Die Suche nach Ruinen Faszination "Verfall": Lost Places in Sachsen-Anhalt

15. März 2024, 14:18 Uhr

Stillgelegte Industriegebäude, verfallene Hotels, geschlossene Bildungs- und Heilanstalten: Sogenannte "Lost Places" faszinieren viele Menschen. Vereine und Initiativen in Sachsen-Anhalt versuchen, vom Verfall bedrohte Architekturdenkmäler zu retten. Eine Auswahl.

In versteckten Winkeln und Ecken verbergen sich geheimnisvolle Schönheiten des Verfalls – verlassene Orte, Industriekomplexe, verfallene Sanatorien, einst pulsierende Zentren des Lebens, heute stille Zeugen vergangener Tage. Diese verlassenen Gebäude und verfallenen Landschaften, bekannt als Lost Places, ziehen Abenteuerlustige, Fotografinnen und Fotografen sowie Geschichtsinteressierte gleichermaßen an.

Ihr Reiz liegt nicht nur in ihrer morbiden Ästhetik, sondern auch in den Geschichten, die sie erzählen, und den Geheimnissen, die sie bergen. Sie sind vielerorts zu finden, von verlassenen Fabriken über stillgelegte Krankenhäuser bis hin zu verfallenen Schlössern und sogar verlassenen Städten.

Die Gründe für das Verlassen dieser Orte sind vielfältig: wirtschaftliche Umstände, Naturkatastrophen, Krieg oder einfach der Lauf der Zeit. Auch in Sachsen-Anhalt verstecken sich solche Zeugen der Vergangenheit.

Kernkraftwerk Arneburg: Massiver Stahlbeton

Nördlich von Stendal sollte das größte Kernkraftwerk der DDR in Betrieb gehen. Fast 20 Jahre wurde in der Altmark gebaut. 1989 sollte es ans Netz gehen, mit vier 1.000-Megawatt-Blöcken sowjetischer Bauart. Doch dann kam die Wende. Bis 1991 wurde versucht, das Kraftwerk zu erhalten, bis am 1. März 1991 das endgültige Aus verkündet wurde.

Obwohl nie ein Brennstab nach Stendal kam und nichts radioaktiv verseucht ist, wird seit über drei Jahrzehnten am Abriss gearbeitet. Abgeschlossen ist er bis heute nicht.

Die Ruine des Kernkraftwerkes in Arneburg (Landkreis Stendal)
Das Atomkraftwerk Arneburg ist nie an Netz gegangen. Der Abriss dauert bereits mehr als drei Jahrzehnte. Bildrechte: picture-alliance/ ZB | Jens Wolf

Schulungsstätte Großer Ziegenberg in Ballenstedt: Kaderschmiede zweier Diktaturen

Die Schulungsstätte Großer Ziegenberg in Ballenstedt ist ein Gebäudekomplex, der sowohl von den Nationalsozialisten als auch von der DDR-Führung als Eliteschulungsstätte genutzt wurde. 1934 wurde eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt gegründet. Ab 1936 war hier neun Jahre lang die Napola Anhalt untergebracht. Ab 1949 nutzte die DDR das Gebäude als Bezirksparteischule Wilhelm Liebknecht.

Nach der Wende beherbergte es bis 1995 die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Sachsen-Anhalt. Derzeit steht das Baudenkmal weitgehend leer. Ende 2018 haben zwei chinesische Investoren das Gelände mit Ausnahme des Turmhauses erworben. Sie planen, das Areal zu einem Zentrum für traditionelle chinesische Medizin, Kampfkunst und Kultur zu entwickeln.

Außenansicht der ehemaligen nationalsozialistischen Eliteschule in Ballenstedt im Harz (Sachsen-Anhalt)
Die Schulungsstätte "Großer Ziegenberg" in Ballenstedt wurde als Kaderschmiede der Nazis und der DDR-Führung genutzt. Bildrechte: picture alliance / ZB | Peter Gercke

Zeitzer Schokoladenfabrik: Vom Eisenhandel zu Zetti

Die Tradition der Schokoladenherstellung in Zeitz beginnt 1831, als Friedrich August Oehler seine Eisen- und Farbenhandlung gründet. Erst 1846 wurden erstmals Zucker- und Backwaren hergestellt, bevor 1865 der Schwiegersohn Robert Gustav Donalies das Unternehmen übernahm und durch große Investitionen in moderne Produktionstechniken immer weiter ausbaute. Zu diesem Zweck ließ er 1885 nördlich von Zeitz eine Fabrik errichten. Dort produziert "F.A. Oehler" bis in die 1950er Jahre.

