Gymnasium Osterburg 89-jährige Jüdin erzählt in der Altmark aus ihrem Leben

Von Katharina Häckl, MDR SACHSEN-ANHALT

26. Januar 2024, 16:47 Uhr

Die Altmark hat derzeit besonderen Besuch. Henriette Kretz ist fast 90 Jahre alt. Die polnische Jüdin hat den Holocaust überlebt und berichtet davon – am liebsten jüngeren Generationen. Am Mittwoch war sie zu Gast im Gymnasium in Osterburg. Die kleine, zierliche Frau wurde dort zum großen Mahnmal gegen Rassismus und Antisemitismus.

Die kleine, schmale Frau mit den grauen, hochgesteckten Haaren betritt mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht die Aula des Osterburger Gymnasiums. Der große Raum ist besetzt mit fast 100 Schülern der neunten und zehnten Klassen. Sie empfangen Henriette Kretz mit warmem Applaus, danach mit gespanntem Schweigen. Sie haben sich auf diese besonderen Stunden mit der Holocaust-Überlebenden vorbereitet. Schulsozialarbeiterin Steffi Dembinsky weiß, warum die Kids so reagieren.

Eine sympathisch aussehende alte Frau
Henriette Kretz ist fast 90 Jahre alt. Sie ist eine der wenigen verbliebenen Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben über den Holocaust berichten können und wollen. Bildrechte: MDR/Katharina Häckl

"Das ist etwas unfassbar Besonderes. Es ist etwas ganz anderes, wenn du jemanden da hast, der das hautnah erlebt hat. Das kann man nicht beschreiben", sagte die Schulsozialarbeiterin MDR SACHSEN-ANHALT. Ob man in ein Konzentrationslager fahre oder jemanden da habe, der die Zeit wirklich miterlebt habe, das sei ein Unterschied. "Und das geht auch Schülern ganz nah."

Es ist etwas ganz anderes, wenn du jemanden da hast, der das hautnah erlebt hat. Das kann man nicht beschreiben.

Steffi Dembinsky Schulsozialarbeiterin

Eine voll besetzte Aula einer Schule.
Die Aula des Osterburger Gymnasiums war voll besetzt. Der Besuch der Holocaust-Zeitzeugin ist Bestandteil der Aktionswoche "Denken ohne Geländer". Bildrechte: MDR/Katharina Häckl

Forschungsreisen nach Auschwitz

Das Osterburger Gymnasium ist eine von 170 "Schulen ohne Rassismus – Schulen mit Courage" in Sachsen-Anhalt, aber eine besonders engagierte. Es gibt regelmäßige Treffen, etliche Workshops, Forschungsreisen unter anderem nach Auschwitz. Eine eigene Arbeitsgemeinschaft bemüht sich darum, das Konzept "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" auch wirklich mit Leben zu erfüllen, es nicht bei dem Titel zu belassen.

Koordinatorin Lisa Widmer sagte MDR SACHSEN-ANHALT, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Ausgrenzung – auch vor Ort – würden in sämtlichen Unterrichtsfächern thematisiert. Die Arbeitsgemeinschaft kümmere sich auch darum, "dass die neuen Fünftklässler darüber aufgeklärt werden". Es gehe um Fragen wie: "Wer sind wir? Was bedeutet eigentlich Rassismus? Was bedeutet Courage? Und was können wir tun, um die Vielfalt lebendig zu halten und dass keiner ausgegrenzt wird?"

Schülerinnen und Schüler stehen auf einer Bühne.
Charlie, Claus und ihre Mitstreiter der Arbeitsgemeinschaft "Schule mit Courage" bedankten sich schon vorab bei Henriette Kretz. Sie schätzen den Besuch der Zeitzeugin als besonders wertvoll ein. Bildrechte: MDR/Katharina Häckl

Henriette Kretz saß im Gefängnis

Henriette Kretz, bald 90 Jahre alt, ist für die Schüler in Osterburg eine Mahnung. Eine Mahnung, Vielfalt in einer Gesellschaft zuzulassen und zu pflegen – was Meinungen betrifft und Religionen, sexuelle Orientierung und mehr. Henriette Kretz, als Jüdin in Polen geboren, hat das Gegenteil erleben müssen: Ein gehöriger Teil ihrer Familie hat den Holocaust nicht überlebt, ihre Eltern wurden in Polen erschossen, sie selbst versteckte sich als Kind, so gut es ging.

Als die Häscher das jüdische Mädchen doch in seinem Versteck erwischten, steckten sie es ins Gefängnis. Henriette überlebte den Holocaust vor allem durch die Hilfe von Bekannten und unbekannten Menschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging sie letztlich ins belgische Antwerpen. Mehrmals pro Jahr kommt sie nach Deutschland.

Ihre Zeit ist begrenzt

Henriette Kretz weiß, dass ihre Zeit begrenzt ist, als Zeitzeugin des Holocausts jüngeren Generationen zu berichten. So lange sie noch dazu imstande ist, sagte sie in Osterburg, werde sie Begegnungen wie die in der Altmark suchen.

Besuch auch in Stendal geplant Am kommenden Sonnabend, dem 27. Januar 2024, ist Henriette Kretz in Stendal zu Gast. Dort nimmt sie ab 10 Uhr in der Katharinenkirche an der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus teil und berichtet auch dort von ihrem Holocaust-Überleben.

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MDR (Katharina Häckl, Luise Kotulla)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 26. Januar 2024 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

Seni1959 vor 13 Wochen

Ich habe viele Berichte über Überlebende der KZ im Dritten Reich gelesen. Es waren nicht nur Juden und Zigeuner Opfer, sondern auch Kritiker der NSDAP. Nur in Natzweiler-Struthof wird ihrer würdig gedacht. Das Schlimme ist, dass die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen wurden, Mengele war nicht der Einzige, der "fliehen" konnte. Und viele stramme Nazis nutzten ihre Netzwerke aus der Vergangenheit, um in Schlüsselpositionen der Nachkriegszeit zu kommen. Und die Nachfahren vieler Unschuldiger sollen sich jetzt immer noch schuldig fühlen.

DER Beobachter vor 13 Wochen

@ Hobby-V & Hilflos: "Witzig" Ihre Kommentare hier angesichts der Tatsache, dass Sie einer Partei nachdackeln, die wegen ihres Antisemitismus von der europäischen Rechten gemieden und verachtet wird...

hilflos vor 13 Wochen

Ich erinnere mich selbst an Ausführungen einer Zeitzeugin vor einigen Jahren. Diese hat die Nazi Zeit als junge Erwachsene erlebt. Deren Schilderungen, von der deutschen Besetzung, über Unterbringung und Lebensumstände im KZ bis hin zur schwierigen Auswanderung ins damalige Palestina empfand ich als sehr ergreifend.
Störend empfand ich damals, dass die Dame einen "Tross" mit hatte, der sie als Zeitzeugin offenbar vermarktete.

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