Polizeikette vor einer Demonstration
Nach gewalttätigen Ausschreitungen am Tag X kesselte die Polizei mehr als 1.300 Personen ein. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

"Tag X" in Leipzig Dokumente zeigen Einsatz von "Tatbeobachtern" im Kessel

13. Februar 2024, 13:13 Uhr

Die Aufarbeitung des "Tag X" geht weiter: MDR Investigativ liegen Dokumente vor, die belegen, dass die Polizei "Tatbeobachter" im Kessel eingesetzt hat. Außerdem könnten die Personalien fast aller eingekesselten Personen in der nachrichtendienstlichen Datei des Verfassungsschutzes als "linksextrem" gespeichert werden.

Die Maßnahmen sorgten für mediale Beachtung: In den ersten Februartagen sperrte die Leipziger Polizei Teile der Karl-Liebknecht-Straße sowie der umliegenden Straßen in Leipzig ab.

Nach Informationen von MDR Investigativ sollen Spezialisten den Platz und die Straßen 3D gescannt haben. Was genau untersucht wurde, erklärt die Polizei auf Nachfrage des MDR aufgrund eines "laufenden Ermittlungsverfahrens" nicht. Sie bestätigt jedoch, dass diese "kriminalpolizeilichen Maßnahmen" im Zusammenhang "mit dem Einsatzgeschehen Tag X" stünden.

Damit ist der 3. Juni 2023 gemeint. Damals kam es in der Leipziger Südvorstadt zu schweren Ausschreitungen. Nach dem Urteil des Oberlandesgerichts Dresden gegen Lina E. und drei Männer wegen Bildung und Unterstützung einer linksextremen kriminellen Vereinigung riefen linksextreme und linksradikale Gruppen dazu auf, gegen das Urteil zu demonstrieren. Die Stadt Leipzig untersagte dieses Protestgeschehen aufgrund von Sicherheitsbedenken weitestgehend.

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Rückblick

Eine genehmigte Demonstration gegen diese Verbote erhielt daraufhin größeren Zulauf als erwartet. Über 2.000 Personen hatten sich damals nach Schätzungen von MDR Investigativ auf dem Platz befunden. In den Augen der Polizei wurde sie zur "Ersatzveranstaltung" der untersagten Versammlungen, weswegen die Behörden auch diese auflösen wollten.

Noch während die Verhandlungen darüber liefen, griffen Vermummte jedoch die Polizei an. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen. Im Anschluss wurden mehr als 1.300 Personen gekesselt. Nicht alle waren vermummt oder gewalttätig und nicht alle waren Teil der Demonstranten. Es traf auch jene, die sich nur das Spektakel anschauen wollten. Mehr als 100 Kinder und Jugendliche waren davon betroffen.

In einer gemeinsamen Recherche ist es nun der Transparenzplattform "FragDenStaat" und MDR Investigativ gelungen, den Einsatzbericht vom 2. und 3. Juni einzusehen. Diese Unterlagen hat die Plattform veröffentlicht.

Aus den Unterlagen geht auch der Einsatz sogenannter "Tatbeobachter" hervor. Das sind zivilgekleidete, verdeckt agierende Beamte, die sich nah am Geschehen aufhalten und Informationen an die Einsatzleitung weiterleiten. Die Diskussion über "verdeckte Ermittler" wurde im vergangenen Sommer dadurch angeheizt, dass sich ein Leipziger Staatsanwalt vermummt am Kessel bewegte, um dort seiner Arbeit nachzugehen. Die Leipziger Polizei bestätigte dem MDR im Juni 2023 den Einsatz von Tatbeobachtern auch im Kessel.

Das Protokoll eines Tatbeobachters am Tag X

Die nun vorliegenden Dokumente zeichnen nach, dass die Polizeiführung kurz nach 17 Uhr am 3. Juni den Einsatz der Tatbeobachter freigab, weil sich "immer mehr Personen" vermummten. Um 17:38 Uhr konnten diese dann "feststellen, wie vermummte Personen Steine aufnahmen und 30 Personen nördlich der Versammlung in der Scharnhorststraße Regenschirme aufspannten".

