Menschen stehen eng beiander an einem Platz. Ringsherum sind Polizisten, Polizeiautos und Rettungswagen zu sehen.
Etwa 1.000 Menschen wurden am "Tag X" in Leipzig nach gewalttätigen Angriffen auf die Polizei von den Beamten eingekesselt, darunter auch Kinder und Jugendliche. Bildrechte: Konstantin Henss

FAQ "Tag X" in Leipzig: Wenn die Polizei gegen eigene Kollegen ermittelt

16. Juni 2023, 16:20 Uhr

Die Aufarbeitung des Demonstrationsgeschehens am "Tag X" in Leipzig ist erst am Anfang. Neben den Ermittlungen gegen Gewalttäter muss die Polizei nach Anzeigen auch gegen eigene Kollegen ermitteln. Viele Betroffene bezweifeln aber, dass dies unabhängig geschieht. Was ist da dran und welche Ergebnisse brachten bisher Ermittlungen gegen Polizisten in Sachsen? Ein Überblick.

Was ist über die Ermittlungen gegen Polizeibeamte im Zusammenhang mit dem sogenannten Tag X in Leipzig bekannt?

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Leipzig wurden zwei Anzeigen bei der Polizei erstattet, bei denen der Anfangsverdacht einer Straftat besteht. Beide Verfahren würden gegen Unbekannt geführt. Die Ermittlungen hat die Kriminalpolizei in Dresden übernommen, weil die eigene Dienststelle dies in solchen Fällen nicht tun könne, sagte ein Polizeisprecher MDR SACHSEN. Zwei weitere Fälle werden von der Polizei noch geprüft. Zu den konkreten Vorwürfen äußerten sich die Behörden bislang nicht.

Nach Informationen der Leipziger Volkszeitung hat eine Mutter Anzeige wegen Entziehung Minderjähriger und Freiheitsentzug erstattet, ein Jugendlicher wegen schwerer Körperverletzung. Mehrere Eltern von Kindern und Jugendlichen, die in Leipzig mit eingekesselt wurden, haben laut LVZ zudem beim Jugendamt Anzeige gegen die Polizei erstattet. Sie werfen den Beamten Gefährdung des Kindeswohls vor.

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Wie wird Polizeigewalt juristisch aufgearbeitet?

Zum einen gibt es das Disziplinarrecht, durch das Dienstpflichtverletzungen innerhalb der Behörde sanktioniert werden können. Zum anderen kann in einem Strafverfahren überprüft werden, ob strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, insbesondere eine Körperverletzung im Amt.

Wenn es zu einer Verurteilung kommt, gibt es eine strikte Grenze: Bei einer Freiheitsstrafe ab einem Jahr endet das Beamtenverhältnis. Alles, was darunter liegt, wird im Disziplinarverfahren entschieden. Wenn es keine Verurteilung gibt, gibt es für gewöhnlich auch keine beruflichen Konsequenzen.

In wieviel Fällen wurde in Sachsen 2021 und 2022 gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt ermittelt?

In Sachsen gab es nach Angaben der Staatsanwaltschaften und der Generalstaatsanwaltschaft im vergangenen Jahr (2022) mehr als 800 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte, darunter 174 wegen Körperverletzung im Amt. Bei den Verfahren wegen Körperverletzung im Amt kam es demnach in keinem Fall zu einer Anklage oder Verurteilung. Meist war die Schuld nicht nachweisbar oder die Anhaltspunkte reichten für eine Verurteilung nicht aus.

2021 gab es den Angaben zufolge 185 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt. Zwei Fälle kamen vor Strafrichter. Beide Beamte wurden zu Freiheits- und Geldstrafen verurteilt.

Weshalb gelingt es so schlecht, Polizeigewalt aufzuarbeiten?

Die meisten Verdachtsfälle bleiben im Dunkelfeld, weil die Betroffenen keine Anzeige erstatten. "Viele haben das Gefühl, sie hätten in einem solchen Verfahren keine Chance", sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. "Sie denken, sie könnten die Beamten im Nachhinein nicht identifizieren, man würde ihnen nicht glauben oder die Polizei hätte in einem Verfahren einen strukturellen Vorteil."

Wenn die Betroffenen Anzeige erstatten, bringe die Justiz nur sehr wenige Fälle zur Anklage, sagt der Frankfurter Kriminologe. "Ungefähr zwei Prozent der angezeigten Fälle landen vor Gericht." Der absolute Großteil werde eingestellt, in der Regel mangels hinreichenden Tatverdachts.

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An wen kann man sich noch wenden, wenn man Polizeigewalt erlebt hat?

In Sachsen gibt es seit einigen Jahren die "Unabhängige zentrale Vertrauens- und Beschwerdestelle für die Polizei", die direkt bei der Staatskanzlei angesiedelt ist. Dort können sich Bürgerinnen und Bürger, aber auch Polizisten hinwenden, wenn sie sich über das Verhalten von Polizeibeamten beschweren wollen. 2021 haben dies in Sachsen 289 Bürger und 20 Polizisten getan, 2022 gab es 248 Beschwerden von Bürgern und 13 von Polizisten. Die meisten Beschwerden betrafen die Polizeidirektionen Leipzig und Dresden.

Ein gutes Drittel der Beschwerden wurde in beiden Jahren als begründet oder teilweise begründet bewertet, knapp die Hälfte als unbegründet. Die restlichen Beschwerden wurden als "nicht entscheidbar" eingestuft, darunter fallen auch die Fälle, die an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden.

Bei begründeter Kritik wurden von der Beschwerdestelle nach eigenen Angaben Empfehlungen an die betroffenen Polizeidienststellen ausgesprochen, um die Fälle auszuwerten bzw. aufzuarbeiten. Dazu zählen etwa unangemessenes und unsensibles Auftreten von Beamten gegenüber Bürgern bei Kontrollen im Straßenverkehr oder Notrufbearbeitung, keine Namensnennung oder kritikwürdige Kommunikation in sozialen Netzwerken.

In 19 Fällen wurden 2022 nach den Beschwerden strafrechtliche Ermittlungen gegen Polizeibeamte eingeleitet, darunter acht Fälle wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt.

Gab es schon Beschwerden bei der Stelle im Zusammenhang mit den Leipziger Demonstrationen am "Tag X"

Mit Bezug zum sogenannten "Tag X" in Leipzig sind bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für die Polizei nach Angaben der Staatskanzlei bisher zwei Beschwerden von Bürgern eingegangen. Diese hätten sich jeweils über die Störung durch die Hubschraubereinsätze beschwert.

Wie bewerten Fachleute solche "Unabhängigen Beschwerdestellen"?

Der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main hält solche ministerielle Beschwerdestellen nicht für unabhängig, weil sie Teil der Verwaltungshierarchie seien. In einigen Bundesländern gebe es unabhängige Polizeibeauftragte beim Parlament.

MDR (kbe)

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