„Meinung zu Gast“ – Hannah Suppa – Verkehr in der Stadt
Hannah Suppa, Chefredakteurin der "Leipziger Volkszeitung", beobachtet die Veränderung in der Stadt und den gesellschaftlichen Wandel. Bildrechte: Nora Börding/LVZ / dpa

"Meinung zu Gast" Unsere Städte brauchen radikale Veränderungen

18. August 2023, 11:38 Uhr

"Meinung zu Gast"-Autorin Hannah Suppa sieht die Herausforderungen für moderne Städte in Leipzig wie unter einem Brennglas: Konzepte für Verkehrswege, Wohnungsbau und Zusammenleben müssen neu ausverhandelt werden. Kommen da alle noch mit? Ein Gastbeitrag.

Wenn man wissen will, welche Herausforderungen und Probleme Ostdeutschlands boomendste Großstadt hat, dann kann man darauf schauen, für welche Themen die Stadt Leipzig eigens "Koordinatoren" eingesetzt hat. Es gibt einen Radverkehrsbeauftragten, einen Fußwegkoordinator, einen Fachbeauftragten fürs Nachtleben, einen Koordinator für Insekten und einen für Toiletten – und nach dem Wunsch des Oberbürgermeisters der Stadt demnächst auch einen Wohnbaukoordinator. Damit ist zwar noch nicht alles, was das moderne Management einer wachsenden Großstadt heute ausmacht, abgedeckt, aber die groben Felder sind abgesteckt: Verkehr, Wohnen, kulturelle Vielfalt, Natur- und Klimaschutz.  

Meinung zu Gast In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" dann jeweils am Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.

Veränderungen werden zu emotionalen gesellschaftlichen Grundsatzdebatten

Das Tempo, mit dem sich in den vergangenen Monaten das Zusammenleben in den gemeinsamen Lebensräumen verändert hat, ist immens. Nicht jeder kommt da mehr mit. Und so werden in den Städten das Kennzeichnen eines neuen Radwegs oder in ländlichen Regionen die Pläne für Solarparks oder Gewerbeansiedlungen schonmal zur gesellschaftlichen Grundsatzdebatte – zu einer sehr emotionalen wohlgemerkt. 

Die Herausforderungen in Mitteldeutschland sind durchaus unterschiedlich. Beispiel Sachsen: Der Freistaat schrumpft in den kommenden Jahren demografisch. Während die kleineren Kommunen um den Erhalt der Einwohner, Infrastruktur und Anbindung kämpfen müssen, hat das Ballungszentrum Leipzig und Umland ganz andere Probleme. Bis zu 677.000 Menschen sollen bis 2040 in der Sachsenmetropole leben. Doch wo sollen die alle wohnen? Und wie sieht dieses Zusammenleben in einer immer vollgestopfteren Großstadt aus?

Radikal ran an die Städte: Es muss einiges neu verhandelt werden

Die multiplen Krisen der vergangenen (und auch der kommenden) Jahre zwingen den Städten eine nachhaltige Transformation auf, die es in der Verdichtung seit den Folgejahren der Friedlichen Revolution nicht mehr gegeben hat. Ein guter Zeitpunkt, sich endlich konsequent und radikal ranzumachen an die Städte und ihre Zukunftsentwicklung.

Es muss einiges neu verhandelt werden: Jetzt muss entschieden werden, wie sich der knappe Raum in den wachsenden Ballungszentren fair verteilt. Und wie bewegen wir uns in diesem Raum fort und verdammen dabei nicht ein Verkehrsmittel für das andere? Jetzt gilt es, beim Blick auf die Zentren auch den ländlichen Raum nicht zu vergessen, ihn besser anzubinden und als Chance zu begreifen (dort gibt es ja noch Wohnraum).

Städte umgestalten: Für Begegnungen, Energie und mehr Grün

Wie gestalten wir die Städte lebenswert mit Plätzen, Orten und Räumen, an denen die Menschen wieder mehr zusammenkommen können? Schnell muss nun der Bau neuer Wohnungen wieder in Gang kommen, auch wenn es sich doch für die Bauträger derzeit schlicht nicht mehr lohnt in Regionen mit wenig Kaufkraft wie der in Mitteldeutschland. Und wie bleibt das Wohnen bezahlbar?

Die Energiekrise hat auch deutlich gemacht, dass es einen Plan geben muss, wie in Zukunft in den Regionen geheizt wird. Woher kommt die Energie – und müssen bald alle Städte nochmal aufgebuddelt werden? Dabei könnte auch gleich etwas Beton verschwinden bei all den versiegelten Flächen der Stadt, denn klar ist auch: Es braucht mehr Grün in der Stadt, damit die Erhitzung durch die Klimakrise etwas abgeschwächt wird.

Leipzig: Städtische Veränderungen unter dem Brennglas

Eines ist in diesen neuen Transformationsjahren besonders wichtig: Wie bleiben wir bei all der Veränderung offen für die Ideen, die Argumente und die Sorgen der anderen? 

