Autor Dirk Oschmann mit kurzen grauen Locken und einer Brille.
Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann hat mit seinem Bestseller "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" eine neue Ost-Debatte angestossen. Bildrechte: dpa/Jakob Weber

Ein Jahr nach Bestseller Dirk Oschmann: Berichterstattung über den Osten "fairer, respektvoller und differenzierter"

09. Januar 2024, 10:10 Uhr

Vor knapp einem Jahr ist Dirk Oschmanns Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" erschienen. Der Leipziger Literaturwissenschaftler kritisiert in seiner Streitschrift die Stigmatisierung Ostdeutschlands und eine noch immer bestehende Ungleichheit zwischen Ost und West. Sein Sachbuch hat eine große öffentliche Resonanz erfahren und wurden viel diskutiert. Doch hat der Bestseller in der Gesellschaft gewirkt und zu Veränderungen in der Ost-West-Debatte geführt?

Mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" hat der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann offenbar einen Nerv getroffen: Es zählt zu den meistverkauften Sachbüchern des vergangenen Jahres und stand nach seinem Erscheinen im Februar 2023 auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch. Bei den Spiegel-Jahresbestsellern belegt es den dritten Platz.

Oschmanns Thesen zur immer noch bestehenden Ungleichheit zwischen Ost und West sind auf große Resonanz gestoßen: Zahlreiche Artikel und Rezensionen sind erschienen. Der Germanistikprofessor ist Gast in Talkshows gewesen und hat das Buch in Lesungen und Interviews vorgestellt. Weit über 150.000 Exemplare wurden bislang verkauft. Das Buch hat Diskussionen über die Unterschiede zwischen Ost und West, die Wiedervereinigung und eine Stigmatisierung von Menschen aus Ostdeutschland angeregt. Ob das Buch tatsächlich in die Gesellschaft gewirkt habe, lasse sich nur schwer messen, meint Dirk Oschmann im Gespräch mit dem MDR.

Über den Osten wird anders geschrieben

"Ich habe durchaus den Eindruck, dass man hier und da ein Umsteuern in der Berichterstattung über den Osten beobachten kann. Dass fairer berichtet wird, dass respektvoller berichtet wird, dass differenzierter berichtet wird", sagt Dirk Oschmann knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung seines Buchs im Interview. Zwar würde es gleichzeitig genug Gegenbeispiele geben, aber es sei eine "neue Vorsicht" in der Berichterstattung zu beobachten, so der Literaturprofessor.

Dirk Oschmann, ein Mann mit grauen Locken und Brille spricht in ein Mikrophon
Dirk Oschmann wurde 1967 in Gotha geboren und lehrt seit 2011 Germanistik in Leipzig. Bildrechte: picture alliance/dpa | Annette Riedl

Ich habe durchaus den Eindruck, dass man hier und da ein Umsteuern in der Berichterstattung über den Osten beobachten kann.

Dirk Oschmann, Literaturwissenschaftler und Autor

Mehr Interesse am Buch im Osten

Sein Buch sei im Osten generell viel stärker wahrgenommen worden als im Westen, erzählt Oschmann. Die Relation würde hinsichtlich der Verkaufszahlen bei ungefähr 80 zu 20 Prozent liegen. Auch hätte er deutlich mehr Lesungen im Osten als im Westen gehabt.

"Viele Leute, gerade im Osten, begreifen das Buch als Möglichkeit, selbstbewusster auf die Dinge zuzugehen und ihr eigenes Leben auch anders und bewusster anzunehmen, zu dem eigenen Leben zu stehen und bestimmte Dinge besser zu verstehen", so der Autor.

Prof. Dirk Oschmann hält eine Lesung vor Publikum in einer Kirche.
Das Buch von Dirk Oschmann hat im Osten mehr Publikum gefunden als im Westen. Bildrechte: IMAGO / Eberhard Thonfeld

Debatte zwischen Ost und West

Es gehe für diese Menschen auch darum, sich die Schuld nicht nur selber zuzurechnen, sondern auch zu verstehen, dass gesellschaftliche Mechanismen bestimmte Lagen erzeugt hätten. Oschmann verweist etwa darauf, dass die Menschen in Ostdeutschland weniger Vermögen und ein sechsmal höheres Armutsrisiko hätten und über 20 Prozent weniger verdienen würden.

Viele Leute, gerade im Osten, begreifen das Buch als Möglichkeit, selbstbewusster auf die Dinge zuzugehen.

Dirk Oschmann, Literaturwissenschaftler und Autor

Unter diesen Voraussetzungen würde "der Osten" auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen anders reagieren. Das werde daraufhin vom Westen kritisiert und als Abweichung von der westlichen Norm verstanden, sagt Oschmann.

Blick von oben auf mehrere Menschen, die gemeinsam an einem späten Winterabend durch eine Straße laufen.
Demonstrationen wie von Pegida prägen das Bild von Ostdeutschland. Bildrechte: xcitepress

Gleichberechtigung und Demokratie

Mit Blick auf die Politik spricht Oschmann von einer "großen Nervosität". Es gebe schon ein Bewusstsein dafür, dass man Dinge anders machen müsse, damit sich der Osten weiterhin als Teil dieser Demokratie begreifen könne. Man müsse Wege finden, dass er angemessen repräsentiert werde in den gesellschaftlichen Teilbereichen, mahnt der Germanist. Der Osten müsse die Möglichkeit bekommen, die Gesellschaft an den entscheidenden Positionen mitzugestalten.

Quelle: MDR (Andreas Berger)
Redaktionelle Bearbeitung: lig, td

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