Zu DDR-Zeiten wurde der Betrieb in Volkseigentum überführt und der "VEB Zetti Süßwaren Zeitz" gegründet. In den 1990er Jahren wurde Zetti von der Goldbeck Süßwaren GmbH aus Leipzig übernommen. Am Stadtrand von Zeitz entstand eine neue Fabrik, die bis heute genutzt wird.

Eisenhütten- und Emaillierwerk in Tangerhütte

Gießerei Tangerhütte
Die Eisenhütten- und das Emaillierwerk in Tangerhütte umfasst 26.000 Quadratmeter. Bildrechte: MDR/Carina Emig

Um sage und schreibe 26.000 Quadratmeter Industriedenkmal kümmert sich der gerade mal zehnköpfige Verein "Aus einem Guss". Genauer um das 1844 gegründete "Eisenhütten- und Emaillierwerk" in Tangerhütte. Die Eisengießerei hat Tangerhütte stark geprägt, ab 1844 für einen enormen Bevölkerungs- und Fachkräftezuzug gesorgt. Bis heute zählt das Flächendenkmal zu den bedeutendsten Industriedenkmälern Sachsen-Anhalts. Neben der Industrieanlage gehören auch ein Landschaftspark, zwei Schlösser, ein Mausoleum, ein Kunstgusspavillion sowie ein künstlich angelegter Wasserfall dazu und bilden zusammen ein in Deutschland einzigartiges Ensemble. In der Altmark stehen noch weitere "Lost Places".

Das "Basso" in Bad Schmiedeberg: Erstes Spaßbad nach der Wende

Das "Basso" Spaßbad in Bad Schmiedeberg wurde 1993 als erstes sogenanntes Spaßbad in den neuen Bundesländern eröffnet. Nach anfänglich hohen Besucherzahlen ging die Nachfrage mit dem Bau weiterer Spaßbäder zurück. Im Jahr 2002 wurde das Bad an einen privaten Investor verkauft. Ende 2003 musste der Betreiber Insolvenz anmelden. 2009 wurde die Anlage komplett geschlossen und liegt seitdem brach. Der letzte Eigentümer verschwand wegen Steuerschulden. 2019 zahlte die Stadt Bad Schmiedeberg die letzten Raten für den Baukredit und beantragte die Zwangsversteigerung des Grundstückes.

Menschen im Erlebnisschwimmbad Bad Schmiedeberg, 1993
1993 als erstes Spaßbad der neuen Bundesländer eröffnet, ist das Basso in Bad Schmiedeberg seit 2009 geschlossen und heute nur noch eine Ruine. Bildrechte: picture alliance / ZB | Waltraud Grubitzsch

Das Kulturhaus in Schkopau: Für Buna gebaut

Am 11. Oktober 1953 wurde das Kulturhaus in Schkopau eröffnet. Es sollte Platz für die 20.000 Angehörigen der Buna-Werke bieten. In den Jahren nach der Eröffnung wurde das Kulturhaus um weitere Nebengebäude erweitert, darunter eine Gaststätte für 200 Personen. 1958 verfügte das Gebäude über 100 Räume für diverse Feste und Freizeitgestaltungen.

Zum Haus gehörten ein Theatersaal mit über 750 Sitzplätzen sowie ein Konzertsaal mit 250 Sitzplätzen. Die Bühnentechnik gehörte mit zu den modernsten Anlagen in der DDR. Nach der Schließung im Jahr 1998 wurden verschiedene Pläne zur Nutzung des Gebäudes entwickelt, von denen jedoch keiner umgesetzt wurde. Zwei Investoren verspekulierten sich, beide saßen im Gefängnis. Zuletzt stand zur Debatte, das Gebäude abzureißen.

