Interview Pflegekrise: "Wir können uns nicht nur auf die Angehörigen verlassen"
Hauptinhalt
22. Mai 2022, 14:13 Uhr
Die Menschen in Sachsen-Anhalt werden älter, es gibt mehr Pflegebedürftige – doch wer soll sie pflegen? Angehörige sind eine feste Säule des Systems. Doch immer weniger von ihnen stehen für die Pflege bereit. Ein Gespräch auf der Suche nach Lösungen.
- Josefine Heusinger und Ralf Lottmann lehren und forschen an der Hochschule Magdeburg-Stendal zur Pflege von älteren Menschen.
- Im Interview sprechen sie über fehlende Unterstützung und Anerkennung für pflegende Angehörige.
- Wie ist das Pflege-Problem zu lösen und welche Ansätze gibt es? Auch darüber sprechen die Expertin und der Experte.
Frau Heusinger, Herr Lottmann, warum sind Angehörige von Pflegebedürftigen für das Pflegesystem so wichtig?
Ralf Lottmann: Wir befinden uns im demografischen Wandel. Es gibt immer mehr ältere Menschen, die pflegebedürftig werden. Und die meisten Menschen wollen in so einem Fall so lange wie möglich zu Hause bleiben. Angehörige ermöglichen ihnen dies oftmals, übernehmen Pflegetätigkeiten und sind für die soziale Teilhabe die wichtigste Stütze.
Josefine Heusinger: Familien finden immer wieder Lösungen, das zu organisieren. Ich will das aber gar nicht idealisieren. Es ist natürlich gut, wenn man den Wunsch erfüllen kann, dass die Leute möglichst lange zu Hause bleiben und nicht ins Pflegeheim kommen. Das heißt aber nicht, dass die Lebensqualität und die Pflegequalität in den eigenen vier Wänden immer toll sind. Es kommt nämlich immer drauf an, warum sie zu Hause gepflegt werden. Das ist auch eine Frage des Geldes. Oft fehlt Familien einfach das Geld für das Pflegeheim. Auch die häusliche Pflege ist nicht umsonst, aber da kann man sich noch eher finanziell durchwurschteln.
Was bedeutet der Weg ins Pflegeheim denn finanziell?
Heusinger: Der Eigenanteil variiert, aber er liegt auf jeden Fall bei fast 1.600 Euro in Sachsen-Anhalt. Die Rente der meisten Alten ist damit weg. Vielleicht muss auch noch das Häuschen verkauft werden. Das muss alles erstmal bezahlt werden. Im Gegensatz dazu gibt es für die häusliche Pflege ja noch Pflegegeld. Das sind alles Anreize, seine Angehörigen zu Hause zu pflegen. Und auch die Perspektive der Pflegeheime ist spannend.
Über Josefine Heusinger
Josefine Heusinger arbeitet seit 2011 als Professorin für Grundlagen und Handlungstheorien der sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Derzeit forscht sie zum altersgerechten Wohnen in Sachsen-Anhalt. Vor ihrem Studium der Soziologie, Psychologie, Politologie und Lateinamerikanistik arbeitete Heusinger von 1984 bis 1988 als Krankenschwester.
Inwiefern spannend?
Heusinger: 2017 hat es eine wichtige Reform gegeben. Seitdem erhalten Pflegeheime von der Pflegeversicherung eigentlich erst ab Pflegegrad drei wirklich viel Geld. In Zahlen: Für Pflegerad zwei gibt es pro Monat nur 700 Euro, ab Pflegegrad drei sind es schon 1.250 Euro oder mehr. Das heißt, dass die Pflegeeinrichtungen aus betriebswirtschaftlichen Gründen darauf achten müssen, möglichst nicht so viele Menschen mit einem niedrigen Pflegerad zu versorgen. Und das wiederum bedeutet, dass es für Menschen mit beispielsweise Pflegegrad zwei in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden ist, überhaupt einen Heimplatz zu bekommen. Von den vier Millionen Pflegebedürftigen sind 1,8 Millionen in Pflegegrad zwei eingeordnet. Die werden dann eben zu Hause versorgt und das ist politisch auch nicht anders gewollt.
Herr Lottmann, Sie haben als wissenschaftlicher Mitarbeiter lange im Bundestag gearbeitet. Teilen Sie diesen Eindruck?
Lottmann: Ja, das Thema Pflege wurde immer auf die lange Bank geschoben. Ich kann mich da an zahlreiche öffentlichkeitswirksame Kampagnen für die Aufwertung des Pflegeberufs von Ministern erinnern, die am Ende aber keinen wirklichen Unterschied gemacht haben. So wie das "Jahr der Pflege" zum Beispiel, das kaum jemand mitbekommen hatte. Aber ein kleines Umdenken habe ich in den vergangenen Monaten doch erkennen können – und zwar, wenn es um die Tarifbindung geht. Leider war die Profession der Pflegeberufe immer schlecht darin, sich selbst zu vertreten im parlamentarischen Raum. Ihnen fehlen die richtigen Netzwerke dort und sie könnten von anderen Berufsgruppen noch lernen, wie die politischen Entscheidungsträger einzubinden sind. Durch die Corona-Krise habe ich jetzt schon die Hoffnung, dass die Wertschätzung für Pflege in der Gesellschaft angekommen ist. Trotzdem ist es immer noch nicht sehr attraktiv, in der Altenpflege zu arbeiten. Aber die stärkere Tarifbindung sehe ich als einen wichtigen Baustein auf dem Weg dahin.