Dem MDR liegt außerdem das Protokoll eines dieser Tatbeobachter vor. Darin beschreibt der Beamte der Leipziger Beweis- und Festnahmeeinheit seinen Einsatz an jenem Tag, den er mit mindestens einem weiteren Tatbeochter dieser Einheit absolviert hat. Er beschreibt, wie sie "in ziviler Kleidung unterwegs" waren und "wir beide somit nicht als Polizeibeamter [sic!] erkennbar" waren.

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Kurz nach 18 Uhr seien seiner Schilderung zufolge "unvermittelt von [sic!] Personen auf der Scharnhorststraße in Richtung Bernhard-Göring-Straße" gerannt. "Das führte auch dazu, dass sehr sehr viele andere Person [...] mit hinterher rannten, was ich auch tat." Er beschreibt weiter, wie er Vermummte sieht, die Steine auf die ankommende Polizei werfen. Ein Mann fällt ihm besonders auf. "Zu diesem Zeitpunkt entschloss ich mich, den nunmehr Tatverdächtigen nicht mehr aus den Augen zu lassen".

In den darauffolgenden Passagen beschreibt der Beamte weiteres Tatgeschehen und dass er dem Tatverdächtigen in den Kessel gefolgt ist. Dieser und weitere Personen hätten im Kessel schließlich ihre Vermummung abgelegt, dunkle mit bunter Kleidung getauscht und Vermummungsgegenstände wie "Sturmhauben, Schals und ganze? Jacken" im Gebüsch vergraben. Dazu sei extra eine mitgeführte kleine Schaufel verwendet worden, berichtet der Ermittler weiter.

Der Ermittler meldete seine Erkenntnisse aus dem Kessel heraus an seine "Führungsgruppe", behielt zwei von ihm als Tatverdächtige identifizierte Männer im Auge, bis seine Kollegen schließlich beide gegen 2:30 Uhr aus dem Kessel mitgenommen hatten.

Kritik an Zahlen

Das Protokoll deckt sich in dem Punkt mit dem Einsatzbericht der Leipziger Polizeiführung, dass Tatbeobachter sich über weite Strecken im Kessel befanden. Es wirft jedoch Fragen auf. Zum einen stand die Leipziger Polizei recht früh dafür in der Kritik, dass sie die Dimensionen der eingekesselten Menge völlig unterschätzt habe. Aus den anfänglich 300 bis 400 gemeldeten Personen wurden bei Nachfragen am nächsten Morgen schon doppelt so viele, ehe einige Monate später schließlich offiziell 1.321 Eingekesselte bestätigt wurden, darunter 104 Minderjährige.

Aus dem Einsatzprotokoll ist nachvollziehbar, wie die Polizei ihre Schätzungen zu den Teilnehmerzahlen stündlich korrigieren musste. Außerdem erklärt darin ein im Kessel eingesetzter Tatbeobachter: "Es muss davon ausgegangen werden, dass Informationen der Polizei nicht alle Menschen in der Umschließung erreicht hat." Leipzigs Polizeipräsident René Demmler hatte bereits Ende Juni 2023 für Fehler im Einsatz rund um den "Tag X"-Kessel um Entschuldigung gebeten.

Haben sich Beamte im Kessel vermummt?

Der Tatbeobachter-Einsatz wirft darüber hinaus weitere Fragen auf. Nach Informationen der Linken-Abgeordneten im Sächsischen Landtag Kerstin Köditz seien zivil gekleidete Polizeibeamte vermummt im Einsatz gewesen. Dies sei aus ihrer Sicht "ein großes Problem". Vermummung in Zusammenhang mit einer Versammlung sei ein Gesetzesverstoß: "Wenn ich vermummt in eine Versammlung gehe, besteht die Gefahr, dass sich andere Versammlungsteilnehmer animiert fühlen, sich ebenfalls zu vermummen." Die Abgeordneten des Innenausschusses hätten in den Sondersitzungen das Sächsische Innenministerium explizit danach gefragt, ob Tatbeobachter sich bei ihrem Einsatz zum "Tag X" vermummt hätten. "Das wurde nie abgestritten. Also muss ich davon ausgehen, dass es so war", erklärt Köditz.

