst die Verantwortlichen von Bibel TV dazu bringen würde, sich aus Verzweiflung aus dem Fenster zu stürzen.

Erwähnenswert ist im Zusammenhang mit der Studie noch, was Stefan Niggemeier im erwähnten Übermedien-Artikel schreibt:

"In Deutschland machen diejenigen, die sich 'rechts' nennen, nur einen Anteil von 6,4 Prozent aller Befragten aus."

Angesichts der Wahlergebnisse in diesem Land kann man also davon ausgehen, dass viele Befragte unter einer eingeschränkten Selbstwahrnehmung leiden oder aus strategischen Gründen heftig geflunkert haben.

Gerappte Medienkritik

Rechtzeitig zum Bekanntwerden des im kommenden Jahr bevorstehenden Wechsels ins ZDF-Hauptprogramm hat Jan Böhmermann unter seinem Alter Ego POL1Z1STENS0HN (und mit Unterstützung eines Kinderchors) den Gangster-Raptrack "Herz und Faust und Zwinkerzwinker" aufgenommen, in dem er die intellektuelle Hilflosigkeit oder aus strategischen Gründen performte Doofheit aufgreift, die in In-Sachen-Böhmermann Schlagzeilen zum Ausdruck kommt. Carsten Heidböhmer dazu bei stern.de:

"Der Moderator reflektiert seine Rolle als öffentliche Person und die Reaktionen, die er provoziert - in den klassischen wie in den sozialen Medien. Böhmermann lehnt sich mit seinen Aktionen weit aus dem Fenster - und provoziert heftigen Gegenwind. In dem Video antwortet er einigen seiner Kritiker."

Heidböhmer findet’s letztlich doch a bisserl unsouverän:

"Bei aller Vielschichtigkeit und Kunstfertigkeit des Clips - dass Böhmermann so nachtragend ist und viele seiner Opponenten hier erwähnt, verstört doch etwas."

Abgesehen davon, dass Böhmermann die genannten Opponenten oft kritisiert hat: Es haut nun überhaupt nicht hin, die Texte und Bilder aus dem Rap-Video einer Kunstfigur 1:1 der Person Böhmermann zuzuschreiben. Nicht zuletzt spielen der Künstler und seine Helfer hier ja auch mit Gangster-Rap-Klischees - wenn auch auf eine liebevolle Weise, wie man angesichts der ausgefeilten Machart sagen muss. Um es zuzuspitzen: Hat man jemals einem Gangster-Rapper vorgeworfen, er erweise sich in einem seiner Stücke als "nachtragend"?

Altpapierkorb ("Rausschmiss auf Raten" bei der Hessischen Filmförderung, Schwächung von Deutschlands "relativ bekanntestem Datenschützer", Verhörszenen als eigene Kunstform)

+++ Wenn am morgigen Dienstag bei der Hessischen Filmförderung der Aufsichtsrat außerordentlich tagt, geht es auch um öffentlich-rechtliche Belange, denn: "Der hr gibt jährlich 750.000 Euro Fördergeld in die hessische Filmförderung und sitzt in den wichtigen Fördergremien" (hessenschau.de). Das spielt nun eine Rolle, weil sich Hans Joachim Mendig, der Geschäftsführer der Filmförderung vor einigen Wochen "privat" (Mendig himself) mit Jörg Meuthen getroffen hat. Genau das ist nun der Anlass der Sitzung. Aber, so Ludger Fittkau im Deutschlandfunk: "Es geht beim 'Fall Mendig' nicht nur um das Treffen zwischen dem Chef der Hessen-Film und dem AfD-Parteivorsitzenden Jörg Meuthen. (…) 350 Filmschaffende hatten daraufhin von Mendig gefordert, sich von Meuthen klar zu distanzieren (…) Die Entfremdung zwischen ihm und den Filmschaffenden besteht jedoch ohnehin schon seit Längerem." Letzteres bezieht sich auf eine Äußerung der Wissenschafts- und Kunstministerin Angela Dorn (Grüne). Fittkau spricht von einem "Rausschmiss auf Raten". Siehe dazu auch SWR2 und Frankfurter Rundschau.

+++ Wie ein "ambitionierter", aber offenbar etwas zu klimapolitikkritischer Podcast von WDR und SWR nach einer Ausgabe "verschwand", rekapituliert Alexander Nabert für die taz.

+++ Der Hamburger Senat will Johannes Caspar, Deutschlands "relativ bekanntestem Datenschützer" (Altpapier), "sein schärfstes Schwert entziehen" - das berichtet netzpolitik.org. Die Landesregierung rächt sich offenbar dafür, dass Caspar ihre von totalitären Phantasien beflügelten Fahndungsmethoden in Sachen G20-Demos anprangert.

+++ Der Eigentümerwechsel bei der Berliner Zeitung ist ausführlich Thema im "Medienmagazin" von Radio Eins. Unter anderem in einem Facebook-Thread von Daniel Bouhs, der auch an der "Medienmagazin"-Sendung mitgewirkt hat, wird darüber diskutiert, ob die Haltung der Neu-Besitzer naiv oder erfrischend ist.

+++ Altpapier-Autorin Kathrin Hollmer empfiehlt in der SZ die Netflix-Serie "Criminal", für die "Teams aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien haben je drei Folgen in ihrer jeweiligen Landessprache gedreht". "In 'Criminal' sind Verhörszenen zur eigenen Kunstform erhoben (…) Die gesamte Serie ist Verhör, Kriminalfälle werden auf das Wesentliche verdichtet: die Frage, warum Menschen tun, was sie tun, was sie zu dem macht, was sie sind."

+++ Selbstverständlich weiterhin aktuell: das Altpapier-Spezial, das am Freitag anlässlich des Weltkindertags erschienen ist. Nora Frerichmann wirft hier einen Blick auf den Kindermedien-Markt.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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