Sowjetischer Kampfhubschrauber von Friedemann Späth fotografiert
Einer der sowjetischen Kampfhubschrauber, den Friedemann Späth bei seiner Flucht über Ostthüringen fotografiert hatte. Sein Ausflug erzeugte ein erhebliches Medieninteresse in West und Ost - und am Ende einen Gerichtsprozess. Bildrechte: MDR/Nachlass Friedemann Späth, Tuttlingen

1983 Sportflugzeug gegen Kampfhubschrauber: Gescheiterter Fluchtversuch aus der DDR

20. Mai 2023, 17:22 Uhr

Pfingstsamstag 1983. Ein Westdeutscher fliegt mit einem Sportflugzeug über die innerdeutsche Grenze, um einer DDR-Bürgerin zur Flucht zu verhelfen. Plötzlich tauchen sowjetische Kampfhubschrauber auf. Eine wilde Verfolgungsjagd zurück Richtung Grenze beginnt. Plötzlich fallen Schüsse. Einschläge gibt es nicht nur im Flugzeug, sondern auch in Ostthüringer Dörfern. Die Aktion zieht Kreise bis zu Erich Honecker.

Samstag, 21. Mai 1983. Der erste Tag eines langen Pfingstwochenendes. In den frühen Morgenstunden macht sich eine junge Frau von Pößneck zu Fuß Richtung Schweinitz auf. Das Dörfchen liegt ein paar Kilometer nördlich der Stadt. Die Pädagogik-Studentin will zu einem Feld abseits des Dörfchens. Hier ist sie verabredet. Ein Flugzeug soll aus dem Westen in die DDR kommen, hier landen, sie abholen und über die Grenze in die Bundesrepublik bringen.

Wie vereinbart steht die junge Frau um 8 Uhr an dem Feld. Etwa 30 Minuten später nähert sich tatsächlich ein orangefarbenes Kleinflugzeug. Die Frau winkt. Das Flugzeug ist in etwa zehn Metern Höhe. Der Pilot fliegt drei, vier Schleifen über die Wiese. Er macht mit der rechten Hand einige unverständliche Zeichen. Dann dreht er plötzlich ab, verschwindet und lässt die junge Frau zurück. Die Frau geht wieder nach Hause. Der Fluchtversuch über den Eisernen Vorhang ist gescheitert.

Piper im Hangar 1 min
Bildrechte: Hessischer Rundfunk

Kleinflugzeug Piper dringt in DDR-Luftraum ein

Wenige Stunden zuvor war auf dem kleinen Flugplatz in Jossa bei Fulda ein Mann, den andere Hobbyflieger als "Herr Wilhelm" kennen, mit einer Piper PA-18 gestartet. Der Zweisitzer, Baujahr 1952, gilt als ziemlich robust. Er benötigt nur kurze Start- und Landeflächen. Sogar auf Graspisten kann das Flugzeug landen.

"Herr Wilhelm" flog zunächst Richtung Südosten, über die Rhön, dann über Franken. Das Wetter war bestens. In der Nähe von Kronach drehte das Flugzeug Richtung Norden und flog in die 35 Kilometer breite "Flugbeschränkungszone" entlang der deutsch-deutschen Grenze ein. Privatflugzeuge dürfen ohne Genehmigung dort nicht fliegen.

Gegen 7:45 Uhr überquerte das kleine Flugzeug die innerdeutsche Grenze. Der Hochdecker, bei dem der Tragflügel über der Rumpfoberkante angebracht ist, überflog in etwa 200 Metern Höhe die Sperranlagen im Schiefergebirge im DDR-Kreis Lobenstein. "Herr Wilhelm" überquerte in diesem Moment nicht nur die Grenze zwischen zwei Staaten, sondern auch die zwischen zwei hochgerüsteten Machtblöcken, die Nahtstelle zwischen NATO und Warschauer Pakt. DDR-Posten beobachteten das Sportflugzeug und lösten Alarm aus.

Die Piper PA-18 im Hangar des Flugplatzes Jossa
Die Piper PA-18 im Hangar des Flugplatzes Jossa Bildrechte: Hessischer Rundfunk

Die Piper flog zunächst ungehindert weiter Richtung Norden. Gegen 8:25 Uhr wurde das orangefarbene Flugzeug über der damaligen Kreisstadt Pößneck - mehr als 40 Kilometer tief in der DDR - beobachtet. Wenig später drehte das Flugzeug Richtung Süden ab und flog wenige Kilometer bis zu den Dörfern Moxa und Schmorda. Von dort flog es wieder nach Norden und zog einen Bogen von Kahla über Stadtroda bis Neustadt an der Orla. Um den markanten Adolf-Elle-Turm auf dem Kesselberg drehte das Flugzeug angeblich eine Runde. "Herr Wilhelm" schien unbekümmert.

Die Collage zeigt das Logo des Halleschen FC, der Bundesliga und drei Mal Norbert Nachtweih in den Trikots von Eintracht Frankfurt und Bayern München. 52 min
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Kampfhubschrauber nehmen Verfolgung auf

Gegen 8:40 Uhr entdeckte der Pilot eines Agrarflugzeuges, der bei Wilhelmsdorf Düngemittel ausbringen wollte, das Sportflugzeug. Der Pilot informierte per Funk seinen Stationsmechaniker und nahm mit seiner Z-37 die Verfolgung auf. Er wollte wissen, was für ein unbekanntes Flugzeug in der Nähe der Grenze kreiste.

Der Pilot der Piper versuchte nun Richtung Süden, Richtung Bundesrepublik, zu entkommen. In der Nähe von Remptendorf war der wachsame Agrarflieger auf 200 Meter an dem Sportflugzeug dran. Beide flogen parallel. Und sie waren nicht mehr allein: Inzwischen hatte das Sportflugzeug weitere Verfolger. Zwei alarmierte sowjetische Kampfhubschrauber waren überraschend aufgetaucht. Der eine Hubschrauber mit dem roten Stern war in Nohra bei Weimar stationiert, der andere in Stelzen im Vogtland. Als der Agrarflieger seitlich über sich einen der Hubschrauber bemerkte, drehte er ab. Das war nun nicht mehr sein Job.

Er konnte noch beobachten, wie der Hubschrauber versuchte, dem Sportflugzeug den Flugweg zu versperren. Als das nicht gelang, schossen die Hubschrauber Signalraketen ab, um den Eindringling zur Landung zu zwingen. Aber der Pilot mit der dunklen Sonnenbrille reagierte nicht. Zumindest nicht im Sinne der Hubschrauberpiloten. Er wackelte lediglich mit den Tragflächen und gab Gas. Ein Wettlauf Richtung Grenze begann.

