Theater Plauen Zwickau Romantische Oper in Zeiten des Krieges? - Webers "Freischütz" geht unter die Haut

Carl Maria von Webers Oper "Der Freischütz" ist Romantik pur. Die erste deutsche Nationaloper steckt voller Liebe und Emotion, sie thematisiert den deutschen Wald mit einer gehörigen Portion von Schauermärchen und Teufelsspuk. Am Theater Zwickau Plauen hat Intendant Dirk Löschner dieses Stück nun aber sehr unromantisch auf die Bühne gebracht, ohne dass jedoch die Emotionalität auf der Strecke geblieben wäre. Im Gegenteil, diese Regie ging sehr unter die Haut.

Dirk Löschner ist einen großen Schritt von jedweder Tümelei weggegangen und hat sich mit seiner Sicht auf den "Freischütz" sehr couragiert großen Risiken ausgesetzt: Er lässt das Stück gegen Ende des Ersten Weltkriegs spielen, möglicherweise als mahnenden Bezug zur wieder unsagbar kriegerisch gewordenen Gegenwart, vielleicht aber auch in einer Parallele zu Carl Maria von Weber und dessen Librettisten Johann Friedrich Kind, bei denen die Oper ja auf den Dreißigjährigen Krieg zurückgeht.

"Der Freischütz" als Theater des Weltkriegs

Gewiss mag "Der Freischütz" als Theater des Weltkriegs erst einmal verstörend anmuten - und an den Dresdner Theaterskandal um Peter Konwitschnys Inszenierung der »Csárdásfürstin« denken, die ja ebenfalls in diese Kriegszeit versetzt worden war. Während es sich damals jedoch um die Entstehungszeit von Franz Lehárs Operette gehandelt hat, wird "Der Freischütz" nun jedoch – durch diese Spiegelung in den Jahren von 1914 bis 1918 – ins Gegenwärtige gerückt.

Bereits zur Ouvertüre schockieren auf die Leinwand projizierte Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus diesen Kriegsjahren. Züge voller begeisterter Militärs sind da zu sehen, Männer, die sich für Volk und Vaterland abschlachten lassen, dann ein Zeitsprung zu Filmschnipseln bestialischer Frontkämpfe – und schließlich der Sprung in die Nachkriegszeit, wo hungernde Menschen zu sehen sind, Frauen und Kinder sowie all die zusammengeschossenen Krüppel, die den Krieg irgendwie überlebt haben.

Theater im Theater

Genau hier knüpft Dirk Löschners Inszenierung an. Nach Kriegsende will eine Truppe von Überlebenden wieder eine Art Ablenkung haben, will vielleicht sogar Zukunft gestalten, und gibt vor, inmitten von Ruinen Webers "Freischütz" aufführen zu wollen. Theater im Theater also, was nach den historischen Filmaufnahmen nur umso bedrückender geriet, aber eben auch mahnend und aufrüttelnd, da derzeit ja schon wieder Zigtausende Menschen auf Schlachtfelder geführt werden, um andere Menschen abzuschlachten oder selbst abgeschlachtet zu werden. Als wäre die Spezies dazu verdammt, aus den eigenen Fehlern niemals zu lernen.

Deutliche Sprache mit Bildern

Das Theater-Spiel spricht hier eine deutliche Sprache mit Bildern, die unter die Haut gehen: Der Jägerbursche Max kommt steifbeinig mit einem zerschossenen Knie auf die von Christopher Melching ausgestattete Bühne. Sein Kamerad Caspar tastet sich über dieselbe – er ist nach einem Senfgasangriff blind geworden. Bauer Kilian rollt, ganz ohne Beine, auf einem Bretterkarren heran, Samiel ist ein permanent zitterndes Nervenbündel, sogar die Agathe sitzt im Rollstuhl und wird vom Ännchen (hier als Krankenschwester) fürsorglich betreut. Könnte noch deutlicher gezeigt werden, was dieser Wahnsinn Krieg aus Menschen macht? Dieses Theater kommentiert die Geschichte der Vergangenheit und zugleich die Nachrichten der Gegenwart.