Kulturpalast Schkopau heute
Das Kulturhaus in Schkopau sollte Platz für die 20.000 Angehörigen der Buna-Werke bieten. Bildrechte: MDR/Ulrike Thielmann

Das Kurhaus in Alexisbad: Verfall im Harz

Das Kurhaus in Alexisbad wurde 1811 fertiggestellt. 1892 wurde die Bäderarchitektur ergänzt: Das Logierhaus erhielt dreiseitige Veranden und seine vier markanten Ecktürme, die bis heute das Straßenbild prägen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hier zahlreiche Flüchtlinge aus dem heutigen Polen untergebracht. Später nutzte es die Reichsbahn für ihr Personal. Nach der Wende übernahm die Deutsche Bahn die Einrichtung. 1997 wurde es endgültig geschlossen. 

Seit einer Versteigerung 2004 gehört das Ferienheim einem Franzosen. Ein Verein kümmert sich um die Liegenschaft. Einige Gebäudeteile sind bereits dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Ein Saal wurde 1972 abgerissen. Das Badehaus blieb erhalten. Aber auch das Kurhaus mit seinen Zwiebeltürmen musste 2004 abgerissen werden.

Eisenbahnerheim altes Hotel in Alexisbad Harz Selketal
Um das Kurhaus in Alexisbad kümmert sich ein Verein. Bildrechte: IMAGO/Zoonar

Der Kristallpalast in Magdeburg: Kein Denkmal mehr

Der Kristallpalast in Magdeburg wurde am 9. Juni 1892 eröffnet. Ab 1891 wurde zusätzlich ein großer Saal errichtet. Insgesamt hatte der Saal rund 2.700 Plätze. Im Jahr 1937 wurde der vordere Gebäudeteil abgerissen. Im Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsgefangene in den Räumlichkeiten untergebracht. Nachdem die Kriegsschäden berseitigt worden waren, fand am 26. November 1946 die Wiedereröffnung statt.

Ab 1978 wurde das Gebäude zur ständigen Spielstätte des Kabaretts Die Kugelblitze umgerüstet. Wegen baulicher Mängel musste der Kristall-Palast 1986 jedoch baupolizeilich gesperrt werden. Im Jahr 2023 wurde der Kristall-Palast aus dem Denkmalverzeichnis gestrichen.

Innenansicht des Magdeburger Kristallpalastes mit Blick durch den Saal, in dem das eingestürzte Dach liegt
Seit 2023 ist der Kritallpalast in Magdeburg kein Baudenkmal mehr. Bildrechte: Kristall-Palast Magdeburg e.V.

RAW-Gelände in Halle: Größte Industriebrache der Saalestadt

Ein Lost Place, der bald keiner mehr sein soll, ist das RAW-Gelände unweit vom Hauptbahnhof in Halle. Auf dem 20 Hektar großen Gelände wurden vor 160 Jahren Dampflokomotiven repariert. In den 1860er Jahren erbaut, ist das Gelände seit gut 20 Jahren ungenutzt. Es gehört zu den größten Industriebrachen der Saalestadt. Ab 2025 soll das Gelände saniert und zu einem neuen Stadtquartier entwickelt werden.

Luftaufnahme:  ehemaliges RAW Gelände in Halle
Das RAW-Gelände in Halle soll ab 2025 zu einem neuen Stadtquartier entwickelt werden. Bildrechte: IMAGO / Steffen Schellhorn

Brikettfabrik Roßbach: Kohle, Ketten, Nägel

Die 1911 im Auftrag der Gewerkschaft Gute Hoffnung errichtete Brikettfabrik Roßbach produzierte bis zu ihrer Stilllegung 1968 rund 15 Millionen Tonnen Briketts. Danach erfolgte die Umwandlung in ein Ketten- und Nagelwerk, das von 1969 bis 1989 produzierte. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz.

Brikettfabrik Rossbach
Die Brikettfabrik in Roßbach ist auch ein Denkmal der rund 300 Jahre langen Geschichte des Braunkohlenbergbaus im Geiseltal.  Bildrechte: IMAGO/Steffen Schellhorn

Lost Places: Was erlaubt ist und was nicht?