Während der Verfolgungjagd fotografiert Späth einen sowjetischen Kampfhubschrauber
Während der Verfolgungjagd fotografiert Späth einen sowjetischen Kampfhubschrauber Bildrechte: MDR/Nachlass Friedemann Späth, Tuttlingen

Und während der Hubschrauber einen neuen Anflug vorbereitete, habe ich hinter mich nach der Kamera gegriffen und das Ding mit schweißnassen Händen photographiert.

Friedemann Späth in einem Interview

Immer wieder versuchten die Hubschrauber, dem kleinen Flugzeug den Weg zu versperren. Der Pilot ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Stattdessen "bedrohte" er mit seinem Sportflugzeug, wie es in einem späteren geheimen Bericht an die Partei- und Staatsführung hieß, "durch direkten Anflug beide Kampfhubschrauber". Und weiter: Er "versuchte, sich durch gefährliche Flugmanöver (bis auf drei bis fünf Meter Höhe, vertikal und horizontal fliegend) der weiteren Verfolgung zu entziehen." Über dem Thüringer Schiefergebirge kam es zu einer wilden Verfolgungsjagd.

Wilde Flugmanöver über bewohntem Gebiet

Die sowjetischen Piloten zeigten sich später beeindruckt. Sie gaben zu Protokoll: "Pilot des Sportflugzeuges scheint erfahren zu sein, kennt die Schwächen der Hubschrauber, brachte sie in Gefahr, indem er sich kurz über den Rotor setzte. Er unterflog Hochspannungsleitungen und befand sich mehrfach in einem extremen Tiefflug (3-5m)." Die Flugmanöver, so die Piloten, wurden mit "äußerster Risikobereitschaft" geführt.

Die sowjetischen Hubschrauberpiloten standen mit ihrem Stab in Kontakt. Von dort kam schließlich der Befehl, das Flugzeug "manövrierunfähig zu schießen". Das war gar nicht so leicht, denn die Piper flog äußerst tief und überflog außerdem immer wieder bewohntes Gebiet.

Kein nervöses Verhalten, auch bei Beschuss nicht.

aus dem Protokoll der Kampfhubschrauber-Piloten

Um die Landung zu erzwingen, schossen beide Hubschrauber mit ihren Bordwaffen schließlich eine "Garbe Sperrfeuer" ab. Doch der Pilot des Sportflugzeuges reagierte weiterhin nicht. Nun nahm einer der Hubschrauberpiloten, nachdem das Städtchen Wurzbach überflogen war, die Maschine ins Visier. Bis zur deutsch-deutschen Grenze waren es nur noch wenige Kilometer.

Jetzt wurde gezielt auf die Piper geschossen. Aber: "Dem Beschuss bot er [der Pilot] wenig Angriffsfläche, indem er vertikal und horizontal flog." Einige der elf Garben trafen schließlich Rumpf und Tragflächen des Flugzeuges. Trotz der Treffer blieb der Pilot äußerlich cool. Die Kampfpiloten registrierten "kein nervöses Verhalten, auch bei Beschuss nicht".

Die beiden sowjetischen Piloten berichteten: "Der Hauptkampf" habe in der Nähe von Rodacherbrunn, südlich von Wurzbach, wenige Kilometer vor der deutsch-deutschen Grenze stattgefunden. Der Eindringling wurde nicht nur mit einem Schweren Maschinengewehr angegriffen. Ein Hubschrauber versuchte zudem, das Sportflugzeug nach unten zu drücken. "Das Flugzeug", so berichteten die sowjetischen Piloten, "wurde bis auf 3 m über den Erdboden gedrückt, konnte jedoch nicht zur Landung gezwungen werden." Das Ruder des Flugzeuges wurde allerdings beschädigt, als eine Mi dort aufsetzte.

Im internen Bericht an die SED-Führung hieß es: "Trotz dieser Beschädigungen setzte der Pilot den Flug fort und überquerte gegen 8:51 Uhr im Raum Wurzbach mit dem Sportflugzeug im Tiefflug die Staatsgrenze der DDR in Richtung Carlsgrün/BRD."

Der Pilot des Sportflugzeuges war nun in Sicherheit. Er flog über Franken zurück zum hessischen Flugplatz Fulda-Jossa. Nach der Landung verließ er den Flugplatz. Auf dem Flugplatz blieb die Piper mit mehreren Einschusslöchern zurück. Auch in der DDR blieben Einschusslöcher zurück. In Lichtenbrunn und Neundorf wurde jeweils ein Gebäude durch sowjetische Geschosse beschädigt.

In Lichtenbrunn drang ein Geschoss durch die Tür eines Wohnhauses in den Hausflur ein. Drei Menschen waren in der Nähe - kamen aber mit dem Schrecken davon. Das Geschoss wurde von der Staatssicherheit sichergestellt. Ein zweites Geschoss traf in Lichtenbrunn eine Scheune, ohne Schäden zu hinterlassen. Nach Augenzeugenberichten schlugen auch drei Geschosse in den Dorfteich ein. In Neundorf traf ein Geschoss den Brandgiebel eines Hauses.

Insgesamt sei, so meldete es die Staatssicherheit, ein Schaden von 700 Mark entstanden. "Seitens der örtlichen Partei- und Staatsorgane wurden Maßnahmen eingeleitet, um kurzfristig die materiellen Schäden zu beseitigen." Und: "Mit den betroffenen Bürgern wurden Aussprachen geführt." Außerdem wurden in den Dörfern Agitatoren eingesetzt und Einwohnerversammlungen durchgeführt.

Luftkampf wurde zur Chefsache: Erich Honecker wird informiert

Der Zwischenfall im Süden der DDR wurde umgehend zur Chefsache. Noch am Tag des Geschehens informierte NVA-Generaloberst Fritz Streletz Erich Honecker. Der SED-Generalsekretär war schließlich auch Vorsitzender des DDR-Verteidigungsrates.

Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wurden noch am Pfingstwochenende die Ermittlungen aufgenommen. Wer saß in dem Flugzeug? Welchen Zweck hatte der Flug? Und gegen welche Gesetze und Vorschriften wurde verstoßen? Gemeinsame Ermittlungen der beiden Staaten gab es nicht. Es herrschte Kalter Krieg. Beide Seiten standen sich feindselig gegenüber. Und so wurde auch der Zwischenfall mit unterschiedlichen Blickwinkeln unter die Lupe genommen. Für die DDR war es vor allem wichtig zu wissen, ob das Flugzeug auf DDR-Gebiet zwischengelandet war? Ging es um Fluchthilfe?