MDR Investigativ liegen Informationen vor, wonach Tatbeobachter bei einem Einsatz in Leipzig-Connewitz am Abend des 2. Juni vermummt aufgetreten sein sollen. Am Vorabend des Demonstrationstages kam es dort zu heftigen Ausschreitungen. Für den 3. Juni liegen der Redaktion bisher noch keine gesicherten Hinweise darauf vor.

Fredrik Roggan, Professor an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, erklärt dazu auf MDR-Nachfrage: "Das rein passive Mitlaufen in einer Versammlung, selbst wenn diese einen unfriedlichen Verlauf nimmt, ist für sich genommen unter dem Gesichtspunkt des Landfriedensbruchs unproblematisch." Würden sich diese Ermittler jedoch an Gewalttaten beteiligen, machten sie sich strafbar, ergänzt er. "Das darf nicht Bestandteil einer Tatbeobachtung sein". Diese müsse ausnahmslos passiv sein.

Das darf nicht Bestandteil einer Tatbeobachtung sein.

Fredrik Roggan Professor an der Hochschule der Polizei

Die Polizeidirektion Leipzig bestätigt MDR Investigativ, dass sie für die Versammlungen vom 31. Mai und dem 3. Juni den Einsatz von Tatbeobachtern freigegeben habe und dass eingesetzte Einheiten am 2. Juni im Rahmen der Strafverfolgung ihre eigenen Tatbeobachter eingesetzt haben. Weitere Fragen zum Einsatz wurden mit Hinweis auf mögliche Rückschlüsse auf polizeitaktisches Vorgehen und damit die Wirksamkeit polizeilichen Handelns nicht beantwortet. Selbst eine teilweise Offenlegung der Umstände konkreter Vorgehensweisen könne "Rückschlüsse auf strafprozessuale oder gefahrenabwehrende Maßnahmen der Polizei zulassen, die künftige Erfolge von Maßnahmen gefährden würden".

Wie sind die Daten der eingekesselten Personen gespeichert?

Mit einer ganz anderen Frage dürften sich womöglich bald die eingekesselten Personen beschäftigen. Deren Daten könnten nach Informationen von MDR Investigativ und FragDenStaat an das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) weitergegeben worden sein. Dort könnten sie im Nachrichtendienstlichen Informationssystem mit dem Vermerk "linksextrem" gespeichert werden.

Laut dem Investigativ-Journalisten Aiko Kempen, der für "FragDenStaat" arbeitet, hat das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz eine entsprechende Nachfrage nicht beantwortet. "FragDenStaat" verklagt die Behörde nun auf Beantwortung der Frage. Dem MDR sagt Kempen dazu: "Der Verfassungsschutz weigert sich, eine Frage zu beantworten, zu der man nur Ja oder Nein sagen kann". Als Begründung habe das LfV angegeben, dass die Antwort Rückschlüsse auf seine Arbeit ermöglichen würde. "Wie Rückschlüsse möglich sein sollen, wenn die Antwort 'Nein' lautet, erschließt sich mir allerdings nicht und lässt eigentlich die Möglichkeit offen, dass es auf die einzig andere Antwort hinausläuft", so der Journalist.

Von den über 1.300 gekesselten Personen wird nur ein sehr geringer Teil schwerste Straftaten begangen haben.

Valentin Lippmann Grünen-Landtagsabgeordneter

Valentin Lippmann, Grünen-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, sagte dem MDR, dass die Rechtslage eine solche Daten-Speicherung bei erheblichen Straftaten hergebe und in dem Kontext sei schwerer Landfriedensbruch eine schwere politische Straftat. Allerdings habe er Zweifel, dass es rechtlich zulässig sei, die Daten von Personen zu sammeln und weiterzuverarbeiten, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. "Von den über 1.300 gekesselten Personen wird nur ein sehr geringer Teil schwerste Straftaten begangen haben. Der Rest ist mehr oder minder zufällig in diesen Kessel gelangt, auch wenn die Polizei das anders behauptet". Speziell die Ermittlungsverfahren gegen diese Personen würden in absehbarer Zeit eingestellt werden, weswegen diese Daten dann gelöscht werden müssten, erläutert Lippmann weiter. "Eigentlich müsste man jetzt Vorkehrungen dafür treffen, dass diese Daten von den Personen gar nicht erst weiterverarbeitet werden".

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 12. Februar 2024 | 17:24 Uhr

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