Menschen mit Behinderung wollen auf den ersten Arbeitsmarkt
Silvio Dahme hat den Sprung aus der Werkstatt des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD) in Erfurt auf einen sogenannten Außenarbeitsplatz geschafft. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Erfurt Warum Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt wollen

10. November 2023, 15:06 Uhr

Die Chancen für Menschen mit Behinderung einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, sind derzeit so hoch wie nie. Geschuldet ist das auch dem aktuellen Fachkräftemangel. Viele Menschen mit Behinderung nutzen das, um sich für einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt fit zu machen – Unterstützung finden sie in den Werkstätten und bei der Agentur für Arbeit. Ein Beispiel aus Erfurt.

Silvio Dahme hat - ganz klassisch für Menschen mit Behinderung - in einer Werkstatt begonnen zu arbeiten. Beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland (CJD) in Erfurt hatte er verschiedene Aufgaben, zum Beispiel das Zuschneiden von flexiblen Kehrleisten. Typische leichte Werkstattarbeit, zu der oft auch das Sortieren und Verpacken gehört.

Meistens macht der Mitarbeiter dann erst einmal ein Praktikum in dem Betrieb. Sollte es zu einem sogenannten Außenarbeitsplatz kommen, ist der Mitarbeiter weiterhin bei der Werkstatt angestellt. Auch jetzt ist der Job-Coach dabei und kümmert sich um beide Seiten.

Doch seine Betreuer erkannten das Potenzial ihres Schützlings. Silvio Dahme wollte mehr und konnte auch mehr. Deshalb machten seine Betreuer ihm das Angebot, sich auf einem sogenannten Außenarbeitsplatz zu probieren.

Menschen mit Behinderung wollen auf den ersten Arbeitsmarkt
Irena Michel von der Agentur für Arbeit unterstützt Menschen mit Behinderung dabei, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In Werkstätten die eigenen Stärken kennenlernen

Seit 2017 arbeiten die Erfurter Werkstätten des CJD verstärkt daran, ihre Mitarbeiter in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Unterstützung bekommen sie dabei von der Agentur für Arbeit.

Denn noch immer hält sich das Gerücht: Einmal Werkstatt, immer Werkstatt, bestätigt Irena Michel von der Bundesagentur für Arbeit: "Ja, leider ist das manchmal noch so und deswegen ist das ganz wichtig zu zeigen, dass die Werkstätten ja zwei Aufträge haben. Einmal zu schauen, wie kann ich am besten mein Arbeitsleben gestalten, wenn es für mich nicht möglich ist, in einem sogenannten normalen Unternehmen tätig zu sein. Aber viel wichtiger ist, dass es in den Werkstätten Bereiche gibt, die genau darauf ausgerichtet sind, Menschen zu erproben, ihre Stärken kennenzulernen und dann zu schauen, was kann ich draußen in einem normalen Unternehmen tun und das ist die Hauptaufgabe von Werkstätten."

Mich reizt ein bisschen der Druck, dass man hier an seine Grenzen kommt und zu merken: Halte ich dem Druck stand. Es macht auch irgendwie Spaß.

Silvio Dahme Mitarbeiter beim Unternehmen CPI

Inzwischen arbeiten 60 der rund 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erfurter Werkstätten auf einem Außenarbeitsplatz - sei es in Gruppen mit einem Gruppenleiter, zum Beispiel in einer Gärtnerei, oder einzeln in einem Unternehmen, wie Silvio Dahme.

Zwei Mitarbeiter aus Werkstätten bei Unternehmen CPI beschäftigt

Er arbeitet seit fünf Jahren bei CPI. Das Unternehmen hat sich darauf eingelassen und beschäftigt zwei Mitarbeiter aus den Erfurter Werkstätten des CJD. Die Firma CPI druckt Bücher auf Bestellung.