Es war während des gesamten Gesprächs zu merken, dass die Piloten der Hubschrauber sehr niedergeschlagen und enttäuscht waren, das Luftziel nicht erfolgreich bekämpft zu haben.

aus dem Bericht der Staatssicherheit

In der DDR war selbstverständlich die Staatssicherheit bei den Ermittlungen federführend. Sofort wurde eine Akte angelegt, um den Zwischenfall aufzuklären. Ausreisewillige Bürger wurden überprüft. Die Ermittler sprachen noch in der Nacht mit den beiden sowjetischen Hubschrauberpiloten, die in Nohra bei Weimar stationiert waren. Die Ermittler von der Staatssicherheit notierten: "Es war während des gesamten Gesprächs zu merken, dass die Piloten der Hubschrauber sehr niedergeschlagen und enttäuscht waren, das Luftziel nicht erfolgreich bekämpft zu haben."

Seit 8:25 Uhr war das Flugzeug ständig in der Luft beobachtet worden. Was aber war aber in der Zeit davor passiert? Zwar gebe es keinen Hinweis auf eine Landung, so die Staatssicherheit, aber ausgeschlossen sei sie auch nicht. Durch die Geländebedingungen im Schiefergebirge sei es der Luftverteidigung nur zeitweise möglich gewesen, den "Luftraumverletzer" "funkmäßig" zu erfassen.

Warum die Staatssicherheit bald Späth als Piloten vermutet

Einen Tag nach dem Zwischenfall lag Staatssicherheits-Minister Erich Mielke und der Spitze seines Ministeriums eine detaillierte "Erstinformation" vor. Das Papier basierte auf Erkenntnissen der Staatssicherheit, der Nationalen Volksarmee, der Polizei und der Militärabwehr der sowjetischen Streitkräfte.

Darin wurde die Luftraumverletzung beschrieben und vermutet, dass Friedemann Späth am Steuerknüppel des Sportflugzeuges gesessen habe. Der Verdacht wurde vor allem mit Späths bisherigen Aktivitäten begründet. Bei der Staatssicherheit war er kein unbeschriebenes Blatt. Seit 1979 wurde gegen ihn wegen Terror und ungesetzlichem Grenzübertritt ermittelt. Späth hatte immer wieder die deutsch-deutsche Grenze überflogen und war in Fluchthilfe-Aktionen verwickelt gewesen.

Fünf Tage nach dem Zwischenfall wurde die Besatzung des zweiten, in Stelzen gestarteten sowjetischen Kampfhubschraubers von der Staatssicherheit befragt. Auch diese drei Sowjetsoldaten beschrieben die riskanten Flugmanöver Späths. Fünf Tage nach der "provokatorischen Verletzung des Luftraumes der DDR" konnte die Staatssicherheit der Staats- und Parteiführung einen ersten ausführlichen Bericht vorlegen. Die Ermittler hatten den Grund des Fluges herausgefunden: die "Ausschleusung einer Bürgerin der DDR".

Wer ist "Herr Wilhelm"?

Am Vormittag des 21. Mai wurde auf dem Flugplatz im hessischen Jossa die Piper mit Durchschüssen entdeckt. Umgehend wurden die Behörden informiert. Schnell stand fest: Das Flugzeug war außerhalb der Öffnungszeiten des Flugplatzes von "Herrn Wilhelm" gestartet und gelandet worden. Eine Genehmigung dafür lag nicht vor.

Zur gleichen Zeit herrschte im Münchner Lagezentrum des Innenministeriums wochenendliche Ruhe, bis am Nachmittag die Grenzpolizei-Inspektionen aus dem Norden des Freistaates Fernschreiben schickten und über eine "Luftraumverletzung Ost/West" informierten. Über den Verbleib des Flugzeuges sei bisher nichts bekannt.

Der Vorfall sei von verschiedenen "zuverlässigen Personen" unabhängig voneinander beobachtet worden. Die Zeugen hätten das Kennzeichen des Flugzeuges erkannt und einen Insassen wahrgenommen. Da das Kennzeichen erkannt worden war, konnte das Flugzeug schließlich in Jossa gefunden werden. Die bundesdeutschen Ermittlungen konzentrierten sich zunächst darauf, herauszubekommen, wer das Flugzeug eigentlich geflogen hatte und wem es überhaupt gehörte. Außerdem wurden Zeugen gesucht und nach ihren Beobachtungen im thüringisch-fränkischen Grenzgebiet befragt.

Gleichzeitig nahmen Beamte des Grenzschutzes das Flugzeug in Augenschein. Die Maschine stand in der hinteren Ecke des Hangars. Die Einstiegsluke war angelehnt, nicht verriegelt. Die Grenzschützer registrierten, so heißt es in einem abendlichen Fernschreiben an das Bonner Innenministerium, sechs "Beschädigungen, vermutl. durch Schusswaffengebrauch verursacht". Die Einschüsse und zwei Ausschüsse wurden fotografiert. Das Flugzeug wurde mit einem Stahlseil an einer Verstrebung des Hangars befestigt und amtlich versiegelt.

Drei Tage nach dem Zwischenfall waren den bundesdeutschen Sicherheitsbehörden immer noch viele Dinge unklar. Doch am Nachmittag des 24. Mai konnten die hessischen Ermittler einen Erfolg melden: Der Pilot der beschossenen Maschine war identifiziert. Nachdem es Hinweise auf Friedemann Späth gegeben hatte, hatten die Ermittler mehreren Zeugen Fotos vorgelegt. Friedemann Späth wurde "einwandfrei identifiziert". Allerdings war sein "derzeitiger Aufenthalt unbekannt."