Grundsätzlich gilt: Ist der Lost Place umzäunt, dann ist das Betreten verboten, da es sich um Hausfriedensbruch handelt. Wer trotzdem weiter vordringt, macht sich strafbar und kann bei Anzeige mit einer Geldstrafe oder in einigen Fällen sogar mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr rechnen. Deshalb ist es wichtig, vorab die Erlaubnis des Eigentümers einzuholen oder sich nach zugänglichen Orten zu erkundigen. Spezielle Führungen erlauben ein Blick hinter sonst verschlossene Zäune und Türen.

Doch auch bei nicht umzäunten Lost Places ist es ratsam, sich vor einem Besuch über die rechtliche Situation des jeweiligen Ortes zu informieren.

Goldene Regeln beim Lost-Places-Besuch

Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen beschreiben viele Lost Places-Reiseführer einen sogenannten inoffiziellen Ehrenkodex. Dabei geht es darum, wie mit dem Lost Place selbst umzugehen ist. Menschen sollen auch nach dem Besuch die vergessenen Orte in ihrer rauen Schönheit wieder neu entdecken können. Bevor man sich also auf Entdeckungstour begibt, sollten folgende Punkte beachtet werden.

  1. Keinen Müll hinterlassen
  2. Kein Vandalismus an Gegenständen oder Wänden z.B. durch Grafitti
  3. Keine unerlaubten Veränderungen vornehmen z.B. keine Gegenstände bewegen/verändern für ein besseres Foto und auch Fenster und Türen, die abschlossen sind, geschlossen halten, keine Gegenstände mitnehmen
  4. Umgebung respektieren: In alten Gemäuern und Gebäuden entsteht oft neuer Lebensraum für Pflanzen und Tiere, dieser sollte nicht absichtlich gestört werden.
  5. Gefahrenquellen beachten: In alten Gebäuden kann Einsturzgefahr bestehen, auch die Gefahr herabstürzendender Gebäudeteile in Betracht ziehen, Stolperfallen und spitze Gegenstände beachten, Handschuhe bei alten Chemikalien und Schimmel, festes Schuhwerk tragen.

Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.

Steffen Emrich Heilstätten Harzgerode

Das betont auch Steffen Emrich von den Heilstädten Harzgerode: "Take nothing but pictures, leave nothing but footprints – nimm nichts mit, mach nichts kaputt, lasst keinen Müll da. Sei einfach ein Geist, nimm deine Fotos mit, erkundet den Ort und hinterlasse ihn genauso, wie du ihn vorgefunden hast. Wenn das alle beherzigen würden, braucht man keine strengen Regeln mehr."

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Waschraum der Heilstätte Harzgerode
Die Waschräume in der ehemaligen Heilstätte Harzgerode sehen noch so aus, wie in den 90er Jahren, als der Klinikbetrieb eingestellt wurde. Bildrechte: Tom Gräbe / Mitteldeutscher Rundfunk

MDR (Moritz Arand, Michaela Reith)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 14. März 2024 | 07:10 Uhr

3 Kommentare

elbcom vor 6 Wochen

Teilweise scheitert es auch am Eigentumsrecht und nicht nur an gesetzlichen Auflagen: wenn ich meine Immobilie nicht instand setzen will (z.B. weil ich auf steigende Grundstückspreise spekuliere), darf ich de facto sie über Jahre verfallen lassen. Da würde ich mir wünschen, dass die öffentliche Hand ein Gebäude zur Zwischennutzung übernehmen darf. Das würde besser aussehen im Stadtbild und wäre für den Eigentümer (und die Bausubstanz) sogar ein Vorteil, da bspw. Fenster und Dächer abgedichtet wurden.

steka vor 6 Wochen

Ein Konglomerat an Aufzählungen, ohne wirkliche Aussage. RAW Halle hat bereits ein weitreichendes Konzept. Sonst habe ich das Gefühl, die meisten Investoren habe diese Objekte, meist 100 Jahre oder älter gekauft um tatsächlich etwas draus zu machen, sind aber bürokrisch und finaziell an den Auflagen der Denkmalschutzbehörden und Baubehörden gescheitert.

Maria A. vor 6 Wochen

Warum nicht? Wer sowas mag, gerne. Für jeden Ästhetiker ist die Leidenschaft, Abgenutztes bis Verfallenes ansehen zu wollen, aufzunehmen und mit diesen Fotos sogar (mal zu hohen Preisen in den Verkauf kommende) Bücher zu füllen, wahrscheinlich eine seltsame.

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