Über Ralf Lottmann
Ralf Lottmann arbeitet seit 2021 als Professor für Gesundheitspolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Während seines Studiums der Soziologie arbeitete Lottmann als Pflegehilfskraft in ambulanten Pflegediensten in Bremen und Berlin. Von 2004 bis 2015 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag im Bereich der Gesundheitspolitik sowie Demografie- und Seniorenpolitik tätig. Derzeit arbeitet Lottmann an Forschungsprojekten zu Pflege und Diversity.
Heusinger: Dem kann ich nur zustimmen. Gerade im ländlichen Raum ist es so, dass es wirklich an Angeboten fehlt, weil es eben auch an Personal fehlt. Also bleibt den Angehörigen oft gar nichts anderes übrig, als zu Hause zu pflegen. In Sachsen-Anhalt ist es im Gegensatz zu anderen Bundesländern so, dass der Zuschuss zur Versorgung, die sogenannte Hilfe zur Pflege, für Menschen mit geringen Einkommen, nicht von der Kommune, sondern vom Land bezahlt wird. Die Hilfe zur Pflege wird vor allem gebraucht, wenn es zu der im Vergleich mit der häuslichen Pflege teureren Pflege im Heim kommt. Aus meiner Sicht eine unglückliche Regelung, dass dies das Land übernimmt.
Denn müssten die Kommunen das zahlen, würden sie sich viel mehr anstrengen, die häusliche Versorgung zu erleichtern, also Unterstützungsangebote zu schaffen, die Angehörige entlasten und den Menschen helfen, lange zu Hause bleiben zu können. Aber dafür gibt es keinen Anreiz in Sachsen-Anhalt. Auch deshalb fehlt es vielerorts an Pflegediensten, Betreuungsdiensten, Einkaufsdiensten oder Möglichkeiten zur Teilhabe.
Wie sollten diese Möglichkeiten zur Teilhabe denn aussehen?
Lottmann: Man muss stärker in die Sozialplanung gehen. Wie können wir den Sozialraum so gestalten, dass Menschen zu Hause alt werden können bis zum Schluss? Wie können wir die Unterstützung in der Nachbarschaft stärker nutzen, stationäre Kosten vermeiden und die Teilhabe der Generation vor Ort stärken? Solche Fragen müssen frühzeitig beantwortet werden von den Einzelnen und von den Kommunen und dem jeweiligen Bundesland. Und dabei geht es auch nicht nur um die Satt-und-Sauber-Pflege, sondern eben um soziale Teilhabe und gute Pflegequalität. Da müssen vielfältigere Wohnformen und pluralere Altenhilfestrukturen her.
Welche Angebote gibt es diesbezüglich in Sachsen-Anhalt?
Heusinger: In Magdeburg gibt es beispielsweise die Alten- und Service-Zentren. Eine tolle Struktur. Das sind Orte, wo ältere Menschen hingehen können, sich engagieren, Mittag essen, wo es Sport- und Bildungsangebote gibt. Oder auch das Beqisa-Projekt. Das ist eine Beratungsstelle zur kommunalen Quartiersentwicklung. Darüber werden mehrere Angebote landesweit gefördert.
Das ist ein Rundum-Präventionspaket. Man wäscht sich, man bewegt sich, man achtet auf sich.
Lassen Sie mich ein Beispiel geben, warum so etwas wichtig ist. Man denkt ja immer: Wenn jemand nicht mehr alleine kochen kann und pflegebedürftig ist, kommt Essen auf Rädern. Ja, toll. Das heißt, der- oder diejenige verhungert nicht. Aber Essen ist ja auch eine soziale Aktivität. Und wenn in der Nähe ein preiswerter Mittagstisch angeboten wird, dann haben die älteren Menschen einen Grund, sich anzuziehen, sich die Haare zu kämmen, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Das ist ein Rundum-Präventionspaket: Man wäscht sich, man bewegt sich, man achtet auf sich. Oder es bilden sich Spaziergangs-Gruppen, die einmal pro Woche zusammen spazieren und danach vielleicht noch einen Kaffee trinken gehen.
Es sind oft die kleinen Dinge, bis hin zu hauswirtschaftlicher Unterstützung. Wobei das ein schwieriges Feld ist, weil es auch Leute gibt, die damit ihr Geld verdienen. Wenn diese Aufgaben, von denen andere leben könnten, dann Menschen für eine ehrenamtliche Aufwandspauschale übernehmen, züchten wir uns die nächste Generation von Altersarmut heran.
Ehrenamtliche Hilfe allein kann also nicht die Lösung des Pflege-Problems sein.