Die Vergangenheit des Piloten

Tatsächlich hatte Friedemann Späth, der mit 24 Jahren seinen Flugschein gemacht hatte und in Jossa als "Herr Wilhelm" bekannt war, bereits einiges auf dem Kerbholz. Seine Straftaten hatten immer etwas mit Flugzeugen zu tun. Seine Leidenschaft für Tiefflüge war ihm erstmals im Oktober 1968 zum Verhängnis geworden, als seine Maschine beim Überfliegen einer Wandergruppe ein elfjähriges Mädchen am Kopf berührte, das wenig später starb. Von einem Gericht wurde Späth deshalb zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Einen Freigang aus dem Gefängnis nutzte der "Luft-Rowdy", so die Boulevardpresse, um eine Piper PA-18 zu entwenden. Mit ihr flog er 1970 bei dichtem Nebel über die scharf bewachte innerdeutsche Grenze in die DDR. Er landete schließlich nach fast 200 Kilometern Flug - unentdeckt von Radar und Abfangjägern - bei Bahrendorf im Kreis Wanzleben (Bezirk Magdeburg). Dort meldete sich Späth, so berichtete er es später, bei der überraschten, aber auch misstrauischen Volkspolizei.

Späth wurde in der DDR nicht mit offenen Armen als West-Ost-Flüchtling aufgenommen, sondern wanderte sofort wieder ins Gefängnis. Dort vernahm ihn die Staatssicherheit. Ende November 1970 wurde der entflohene Häftling in Ost-Berlin zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Anfang November 1972 wurde er bei einer Amnestie in die Bundesrepublik entlassen. Dort ging es erneut ins Gefängnis: Der Ex-DDR-Häftling musste seine Reststrafe absitzen.

Anschließend begann Späth einen Privatkrieg gegen die DDR. In den darauffolgenden Jahren kehrte er immer wieder dorthin zurück - als Fluchthelfer per Flugzeug. Eine Fluglizenz hatte Späth nicht mehr. Im Sommer 1977 kaufte Späth die Maschine mit dem Kennzeichen D-EHCK, die sechs Jahre später von den sowjetischen Hubschraubern angegriffen werden sollte.

Schon 1977 ging es mit der ersten Fluchthilfe-Aktion los. Er starte vom dänischen Bornholm und flog im Tiefflug über die Ostsee nach Polen und von dort in die DDR ein. Er hatte den Auftrag einer geflüchteten DDR-Bürgerin, ihre siebenjährige Tochter, die bei der Großmutter in Klein-Behnitz bei Potsdam lebte, in den Westen nachzuholen. Allerdings musste er unverrichteter Dinge zurückfliegen - vollkommen unentdeckt.

700 Flugkilometer hatte er im Luftraum des Ost-Blocks zurückgelegt. In der Bundesrepublik wartete bereits die Polizei auf Späth. Das Landgericht Kassel verurteilte ihn in zweiter Instanz wegen "fortgesetzter unbefugter Führung eines Luftfahrzeuges" zu sechs Monaten Haft auf Bewährung. Außerdem wurde der Verurteilte verpflichtet, seine Piper innerhalb von zwei Monaten zu verkaufen.

Späths "DDR-Abenteuer" wurden 1978 vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" in einer ausführlichen Artikelserie unter der Überschrift "Ich komme wieder, Genossen" ausführlich beschrieben. Der unbemerkte Flug über die DDR, die Landung und dann auch noch die "Spiegel"- Serie müssen für die DDR eine ungeheure Provokation gewesen sein. Sie wurde nicht nur von einem Hobbypiloten vorgeführt, sondern die DDR-Luftverteidigung wurde auch vor der westlichen Welt als unfähig bloßgestellt.

Obwohl Späth nun im Visier der DDR war und er sein Flugzeug verkaufen musste, betrieb er seine Fluchthilfe-Aktionen weiter - natürlich per Flugzeug. Er hatte einen Gönner gefunden, der die Maschine übernommen hatte. Am frühen Morgen des 3. Juli 1982 flog Späth von Oberfranken in die ČSSR, um von dort tatsächlich zwei DDR-Bürger auszufliegen.

Die gescheiterte Flucht

Im Zuge ihrer Ermittlungen zu dem Luftzwischenfall über Ostthüringen nahm die DDR-Staatssicherheit am 25. Mai eine junge Frau aus Pößneck ins Visier. Sie wurde zunächst "zugeführt" und befragt. Die Studentin gestand bereits bei ihrer ersten Vernehmung, dass sie von dem Flug vorab gewusst habe und "in die BRD ausgeschleust werden sollte".

Gegen die Frau wurde jetzt wegen ungesetzlichem Grenzübertritt ermittelt und vom Kreisgericht Gera Haftbefehl erlassen. Zu Späths bereits laufenden Ermittlungsverfahren kam nun noch "staatsfeindlicher Menschenhandel" dazu. Wie die Staatssicherheit der Frau auf die Spur gekommen war, geht aus den vorliegenden Akten nicht eindeutig hervor. Möglicherweise hatte die Identifizierung Späths dazu beigetragen.

Intern schätzte die Staatssicherheit die Beweislage gegen die junge Frau als "gut" ein. Sie war die Tochter von Späths Gönner. Zu den Beweisen zählten unter anderem "Veröffentlichungen in westlichen Massenmedien", die Späth als Pilot nannten. Die Staatssicherheit wollte der jungen Frau nicht nur "Republikflucht" nachweisen, sondern auch "staatsfeindliche Agententätigkeit". Gleichzeitig versuchte die Staatssicherheit, Späths frühere Fluchthilfe-Aktivitäten aufzuklären. Anfang Juni wurde Minister Mielke darüber informiert, dass es mit Hilfe einer "operativen Kombination" gelungen sei, den "strafprozessualen Beweis" zu erbringen, dass Späth 1982 in die ČSSR geflogen sei, um zwei DDR-Bürger auszufliegen.

Flug über Grenze erzeugt großes Presse-Echo in der Bundesrepublik

Der Flug des Privatflugzeuges in die DDR und der Beschuss machten in der Bundesrepublik Schlagzeilen - allerdings mit etwas Verzögerung, da am Pfingstwochenende keine Zeitungen erscheinen. Noch am Abend des 21. Mai meldeten die Nachrichtenagenturen, dass ein bundesdeutsches Sportflugzeug über der DDR von zwei Hubschraubern beschossen worden sei. Sie beriefen sich dabei auf einen Sprecher des Bundesgrenzschutzes (BGS) in Kassel.

Der Sportpilot habe "offenbar aufgrund eines Navigationsfehlers" die deutsch-deutsche Grenze überflogen, hieß es zunächst. Nach Aussage des BGS-Sprechers war der Pilot unverletzt. Der unbekannte Mann sei allerdings flüchtig. Die Kriminalpolizei habe das Flugzeug sichergestellt und versiegelt. Das Luftfahrtbundesamt sei in die Ermittlungen eingeschaltet worden.

