Ein Plakat von einer Kindertagesstätte und ein Portrait von einem Mann
Bernd-Volker Brahms aus dem MDR-Studio Stendal kommentiert. Bildrechte: MDR/Hannah Singer, MDR

Kommentar Diskussion um Kita "Anne Frank": Nachdenken muss erlaubt bleiben

von Bernd-Volker Brahms, MDR SACHSEN-ANHALT

07. November 2023, 15:25 Uhr

In Tangerhütte wurde darüber nachgedacht, der Kita "Anne Frank" einen neuen Namen zu geben. Die Empörung war groß, als das Thema bekannt wurde. Unser Kommentator findet, dass nachzudenken erlaubt bleiben muss. Er sagt aber auch, dass die Idee "gedankenlos" gewesen ist.

Ein Mann steht vor einem Bücherregal
Bildrechte: MDR/Hannah Singer

"Haus der kleinen Racker", "Sonnenkäfer", "Friedrich Fröbel", "Tangerwichtel", "Unsere Dorfspatzen", "Waldesrand" – so heißen die städtischen Kitas in der Einheitsgemeinde Tangerhütte. Und eben auch "Anne Frank". Seit annähernd 50 Jahren trägt die Einrichtung im Stadtkern Tangerhüttes, in der heute 100 Kinder betreut werden, den Namen des kleinen jüdischen Mädchens, das im Holocaust umgekommen ist.

Wenn es nach dem Wunsch der Kita-Leitung, der Eltern und auch des Kuratoriums der Einrichtung geht, dann sollte die Einrichtung künftig "Weltenentdecker" heißen. Es sei in den vergangenen 14 Monaten ein neues pädagogisches Konzept erarbeitet worden, dieses solle auch mit einem neuen Namen sichtbar werden, heißt es aus der Einrichtung. Von der Empörungswelle, die nun über die Verantwortlichen hinweggerollt ist, sei man völlig überrascht worden. Eine Mutter aus der Kita hatte die Diskussion öffentlich gemacht.

Nun darf man den Pädagogen und auch dem Bürgermeister keine politische Intention bei der beabsichtigten Umbenennung der Kinder-Einrichtung unterstellen. Schon lange vor dem terroristischen Übergriff auf Israel am 7. Oktober und auch den zunehmenden antisemitischen Vorfällen in Deutschland hatte man sich in Tangerhütte Gedanken über einen neuen Namen gemacht. Die Empörungswelle – mit harschen Kommentaren von Bild-Zeitung bis FAZ – hat aber sicherlich genau mit dieser Gemengelage zu tun. Nach dem Motto: Wie könnt ihr jetzt in dieser Situation bei eurer Kita den Namen "Anne Frank" tilgen?

Naivität und Gedankenlosigkeit bei Verantwortlichen

In vielleicht etwas naiver Weise sollte in Tangerhütte aber nicht das jüdische Mädchen mit seiner tragischen Geschichte beseitigt werden, sondern vielmehr einem neuen pädagogischen Konzept Ausdruck verliehen werden. Etwas gedankenlos sollte die Tradition der Namenspatronin beendet werden. Die Kita wollte einen kompletten Neuanfang, nachdem es in der Vergangenheit einige interne Schwierigkeiten gegeben hatte. Das kann man vom Prinzip her verstehen. Warum allerdings ein neues Konzept dann auch zu einem neuen Namen führen muss, bleibt bislang unbeantwortet. Gerade, wenn man sich ansieht, wie andere Kitas heißen und wie wenig pädagogisches Konzept dort hinein gewoben ist, gibt es da zumindest keine Zwangsläufigkeit.

Eins ist aber klar: Die Akteure haben alles Recht der Welt, sich Gedanken über alle Aspekte ihrer Einrichtung zu machen. Das schließt auch die Namensgebung ein. Nicht erst seit Corona geht in vielen öffentlichen Debatten schnell mal das Maß verloren. Auch in den Medien wird übers Ziel hinausgeschossen, in sozialen Medien sowieso. Es wird im Kern gar nicht mehr diskutiert, sondern oft sehr pauschal draufgehauen und auch diffamiert. In dem Sinne wird auch den Verantwortlichen in Tangerhütte Unrecht getan, indem bestimmte Absichten einfach mal unterstellt werden.   