Erstaunlicherweise hat das beim Zwickauer Publikum gut funktioniert. Proteste gab es jedenfalls nicht, lediglich ein paar freie Plätze nach der Pause. Aber sowohl sehr junge Leute als auch deutlich ältere Gäste haben diese Sicht der nun so gar nicht romantischen Oper mit Ergriffenheit verfolgt. Und trotzdem – kein Widerspruch! – ein wenig Spaß gehabt, denn als der berühmte Jägerchor verklungen war, gab es eine Einladung zum Mitsingen, der ziemlich text- und intonationssicher gefolgt wurde.

Musikalische Umsetzung

Von ganz anderer Qualität war freilich die musikalische Umsetzung durch die Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen Zwickau unter der Leitung von Generalmusikdirektor Leo Sibersk. Erstaunlich, welch satter und sauberer Klang da aus dem kleinen Graben des Zwickauer Gewandhauses kam! Bemerkenswert der ebenso spiel- wie sangesfreudige Opernchor! Und durchweg überzeugend all die Solistinnen und Solisten!

Besetzung

  • Musikalische Leitung GMD Leo Siberski 
  • Regie Dirk Löschner 
  • Bühne, Kostüme, Video Christopher Melching 
  • Rollstuhlchoreografie Marina Eichhorn
  • Choreinstudierung  Michael Konstantin 
  • Dramaturgie Christina Schmidt 
  • Regieassistenz / Abendspielleitung Thomas Böhmer
  • Inspizienz Anca Höppner
  • Soufflage Marian Hadraba / Teresa Maria Simeoni
  • Ottokar, böhmischer Fürst   Krešimir Dujmić  
  • Cuno, fürstlicher Erbförster  Florian Spiess 
  • Agathe, seine Tochter  Małgorzata Pawłowska 
  • Ännchen, eine junge Verwandte  Elisabeth Birgmeier 
  • Caspar, 1. Jägerbursche   Arvid Fagerfjäll  
  • Max, 2. Jägerbursche   André Gass  
  • Ein Eremit  Andrey Valiguras 
  • Kilian, ein reicher Bauer   Marcus Sandmann 
  • Samiel  Jannik Rodenwaldt 
  • Vier Brautjungfern Alena Kazentseva,  Viktorija Narvidaité ,  Annemieke Lepetit ,  Manja Ilgen / Silke Jahn-Popov
  • Rollstuhltanz Jenny List, Jeannette Horn, Silvia Jacob, Angela Schoppe, Katja Paunack, Marina Eichhorn, Bernd Sommer, Jan Richter, Maik Dittmann
  • Opernchor des Theaters Plauen-Zwickau
  • Extrachor des Theaters Plauen-Zwickau
  • Rollstuhlstanzgruppe Modus vi Vendi
  • Clara-Schumann Philharmoniker Plauen-Zwickau

André Gass und Arvid Fagerfjäll als Max und Caspar lieferten sehr gelungene Beispiele für Einflussnahme und Verführbarkeit, für Schuld und Sühne, für körperliche Versehrtheit und vokale Potenz. Malgorzata Pawlowska und Elisabeth Birgmeier als Agathe und Ännchen gaben ein passendes Pendant dazu ab, allesamt quasi geleitet durch Florian Spiess als Erbförster Cuno.

Reverenz an die Eröffnung des Hauses

So sehr zum Nachdenken anregend ist Webers "Freischütz" kaum je zu erleben. Zudem war diese Neuproduktion auch eine Reverenz an die Eröffnung des Hauses, das vor genau 200 Jahren just mit dieser damals noch taufrische Romantischen Oper als Theaterspielstätte eröffnet worden war. Insofern darf dieser Abend durchaus als dreifaches Theater im Theater gesehen werden, da in diesem historischen Gewandhaus seit nunmehr zwei Jahrhunderten Theater gespielt wird.

Weitere Vorstellungen: 10. November und 15. Dezember, Gewandhaus Zwickau

19. November, 9. und 21. Dezember, Vogtlandtheater Plauen.

Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 06. November 2023 | 10:10 Uhr

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