In den kommenden Tagen wurde in der bundesdeutschen Presse über ein gescheitertes Fluchthilfeunternehmen spekuliert. Am Nachmittag des 24. Mai meldete die Nachrichtenagentur DPA, dass der Pilot und der Eigner des beschossenen Flugzeuges ausfindig gemacht worden seien. Beide Männer, so die ermittelnde Staatsanwaltschaft Fulda, seien aber noch nicht erreicht und deshalb auch noch nicht angehört worden. Wer die Männer sind, wollte die Staatsanwaltschaft nicht öffentlich sagen. "Die möglicherweise zu erhebenden Strafvorwürfe", so die Behörde, rechtfertigten noch keine Veröffentlichung der beiden Namen. Die Nachrichtenagentur sprach von einem "mysteriösen 'Pfingstausflug'".

Wenige Stunden später ergänzte DPA die ausführliche Meldung. Nach Informationen der "Bild"-Zeitung, so die Nachrichtenagentur, soll es sich bei dem gesuchten Piloten um den 43-jährigen Friedemann Späth handeln. Sieben Zeugen hätten ihn nach Fotos identifiziert. Die "Bild" listete außerdem Späths Sündenregister auf. Laut Agentur AP ist Späth in Fliegerkreisen als "Luft-Rowdy" bekannt.

Am Abend berichtete im Fernsehen die "Hessenschau" über den Zwischenfall. In dem kurzen Film wurde das beschossene Flugzeug im Hangar des Flugplatzes Jossa gezeigt. In dem Beitrag wurde Friedemann Späth als Pilot genannt. Er sei anhand von Fotos und Fingerabdrücken identifiziert worden. Auch die "Tagesschau" berichtete über den aktuellen Stand bei den Untersuchungen.

Sprecherin Dagmar Berghoff verlas vor einer Landkarte des geteilten Deutschlands die Meldung, dass die "Fuldaer Behörden" einen Schritt vorangekommen seien. Der Pilot und der Eigentümer der Sportmaschine seien nun bekannt. Die Namen würden aber "zurückgehalten". Dann wechselte das Bild hinter der Nachrichtensprecherin und statt der Karte war nun ein altes Schwarzweiß-Foto von Späth mit seinem vollen Namen zu sehen. Dann wurde ein Film eingespielt. Zu sehen war das im Jossaer Hangar abgestellte Flugzeug. In Nahaufnahme wurden die Einschüsse an der Piper gezeigt.

Dagmar Berghoff
Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff am 24. Mai 1983 Bildrechte: NDR

Auf DDR-Seite wurden die Pressemeldungen in der Bundesrepublik aufmerksam gelesen. Das Fazit der Staatssicherheit: Aus den Berichten gehe hervor, "dass keine Bereitschaft besteht, gegen derartige Provokationen wirksam einzuschreiten und Vorkehrungen zu treffen, dass sich derartiges nicht wiederholt." Und: "Es wird der Versuch unternommen, diese gefährliche Provokation mit subjektivem Fehlverhalten des Piloten bzw. einem Navigationsfehler zu bemänteln."

Außerdem gebe es erste Bestrebungen, den Zwischenfall dazu zu nutzen, um "die DDR international zu verleumden." Als die Staatssicherheit in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen musste, dass der DDR ein "Eingriff in das Luftfeld der Bundesrepublik" unterstellt und den Piloten der Kampfhubschrauber Strafverfolgung wegen "versuchten Totschlags" angedroht werde, sprach sie von einer "Unverfrorenheit".

Beim Presse-Echo in der DDR einige Tatsachen verhüllt

Verschweigen wollte die DDR den Zwischenfall keinesfalls. Sie versuchte, den Vorfall zu nutzen, um die Bundesregierung zu verurteilen und die internationale Meinung gegen den Westen zu beeinflussen. In der Pressemeldung wurden allerdings einige Tatsachen verschwiegen oder verhüllt.

Die DDR betrachtete den Zwischenfall vordergründig als westliche Provokation. Ein bundesdeutsches Flugzeug mit dem Kennzeichen "D-EHCK-48" sei "widerrechtlich in den Luftraum der DDR" eingedrungen, hieß es. "Trotz eindeutiger Signalgebung durch die eingesetzten Kräfte der Luftverteidigung mit der Aufforderung zur Landung setzte der Luftraumverletzer den Flug über das Territorium der DDR in provokatorischer Weise fort." Aufforderungen zur Landung sei er nicht nachgekommen.

"Nur dem besonnenen Handeln der für die Sicherung des Luftraumes der DDR verantwortliche Kräfte ist es zu verdanken, dass es im Ergebnis dieser erneuten Luftraumverletzung zu keinen schwerwiegenden Folgen kam." Von sowjetischen Hubschraubern, Schüssen und Einschlägen in Gebäuden war in der Meldung keine Rede. Anwohner oder Augenzeugen kamen nicht zu Wort - Fotos wurden nicht veröffentlicht. Mit der offiziellen Nennung des Kennzeichens durch die DDR konnte es im Westen keinen Zweifel mehr geben, wo die zerschossene Piper aus Fulda-Jossa gewesen war.

Ausschnitt Neues Deutschland 1983 Luftkampf Späth
Ausschnitt aus "Neues Deutschland" vom 24. Mai 1983 Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Verfolgungsjagd führt zu diplomatischen Protesten

Am Abend des Pfingstsonntages betrat Hans Schindler das Bundeskanzleramt. Schindler war der stellvertretende Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn. Der Diplomat hatte den Auftrag, bei der Bundesregierung gegen den Luftzwischenfall zu protestieren. Das traf sich, denn auch die Bundesrepublik sah Gesprächsbedarf und hatte deshalb einen DDR-Vertreter ins Kanzleramt gebeten.

Im Kanzleramt wurde Schindler von Peter-Christian Germelmann empfangen. Der Beamte hörte sich den "entschiedenen" Protest Schindlers an - und, so steht es im DDR-Bericht über die Begegnung, protestierte seinerseits, "dass die DDR angeblich unter Missachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch gezielte Schüsse auf das Flugzeug Menschenleben gefährdet habe." Germelmann, so berichtete die DDR-Seite, habe behauptet, dass zwei DDR-Hubschrauber "100 m in den BRD-Luftraum eingedrungen seien". "Genosse Schindler wies die von BRD-Seite gegebene Darstellung und den Protest entschieden zurück."