Heusinger: Auf keinen Fall, nur ein kleiner Teil davon, aber nicht die Basis. Das Ehrenamt funktioniert vielleicht in Dörfern mit einer stabilen und eher gut situierten Bevölkerung, ist aber meist viel weniger stark in Gegenden in Sachsen-Anhalt, die eher von Wegzug und Armut gekennzeichnet sind. Dort sind die Menschen oft schon froh, wenn sie ihre freiwillige Feuerwehr zusammenkriegen. Trotzdem ist der Zusammenhalt in solchen Orten oft gut. Das habe ich im Zuge meiner Forschung im Rahmen von Interviews erfahren. Da haben Nachbarn nachts das Telefon am Bett und wenn die Oma von nebenan Hilfe braucht, dann rennen sie rüber.
Aber was, wenn es diese Nachbarn nicht gibt? Dann braucht die Oma einen Pflegedienst und den gibt es dort aktuell nicht. Wir brauchen andere Konzepte, wie wir Pflege in unseren Alltag einbetten können. Wir wollen doch alle Zeit für unsere Freunde und Angehörigen haben, wenn sie krank sind. Aber wir können uns nicht nur auf die Angehörigen verlassen.
Lottmann: Wir leben ja in einer Gesellschaft, in der oftmals die Erwartung herrscht, dass Kinder die Pflege übernehmen. Aber die leben eben auch oft weit weg oder haben eigene Kinder und sind in einer Sandwich-Position. Dann wird Pflege ganz schnell zur Herausforderung. Da ist Überforderung vorprogrammiert. Im Barmer-Pflegereport fand ich eine Erkenntnis spannend: Wenn das Motiv der Liebe zu den Pflegebedürftigen weniger ausgeprägt ist, sondern eher aus Pflichtgefühl heraus gepflegt wird, wird es von den Angehörigen eher als Belastung wahrgenommen.
Wie gut erforscht ist die Situation, sind die Motive von pflegenden Angehörigen denn überhaupt?
Heusinger: Aus wissenschaftlicher Perspektive hat es seit Jahrzehnten keine belastbaren Erhebungen über die Situation von pflegenden Angehörigen bundesweit gegeben. Und das, obwohl Millionen von Menschen zu dieser Gruppe gehören. Meine Erfahrung sagt: Es ist eine Mischung aus Verantwortungsgefühl und purer Notwendigkeit. Die meisten sind nicht vorbereitet darauf. Die meisten rutschen da so rein. Dann steht nach einem Schlaganfall eines Angehörigen auf einmal der Sozialdienst vor einem und will wissen, wie es weitergeht. Dann geht die Tretmühle los. Das ist nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung.
Lottmann: Und genau deshalb müsste noch viel ausgeprägter und viel frühzeitiger erfragt werden, welche Ressourcen ältere Menschen in puncto Pflege und Altern haben. Also: Wer kann sich kümmern? Welche Menschen im Umfeld gibt es? Da ist mehr Präventionsarbeit notwendig. Wie gesagt: Es muss generell ein Umdenken her.
Warum fällt dieses Umdenken denn so schwer?
Heusinger: Da ist es hilfreich, der Spur des Geldes zu folgen. Der Trend der Ökonomisierung auch im Pflegebereich führt dazu, dass es wenig attraktive Arbeitsplätze sind. Ich selbst habe die Pflege Ende der 1980er-Jahre verlassen, weil im Pflegealltag zu wenig Zeit für das war, weshalb ich eigentlich Pflegekraft war. Damals konnte ich zwar nachmittags mit den Patienten und Patientinnen manchmal noch in den Krankenhausgarten gehen, aber ich hätte das gerne noch öfter gemacht. Dabei waren das rückblickend betrachtet die goldenen Zeiten. Heutzutage ist die Situation viel schlimmer.
Diese Idee, aus Krankenhäusern einen Markt zu machen, dass sie schwarze Zahlen schreiben müssen, ist die falsche. Wir müssen wieder dahinkommen, dass wir das Gesundheitssystem wie das Schulsystem betrachten, nämlich als Teil der Grundversorgung. Schauen wir mal, wie viel Solidarität die alten Menschen auf sich vereinen können. Das ist wohl schwierig, weil Solidarität und Unterstützung in unserer Gesellschaft nur sehr schmalspurig propagiert werden. Im Grunde genommen zählt bei uns doch nur derjenige etwas, der etwas leistet, der für sich sorgt und es schafft, sein Leben perfekt im Griff zu haben. Die Pflege passt da nicht rein und wird immer nur am Rande abgetan. Das muss sich ändern, wenn das Pflegesystem nicht in einer Katastrophe enden soll.
Was würden Sie vorschlagen?
Heusinger: Wir brauchen größere Anerkennung für pflegende Angehörige. Zum Beispiel solche Konzepte wie die Elternzeit. Wenn man Angehörige pflegt, kann man sich im Moment zwei Jahre freistellen lassen und einen Kredit aufnehmen. Davon kriegt man dreiviertel des Gehaltes bezahlt, muss aber alles nacharbeiten und so zurückzahlen. Was ist das denn für eine Option? Das muss sich ändern.
Über den Autor
Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 11. Juni 2022 | 19:00 Uhr