Radfahrer und Radfahrerinnen fahren im Verkehr auf einem Radweg.
In Leipzig gibt es zunehmend mehr Platz für Radfahrer, Autospuren werden gestrichen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jan Woitas

In Leipzig ist das alles derzeit wie unter dem Brennglas zu beobachten: Die Stadt richtete mehr Radwege in der City ein, reduzierte Spuren für Autofahrer, holte den Welt-Fahrradgipfel in die Metropole, experimentierte mit "Superblocks" in ersten Stadtteilen, errichtet Schulen und Kitas auf jedem freien Grund (wofür dann auch schonmal alte DDR-Garagen weichen müssen), baut die Innenstadt sukzessive um und in einem neuen Wohngebiet soll das Modell "Schwammstadt" zeigen, wie Stadtentwicklung und Klimawandel zusammengedacht werden können.  

LVZ Chefredakteurin Hannah Suppa
Bildrechte: Nora Börding/LVZ

Hannah Suppa Hannah Suppa ist die Chefredakteurin der "Leipziger Volkszeitung". In der Reihe "Meinung zu Gast" analysiert und kommentiert sie als Gastautorin Transformations- und Veränderungsthemen in Mitteldeutschland.

Zusammenleben braucht immer Kompromisse

Kommen Sie noch mit? Manch Leipzigerin und Leipziger nicht mehr – und fühlt sich nicht ausreichend informiert und überrumpelt. Transformation, ob es nun um eine neue Verkehrsführung oder Quartiersaufteilung geht, braucht klare Kommunikation und wenig Drumrumgerede.  

Leipzig hat die Chance, eine der Zukunftsgroßstädte Deutschlands zu werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Kommunalpolitik, sondern eine der gesamten Gesellschaft, weil das Zusammenleben auch immer ein Aushandeln von Kompromissen ist. Viele europäische Städte zeigen bereits, wie aus Utopien über Jahre der mühsamen Transformation eine veränderte Lebensrealität geworden ist. Vielleicht wird es in Großstädten wie Leipzig nun also Zeit für einen Zukunftskoordinator.  

Wie entwickelt sich die Großstadt Leipzig weiter? Das lesen Sie jeden Tag im Newsletter "Leipzig Update" der "Leipziger Volkszeitung".

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Redaktioneller Hinweis Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und nicht die der Redaktion.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 20. August 2023 | 09:35 Uhr

61 Kommentare

Der Pegauer vor 38 Wochen

Unter einer Transformation wird ein grundlegender Wandel verstanden. Ich verstehe nicht, in welcher Richtung das laut Frau Suppa ablaufen soll. Soll Leipzig ähnlich werden wie Berlin, wo in Freibädern Massenschlägereien stattfinden und ein Freibadbesuch nur nach vorheriger Ausweiskontrolle stattfinden kann? Oder sollen sich No-Go-Areas herausbilden, in denen man als „Weißbrot“ (Originalton „Axel Steier“, Mission-Lifeline-Gründer) besser nicht hingehen sollte. Oder fehlen an Leipzigs Hauptverkehrsstraßen etwa sogenannte „Parklets“ aufgestellt werden, die zu mehr Miteinander führen sollen, jedoch bald als stinkende und vermüllte Hotspots der Trinkerszene die Straßen verunzieren? Oder soll der Johanna-Park zum Dealerparadies umgestaltet werden wie weiland der Görlitzer Park in Berlin? Wenn das die Ziele der Transformation sein sollen, nein danke, das soll Leipzig lieber so bleiben wie es jetzt ist.

ElBuffo vor 38 Wochen

Der Allgemeinheit fast geschenkt? Das interessiert mich, und andere sicher auch. Der Strom ging nicht an den lokalen Netzbetreiber, der den vielleicht gerade gar nicht brauchte und noch sehen musste, dass er noch was drauflegt, um den loszuwerden? Beides musste dann natürlich die Allgemeinheit tragen. Wenn es anders, dann prima und absolut nachahmenswert. Vielleicht zimmert der lokale Versorger ein paar Ladestationen in die Stadt, damit die vielen Einpendler ihr E-Auto genau zu diesen Zeiten vollplätschern lassen können. Dann wird ein Schuh draus.

Basisdemokrat vor 38 Wochen

Kopenhagen. Paris. Freiburg i. Br. Die Arbeit der Koordinatoren ist Basisarbeit im Kontakt mit der Bevölkerung (das ist nicht gerade die Stärke einer Verwaltung). Und natürlich ist das Zusammenleben ein Aushandeln von Kompromissen -- z. B. die einen wollen nachts feiern, die anderen ihre Ruhe. Das muß koordiniert werden. Und es erfolgt unterhalb der Schwelle, die Sie "Rechtsstaatlichkeit" nennen. Aber wahrscheinlich haben Sie von Großstadt keine Ahnung -- ich wohne da.

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