Germelmann notierte in seinem Vermerk, dass er dem DDR-Vertreter gesagt habe: "Jeder wisse, wie wichtig es sei, an der Grenze zwischen den beiden Staaten in Deutschland besonnen und angemessen zu reagieren. An kaum einer anderen Stelle sei die Gefahr so groß, dass aus scheinbar kleinen Anlässen unabsehbare Folgen entstehen. Es sei kaum auszudenken, welche Folgen es gehabt hätte, wenn das Flugzeug abgestürzt wäre." Die bundesdeutsche Seite erwarte, "dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden". Möglicherweise kämen Schadensersatzansprüche auf die DDR zu.

Was bundesdeutsche Ermittlungen ergaben

Die Bayerische Grenzpolizei sammelte Informationen über den Zwischenfall. So gewannen die bundesdeutschen Behörden allmählich ein Bild von den Vorgängen und auch den Schäden in der DDR. Sie war auf Zeugen angewiesen, da sie nicht selbst in der DDR ermitteln konnte. So wurde den Beamten "vertraulich" bekannt, dass in der Ortschaft Lichtenbrunn mehrere Geschosse in Häuserwänden eingeschlagen seien: "Dabei wurde ein Kaninchenstall getroffen und ein Kaninchen getötet."

Anfang Juni war ein Rentner aus Nürnberg zum Verwandtschaftsbesuch in Pößneck. Bei seiner Rückreise in die Bundesrepublik wurde der 70-Jährige am Grenzübergang Rudolphstein befragt. Der Rückkehrer berichtete der Grenzpolizei, dass ihm seine Verwandten erzählt hätten, dass mit dem Sportflugzeug eine Frau aus der DDR ausgeflogen werden sollte. Das Alter und die Identität der Frau kenne er nicht.

"Die fluchtwillige Frau", so der Rentner, "soll aus einem Haus von mehreren verstreut liegenden Häusern zwischen Pößneck und Schweinitz stammen." Sie habe auf einer Wiese im Orlatal auf das Flugzeug gewartet. Der Pilot habe die Wiese angeflogen, "sah, dass etwas nicht stimmen könne und zog die Maschine wieder durch". Denn inzwischen seien vier Hubschrauber gekommen, die versucht hätten, die Maschine einzukreisen. "Die Fluchthilfe", so der Rentner, "sei entweder verraten worden oder das Luftfahrzeug wurde bereits beim Einfliegen in DDR-Gebiet radarerfasst." Die DDR-Kriminalpolizei sei jedenfalls schnell an der Wiese gewesen und habe die fluchtwillige Frau verhaftet.

Die Hinweise auf die Frau sind die einzigen in einer bundesdeutschen Akte. Es ist unklar, wie diese Informationen bewertet wurden und ob sie überhaupt Anlass für weitere Recherchen waren. Oder ob diese Informationen wie alle weiteren Informationen lediglich gesammelt und abgeheftet wurden.

Späth zeigte sich bei den Ermittlungen keinesfalls kooperativ. Bei einem ersten Kontaktversuch der Polizei gab er nur "ausweichende" Antworten. Ein Alibi hatte er nicht. Anfang Juli wurde Späths Wohnung durchsucht. Im Schlafzimmerschrank wurden die Beamten fündig. Sie entdeckten DDR-Landkarten und einige Aktenordner: Schriftverkehr zum Flugzeug und "Interessentenbriefe". Späth legte in der anschließenden Vernehmung gegen die Beschlagnahme der Dokumente Widerspruch ein: "Es handelt sich hierbei um teilweise hochbrisante Unterlagen. Sollten diese in falsche Hände geraten, könnten einige Personen gefährdet sein, ich verweise hierbei auf den Ordner mit der Aufschrift ‚Interessentenbriefe‘." Er kam damit nicht durch. Die Beschlagnahme der Karten und Dokumente wurde wenig später vom Amtsgericht bestätigt.

West-Staatsanwaltschaft klagt Späth an

Zweieinhalb Monate nach Späths DDR-Flug erhob die Staatsanwaltschaft Fulda Anklage. Späth sollte sich nicht nur wegen seines Fluges am Pfingstwochenende verantworten, sondern auch wegen vorangegangener Fälle: Ihm wurde fortgesetztes Führen eines Luftfahrzeuges ohne Flugerlaubnis in rund zehn Fällen, zwei davon in Tateinheit mit Einfliegen in die luftüberwachte Zone entlang der innerdeutschen Grenze, vorgeworfen.

In der Anklageschrift hieß es zwar, dass Späth kommerzielle Fluchthilfe betreibe. Aber zu den Hintergründen des Fluges am Pfingstwochenende schwiegen die Ermittler. Sie schrieben lediglich: Späth sei an dem Samstag "mit unbekanntem Ziel und unbekanntem Auftrag" gestartet. Waren die Ermittler tatsächlich so ahnungslos? Oder ließen sie ganz bewusst den Hintergrund im Dunklen, um der DDR keine Hinweise zu liefern?

Aus den Akten geht jedenfalls nicht hervor, ob die bundesdeutschen Behörden über die gescheiterte Flucht und vor allem über das Schicksal der jungen Frau aus Pößneck informiert waren. Späth hatte sich jedenfalls nicht zur Sache geäußert.

Späth im "Spiegel"-Interview

Kurz vor dem Prozess erschien im "Spiegel" erneut eine große Story über Späth. Allein sechs Seiten wurden für die Geschichte von den "inzwischen ideologisch verbrämten Ostlandflügen" freigeräumt. Dazu kam noch ein Interview mit Späth über zwei weitere Seiten. In dem Text wurde Späth als "fliegender Fluchthelfer" und "Hasardeur" vorgestellt, der einen "Privatkrieg gegen die DDR" führe.

