Marlen Hobrack: "Erbgut" Was von den DDR-Müttern bleibt
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28. September 2024, 13:37 Uhr
In ihrem ersten Buch "Klassenbeste" hat die Leipziger Autorin Marlen Hobrack am Beispiel ihrer Mutter untersucht, wie sich der soziale Status auf die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft auswirkt. Hobracks Mutter ist nun überraschend gestorben. Aber statt eines Einfamilienhauses erbt die Autorin die Schulden und gehorteten Dinge ihrer Mutter. Im Sachbuch "Erbgut" wirft die Schriftstellerin einen ungeschönten Blick auf die Mütter in der DDR und was sie ihren Kindern heute hinterlassen.
- In ihrem neuen Sachbuch "Erbgut" blickt die Autorin Marlen Hobrack nach dem Tod ihrer Mutter auf deren Nachlass aus Schulden und gehorteten Dingen.
- Hobrack verarbeitet im Schreiben den Schock um den frühen Tod der Mutter und versucht die Hintergründe der mütterlichen Kaufsucht zu verstehen.
- Immer wieder rückt dabei auch die enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter in den Fokus.
Marlen Hobrack befindet sich in einem Schockzustand. Ganz plötzlich ist ihre Mutter gestorben, zu der Hobrack, als jüngste Tochter, ein inniges Verhältnis hatte. Und sich deshalb oft wie überschwemmt fühlte, von zu viel Liebe, zu viel Verantwortung. Und auch jetzt, nach ihrem Tod, hinterlässt die Mutter ihr ein Zuviel: eine Wohnung, vollgestopft mit Waren, teils in noch ungeöffneten Kartons. Dazu Stapel unbezahlter Rechnungen. Hobracks Mutter war kaufsüchtig.
Kaufsucht als Erbe der DDR-Mutter?
Das "Erbgut", welches der Titel ihres neuen Buches verspricht, ist zunächst einmal eine Erblast. Doch es scheint, als habe die Tochter eigentlich gar keine Wahl. Sie muss dieses Erbe – im praktischen, wie im übertragenen Sinn – annehmen.
Was, wie ich glaube, die einzige Rechtfertigung für diesen Text gewordenen Verrat darstellt: Dass ich mir nicht ausgesucht habe, welche Traumata, Defekte und neurotischen Nuklei über mich kommen würden.
Indem sie das Problem ihrer Mutter öffentlich macht, findet sie ihre Art des Umganges damit: "Was, wie ich glaube, die einzige Rechtfertigung für diesen Text gewordenen Verrat darstellt: Dass ich mir nicht ausgesucht habe, welche Traumata, Defekte und neurotischen Nuklei über mich kommen würden. Dass die Auseinandersetzung mit all dem auch eine Angstbewältigung darstellt." Die Angst, neben einer vollgestopften Wohnung auch die Veranlagung zur Kaufsucht geerbt zu haben, zieht sich durch das ganze Buch.
Archäologin im Gefühlshaushalt der Mutter
Während sich Hobrack in der mütterlichen Wohnung Schicht für Schicht durch das Gebirge an Dingen gräbt, versucht sie auch deren Problemen – der Kaufsucht und dem krankhaften Horten – systematisch beizukommen. Da ist zunächst die Funktion des Gehorteten. Hobrack erkennt ein System aus Gängen, die im Schlafzimmer zusammenlaufen, dem Rückzugsort der kontaktscheuen Mutter. Dieser sei ein Hort der Abwehr für die allein lebende Frau gewesen: "Wie ein Kind, das allein zu Hause ist und sich gegen Einbrecher verbarrikadiert."
Bezüge von Marx bis zu den Simpsons
Hobracks Mutter wuchs in Armut und Lieblosigkeit auf. Ein Trauma, das sie später mit dem Kauf von unzähligen Dingen zu kurieren versuchte. Für die Kulturwissenschaftlerin handelte sie damit gemäß den Imperativen der Konsumkultur, "der die Menschen dazu auffordert, ihre Persönlichkeit durch Konsumgegenstände auszudrücken. Die eigene Individualität durch Kaufentscheidungen zu betonen, durch die Bettwäsche, die Teller oder die Handtücher, mit denen man sich täglich umgab. In der DDR hatte man ja wenig Auswahl."
Konsumkritik und der Verweis auf eine noch immer existierende Klassengesellschaft mögen nicht neu sein. Doch Marlen Hobrack fügt der Debatte mit ihrem Buch "Erbgut" eine Facette hinzu: Indem sie eine offensichtlich vergessene Generation von Frauen in den Blick nimmt – werktätige Frauen, die die Hälfte ihres Arbeitslebens in der DDR verbrachten. Und vom neuen System regelrecht verschluckt wurden. "Auch meine Mutter blieb Gefangene in einem Hamsterrad aus Arbeit und Konsum, in dem sie mehr arbeiten musste, um mehr zu konsumieren", resümiert die Autorin.
Auch meine Mutter blieb Gefangene in einem Hamsterrad aus Arbeit und Konsum, in dem sie mehr arbeiten musste, um mehr zu konsumieren.
Erbgut ist ein vielschichtiges Werk voller Bezüge und Exkurse. Hobrack bezieht in ihre Überlegungen unzählige Quellen ein – von Sigmund Freud und Karl Marx bis zur US-amerikanischen Autorin Bell Hooks und den Simpsons. Dazwischen führt ihr Weg sie immer wieder zurück in die eigene Kindheit. Es ist ein atemloses Buch, in dem der Schmerz über den plötzlichen Verlust der Mutter deutlich spürbar ist.
Ein Buch für Herz und Kopf
"Dieses Buch ist eine glatte Lüge. Es ist Selbstbetrug," erkennt Marlen Hobrack am Schluss des Buches, "glaubte ich doch, es gehe in diesem Buch wesentlich um meine Mutter und ihre Dinge. Doch wenn überhaupt, so behandelt und verhandelt dieses Buch eine Beziehung. Zwischen einer Tochter und einer Mutter, zwischen zwei Menschen, denen es nicht gelingt, sich voneinander zu lösen."
"Erbgut" ist ein Buch, das einen nicht unberührt lässt. Den Geist ebenso wenig, wie das Herz.
Informationen zum Buch
Marlen Hobrack: "Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt"
Verlag Harper Collins
240 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-365-00813-3
Erschienen am 24.09.2024
Die Buchpremiere findet am 1. Oktober 2024 im Pfefferberg Theater in Berlin statt. Mehr Informationen finden Sie hier.
Redaktionelle Bearbeitung: hro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 24. September 2024 | 11:15 Uhr