Silvio Dahme ist für die Endabnahme und die richtige Zuordnung der Bücher zu den Lieferscheinen verantwortlich. An der Arbeit reizt ihn, "ein bisschen der Druck, dass man hier an seine Grenzen kommt und zu merken: Halte ich dem Druck stand. Es macht auch irgendwie Spaß.“

Menschen mit Behinderung wollen auf den ersten Arbeitsmarkt
Silvio Dahme ist bei CPI unter anderem für die Endabnahme der Bücher, die das Unternehmen auf Bestellung druckt, zuständig. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Laut Arbeitsagentur ist die Bereitschaft, einen Mitarbeiter mit Behinderung zu beschäftigen, in Thüringen groß. Aber auch die Unternehmen brauchen Unterstützung auf diesem Weg. Der CJD beschäftigt deshalb einen Job-Coach.

Job-Coach kümmert sich um Unternehmen und Mitarbeiter

Job-Coach Thomas Hartung ist das Bindeglied zwischen Unternehmen und Mitarbeiter. Er geht auf die Firmen zu und fragt ab, ob die Möglichkeit besteht einen Mitarbeiter mit Behinderung zu beschäftigen.

Menschen mit Behinderung wollen auf den ersten Arbeitsmarkt
Job-Coach Thomas Hartung betreut Silvio Dahme und das Unternehmen CPI. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

So lange es nötig ist, ist er täglich und ganztags vor Ort, zieht sich dann aber immer weiter zurück. Bei Bedarf ist er allerdings das gesamte Berufsleben Ansprechpartner für Betrieb und Mitarbeiter, auch wenn er von der Firma übernommen wurde. Bei Silvio Dahme ist es nächstes Jahr so weit. Er ist nach fünf Jahren so selbständig und integriert, dass die Firma ihn übernehmen will.

Unterstützung für Arbeitgeber

Sein Arbeitgeber kann dann das sogenannte Budget für Arbeit beantragen. Auch dabei hilft der Job-Coach. Das Budget für Arbeit ist ein Lohnkostenzuschuss bis zu 75 Prozent des regelmäßig gezahlten Arbeitsentgeltes.

Außerdem werden die Kosten für dieselben der Behinderung erforderlichen Anleitung und Begleitung übernommen. Sogar, wenn der Betrieb die Produktionslinie umstellt, bekommt der Mitarbeiter mit Behinderung wieder Hilfe und Einarbeitung durch den Job-Coach, wenn es nötig ist.

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Silvio Dahme und Steve Gemeinhard, Standortleiter des Unternehmens CPI, tauschen sich über die Arbeit aus. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

4.583 Menschen mit Behinderung in Thüringen arbeitslos gemeldet

In Thüringen waren im Oktober 4.583 Menschen mit Behinderung arbeitslos gemeldet. Rund die Hälfte von ihnen ist jünger als 55 Jahre. 73 Prozent haben eine abgeschlossene Ausbildung. 30 Prozent suchen Stellen im Fachkraftbereich. 60 Prozent suchen im Helferbereich.

Wer gern einem Menschen mit Behinderung eine Chance geben will oder Arbeitskräfte braucht, der kann sich zum Beispiel an die Werkstätten für behinderte Menschen wenden. Außerdem hilft der örtliche Integrationsfachdienst oder das für den Standort zuständige Sozialamt.

MDR (co)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 07. November 2023 | 19:00 Uhr

1 Kommentar

Maria A. vor 26 Wochen

Man kann sich vorstellen, wieso. Erstens, weil es da mehr zu verdienen gibt als in den Werkstätten, die der Großteil der Bevölkerung für eine wirklich super Beschäftigungsmöglichkeit hält, zweitens, weil sich viele Beeinträchtigte gar nicht für so beeinträchtigt halten. Wer Erfahrungen hat mit körperlich Beeinträchtigten, der wird letzteres bestätigen. In meiner Abteilung war viele Jahre eine Schwerbehinderte tätig. Ich habe, als es mal einen Beitrag gab zu erkennbar fehlender Bereitschaft von Firmen, Behinderte einzustellen, einen Kommentar zu meinen persönlich gemachten Erfahrungen mit Leistungsbeeinträchtigten abgegeben, der aber nicht veröffentlicht wurde. Jeder kann aber nur das berichten, was er erlebt. Andere können wieder völlig andere Erfahrungen gemacht haben. Somit nur soviel: Jeder Arbeitgeber sollte sich bewusst sein, dass er "normale" Arbeitnehmer, die seinen Erwartungen nicht entsprechen, kündigen kann. Das jedoch bei Schwerbehinderten kaum durchführbar ist.

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