Ausführlich schilderte Späth die Verfolgungsjagd über Ostthüringen: "Plötzlich höre ich über mir ein Rauschen und sehe einen riesigen Hubschrauber, ungefähr 50 bis 60 Meter über mir. Ein riesiges Ding mit militärischem Tarnanstrich und einem roten fünfzackigen Stern an der Seite. Ich bin furchtbar erschrocken, aber irgendwie habe ich mich wieder gefangen und gedacht: Cool bleiben, gar nicht reagieren. Der macht vielleicht einen Patrouillenflug, der weiß doch gar nicht, wer ich bin. Aber dann ist der eingeschwenkt und mit ungefähr 30, 40 Meter Sicherheitsabstand an mir vorbei. Deutlich habe ich Ausleger für Raketen gesehen und nach vorne heraus Maschinengewehrläufe. Das hat mich total gelähmt. […] Als er merkte, dass ich ihm nicht folgte, kam er zurück und flog ganz dicht über mich rüber. Dabei hat es mich furchtbar geschüttelt durch die Böen der Rotoren. Dadurch kamen bei mir die Lebensgeister wieder, und ich habe mir gesagt: Der macht dich fertig, ein Entkommen gibt es gar nicht, aber lebend kriegen die mich nicht. Und während der Hubschrauber einen neuen Anflug vorbereitete, habe ich hinter mich nach der Kamera gegriffen und das Ding mit schweißnassen Händen photographiert. Ich konnte ja meine Lage weder verbessern noch verschlechtern, und falls ich durchkommen sollte, ärgere ich mich nachher grün und blau, wenn ich keine Photos habe. Dabei entdeckte ich plötzlich einen weiteren Hubschrauber neben mir. In dem Moment habe ich eine Kamikaze-Einstellung gekriegt: Die machen dich so und so fertig, aber bevor das geschieht, fliege ich in den einen rein, und dann liegen wir beide unten. Also habe ich meine Maschine hochgerissen und sie dann so abgekippt, dass die rechte Tragfläche den Rotorblättern bedrohlich nahekam. Da hat der seinen Hubschrauber sofort nach oben weggezogen und bestimmt gedacht: Der Bursche ist bekloppt, ein Selbstmörder, der bringt uns alle um. […]

Friedemann Späth, seine Piper und sowjetische Kampfhubschrauber
Späth zeigt an der beschlagnahmten Piper die Treffer. Bildrechte: MDR/Nachlass Friedemann Späth, Tuttlingen

Aber dann kamen weite freie Felder, wo ich den Hubschraubern total wehrlos ausgeliefert war. Da habe ich eine Hochspannungsleitung gesehen und bin runter, unten durchgeflogen und dann nach einigen Masten auf die andere Seite. Das haben sich die Hubschrauber natürlich nicht getraut, sondern die sind seitlich in respektvollem Abstand geblieben. Plötzlich höre ich ‚rätsch, rätsch, rätsch‘ und sehe über dem dunklen Wald Leuchtspurgeschosse, drei oder vier Bahnen, genau parallel. Wo die mich getroffen haben, bemerkte ich allerdings nicht, das ist wahrscheinlich durch die stoffbespannte Tragfläche durchgegangen wie durch Butter. Diese Schießerei hat dann die ganze Zeit in unregelmäßigen Abständen angehalten, aber irgendwann habe ich in mehreren Kilometern Entfernung die Grenzanlagen gesehen. Kurz vor der Grenze war eine Ortschaft, und da bin ich haarscharf über die Dächer. Danach kam der Doppelzaun, und wie ich da rüberfliege, sehe ich, dass der eine Hubschrauberpilot seinen Kasten plötzlich ganz brutal rumreißt und noch vor dem Metallgitterzaun die Grenze entlang fliegt. Der hatte einen Heidenrespekt vor dem Nato-Bereich."

In dem Artikel machte sich Späth auch Gedanken, weshalb sein Flug entdeckt wurde. "Da kann Verrat im Spiel gewesen sein", sagte er dem Magazin. Näher begründete Späth seine Vermutung nicht. Im anschließenden Interview beschrieb Späth ("Ich bin Anarchist.") seine Motivation für sein Fluchthilfeunternehmen: Es sei ihm zu einem Bedürfnis geworden, "gegen diesen Staat vorzugehen und die Unfreiheit seiner Bürger mit abbauen zu helfen".

Ungläubig fragte der "Spiegel"-Journalist nach: "Sie wollen Ihren privaten Rachefeldzug, den Sie mit kriminellen Methoden führen, allen Ernstes als patriotische Tat ausgeben?" Späths Antwort: Dies sei "ein Privatkrieg in Friedenszeiten". Er wolle der DDR schaden. Aber andere Leute dürften dabei nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Späth wies den Vorwurf, er sei ein Luft-Rowdy, weit von sich. Auf die Frage "Ist es nicht eher so, dass Sie den Nervenkitzel brauchen wie ein Süchtiger seine Droge?" antwortete Späth: "Ich würde eher sagen, es ist ein Fetisch, der mich ganz und gar erfüllt."

Späth mit Starverteidiger beim Prozess

Letztendlich fand der Prozess gegen Späth im Dezember 1983 vor dem Amtsgericht Fulda statt. Zum Auftakt gab Späths Verteidiger Rolf Bossi eine Erklärung ab: Sein Mandant, so der Münchner Starverteidiger, gestehe die Vorwürfe "uneingeschränkt". Zweck der Flüge sei es gewesen, "anderen Personen die Flucht aus der DDR zu ermöglichen". Späth sei es nicht darum gegangen zu fliegen. Geld sei bei den Aktionen nicht im Spiel gewesen.

Friedemann Späth mit Anwalt Rolf Bossi vor Gericht
Friedemann Späth mit Anwalt Rolf Bossi vor Gericht Bildrechte: MDR/Nachlass Friedemann Späth, Tuttlingen

Dann beantwortete Späth ausführlich Fragen des Gerichts nach seinem beruflichen und fliegerischen Werdegang. Späth sprach auch über seine Verurteilungen und seine Flüge in den Osten. Über seine Motivation, Fluchthilfe anzubieten, sagte er:

"Der Gedanke, etwas anderes zu tun als nur zu fliegen, ist im Gefängnis gereift. Aufgrund des tiefen Einflugs und der Tatsache, dass ich nicht gestellt worden war und aufgrund jahrelanger Inhaftnahme in der DDR und das Erleben der Einzelschicksale ist mir der Gedanke gekommen, dass es möglich sein muss mit Hilfe eines Flugzeuges Leute aus der DDR herauszuholen."

Zum angeklagten DDR-Flug im Mai 1983, zu den Hintergründen und Umständen wurde Späth nicht befragt. Die gescheiterte Flucht der jungen Frau wurde mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen interessierte sich das Gericht vor allem dafür, wem das Flugzeug eigentlich gehört.

Der Staatsanwalt hielt es in seinem Plädoyer für strafbar, wenn im Zusammenhang mit Fluchthilfe Gesetze verletzt werden. Bei den Fluchthilfeaktionen von Späth habe kein rechtfertigender, entschuldigender oder übergesetzlicher Notstand vorgelegen. Der Fall Späth sei nicht vergleichbar mit der Flucht von acht DDR-Bürgern, die 1979 mit einem Heißluftballon die Grenze überquert hatten.

Mir ist ein in der DDR lebender Mensch wichtiger als ein Toter im Westen.