Man muss es akzeptieren, wenn in einer Kita oder auch einer Schule darüber nachgedacht wird, bei der Namensgebung zu justieren. Nachzudenken muss erlaubt bleiben. Wo kommen wir denn sonst in unserer pluralistischen Gesellschaft hin, wenn jede Diskussion im Keim erstickt wird?

Berechtigte Kritik muss aber weiter erlaubt sein.

Bernd-Volker Brahms MDR-Reporter

Berechtigte Kritik muss aber weiter erlaubt sein. Auf die Argumente kommt es an. Und da kann man im Fall Tangerhütte zumindest von einem unsensiblen Umgang mit der Geschichte sprechen. Das Schicksal des kleinen jüdischen Mädchens sei den kleinen Kindern in der Kita nicht zu vermitteln, heißt es als Begründung für die intendierte Änderung. Viele Schulen und Kitas in ganz Deutschland haben dies aber offensichtlich seit vielen, vielen Jahren hinbekommen – und das in Ost und West.

Wer war Anne Frank?

Anne Frank wurde 1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren. Ihre Familie flüchtete 1933 vor den Nationalsozialisten in die Niederlande. Dort versteckte sie sich von 1942 bis 1944 in einem Hinterhaus. In dieser Zeit schrieb Anne Frank ein Tagebuch, das zu den meistgelesenen Werken der Weltliteratur gehört. 1945 starb Anne Frank im Alter von 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Quelle: dpa

Gerade weil es sich bei Anne Frank um ein so junges Mädchen handelt, kann sie als besondere Identifikationsfigur dienen. Es geht dabei nicht darum, den Kindern den Holocaust zu erklären. Vielmehr wird etwas Identitätsstiftendes vermittelt, mit dem sich Heranwachsende vielleicht auch in späteren Jahren beschäftigen. Am Ende geht es auch darum zu zeigen, wohin Diskriminierung, Intoleranz und Fanatismus führen können, und dass wir eine freie und offene Gesellschaft anstreben.

Name "Anne Frank" mit Leben füllen

In diesem Sinne steht "Anne Frank" als Namenspatronin für ein fantastisches pädagogisches Konzept. Es geht darum, Kinder zu weltoffenen, mitfühlenden und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Gerade weil man sich in Tangerhütte aufgemacht hat, die pädagogische Arbeit neu zu denken, spiegelt dies ein großes Engagement wider. Da steht "Anne Frank" in keiner Weise im Weg. Im Gegenteil, es ist von daher zu wünschen, dass die Einrichtung ihren Namen künftig beibehält – und neu mit Leben füllt. Gerade auch aufgrund der aktuellen Entwicklungen.

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MDR (Bernd-Volker Brahms, Mario Köhne)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 07. November 2023 | 06:10 Uhr

51 Kommentare

Anita L. vor 25 Wochen

An dieser Stelle muss ich DanielSBK tatsächlich Recht geben: Den Mord an Millionen von Menschen dadurch zu euphemisieren, dass man diese Menschen einfach "nur" sterben lässt, ist auch eine Form der Bagatellisierung. "Sterben" ist ein sehr neutraler Begriff, wir alle müssen dies früher oder später. Die Menschen in den KZ's aber sind nicht einfach gestorben, sondern sie wurden systematisch und planvoll in den Tod getrieben. Sie wurden ermordet.
Ähnlicher euphemistisch ist es übrigens, von in einem Krieg "Gefallenen" zu sprechen.

Reuter4774 vor 25 Wochen

Die Gesellschaft muss aber auch reflektiert sein. Aus Gedanken werden Worte und aus Worten Taten. Insofern klingt das sehr nach Ausreden. Und Eltern wären sehr wohl in der Lage kindgerecht (!) auch älteren Kitakindern diese Geschichte kurz darzustellen. Aber die Kinder müssen ja verhätschelt werden. Anne Frank und viele Kinder mussten den Terror erleben, da hat keiner nach dem Alter gefragt! Auch die Israelis, die am 7.10. entführten, gefoltert, getötet wurden, waren jeden Alters, auch Säuglinge.
Mal drüber nachdenken!

Gemaxos vor 25 Wochen

Zeig mir Mal jemanden der umgebracht wurde, während des Vorganges aber nicht gestorben ist...
Ich finde ja zum fremdschämen wenn jemand sich unbegründet echauffiert.
Wie peinlich anderen zur Schau zu stellen, dass man selbst Dinge nicht auseinanderhalten kann und sich von seinen daraus resultierenden Emotionen zu ungebührlichen Äusserungen hinreißen lässt.

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