Friedemann Späth vor Gericht

Der Staatsanwalt forderte deshalb eine Freiheitsstrafe von neun Monaten ohne Bewährung. Späths Anwalt Bossi plädierte dagegen auf Freispruch. Er stellte seinen Mandanten als einen Fluchthelfer dar, "der seinen Kopf hinhalte, um zwei andere Köpfe zu retten". Dann hatte Späth das letzte Wort: "Dass, was ich am 21.5.1983 erlebt habe, hat mich geprägt, dass ich gesagt habe, Schluss damit. Mir ist ein in der DDR lebender Mensch wichtiger als ein Toter im Westen."

Das Urteil gegen Späth

Noch am selben Tag wurde das Urteil gefällt. Richter Michael Ballmaier befand Späth "wegen unbefugter Führung eines Luftfahrzeuges in Tateinheit mit Zuwiderhandlung gegen Anordnungen über ein Gebiet mit Flugbeschränkungen" für schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung sowie zu einer Geldbuße von 2.000 D-Mark an die Opferhilfsorganisation "Weißer Ring".

Außerdem ordnete das Gericht die Einziehung der Piper an, die noch immer angekettet, versiegelt und ohne Räder in Jossa stand. Das derzeitige Eigentumsverhältnis konnte nicht geklärt werden. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Späth die Piper verbotenerweise wieder fliege.

In seiner Urteilsbegründung nannte das Gericht als "wahre Triebfedern" für Späths Aktivitäten "die Flugleidenschaft" und Späths "Hang zum Abenteuer". Dazu komme noch seine "tiefe Aversion gegen das DDR-Regime". Ihm gehe es nicht darum, Menschen zu helfen. Mit Presseberichten habe er versucht, sich in der Öffentlichkeit als Held und wagemutiger Pilot, der durch nichts abzuschrecken sei, darzustellen. Edle und selbstlose Motive wurden Späth vom Gericht nur sehr eingeschränkt zugebilligt: Dass es bei den Flügen um Fluchthilfe gegangen sei, könne "nur geringfügig strafmildernd herangezogen werden".

Späths DDR-Flug hatte nicht nur einen Prozess in der Bundesrepublik zur Folge, sondern auch einen in der DDR: gegen die Pößnecker Studentin, die Späth aus der DDR schleusen wollte. Die junge Frau stand bereits Mitte August 1983 in Pößneck vor Gericht. Der Prozess fand in der DDR keine Öffentlichkeit. Auch in der Bundesrepublik blieb er unbeachtet. Dort war offenbar nicht bekannt, dass Späths Flug mit einer gescheiterten Flucht verbunden war. Zumindest finden sich in den amtlichen Unterlagen und Zeitungsberichten keine Hinweise auf einen zurückgelassenen Flüchtling - und dessen Schicksal.

Die Staatsanwältin klagte die Studentin an, "die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik durch mehrfach versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall" angegriffen zu haben. Die Verhandlung führte Kreisgerichtsdirektor Helmut Conrad. Das Gericht stellte als Fluchtursache fest, dass die Angeklagte von ihren Angehörigen in der Bundesrepublik beeinflusst worden sei. "Die Angeklagte machte sich Illusionen über das Leben in der BRD." Die junge Frau habe "unsere" Republik verraten und "gegen unsere Republik konspiriert".

Das Urteil von Richter Conrad: Die Studentin wurde wegen "mehrfachen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall in Tatmehrheit mit Unterlassung der Anzeige" zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Eine mildere Strafe, so Richter Conrad, sei aufgrund "der Intensität und der Schwere" der Handlungen nicht möglich. Die junge Frau wurde in Hoheneck inhaftiert. Nach etwa einem Jahr durfte sie in die Bundesrepublik ausreisen. In Hessen konnte sie ihr Studium fortsetzen. Es schloss sich eine Promotion an. Über ihre Erlebnisse 1983 in der DDR will sie bis heute nicht sprechen.

Piper D-EHCK fliegt noch immer

In den Jahren nach dem Mauerfall spielte Späth keine Rolle mehr. In gelegentlichen Rückblicken der schwäbischen Regionalpresse anlässlich von deutsch-deutschen Jubiläen taucht sein Name auf. 2018 setzte Friedemann Späth seinem Leben ein Ende. Der 78-Jährige war hinfällig geworden. Er reiste in die Schweiz und wählte dort den legalen begleiteten Suizid. Seine letzten Worte waren nach Angaben seiner Schwester: "Das ist ja wie fliegen!"

Friedemann Späth war ein Mann, der sich von seiner Leidenschaft für das Fliegen treiben ließ - bis hin zu waghalsigen Fluchthilfe-Aktionen in den Osten. Obwohl er nach seiner Verurteilung und dem Mauerfall in Vergessenheit geriet, bleibt er als einer der ungewöhnlichsten Hobbypiloten und Fluchthelfer in Erinnerung.

Friedemann Späth, seine Piper und sowjetische Kampfhubschrauber
Hasardeur und leidenschaftlicher Flieger: Friedemann Späth (1940-2018) Bildrechte: MDR/Nachlass Friedemann Späth, Tuttlingen

Im August 1984 war die von Späth geflogene Piper von der Staatsanwaltschaft zur Verwertung freigegeben worden und wurde verkauft. Das inzwischen blau lackierte Flugzeug mit dem Kennzeichen D-EHCK fliegt noch immer. Es ist heute auf dem Flugplatz in Pirmasens stationiert. Die Piper erinnert als stilles Zeugnis an die spektakulären Flüge des "besessenen" Friedemann Späth, der sich von keinem Hindernis aufhalten ließ - auch nicht vom Eisernen Vorhang.

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Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Regionalnachrichten Ostthüringen | 21. Mai 2023 | 07:30 Uhr

23 Kommentare

ElBuffo vor 48 Wochen

Die sowjetische Luftverteidigung konnte zu der Zeit so Einiges nicht. Das hatte die aber mitnichten daran gehindert erkannte Zivilmaschinen abzuschießen. Auch hier bedauerten die Piloten, dass ihnen der befohlene Abschuss nicht gelang. Oder wie muss ich mir als Laie die logische Konsequenz vorstellen, wenn ein Flugzeug in der Luft manövrierunfähig ist?

Ilse vor 48 Wochen

ElBuffo

Das stimmt so nicht, ich habe sogar in meiner Stadt live erlebt, das jemand den rechten Arm u. HH rufen konnte u. das ungeschoren vor Volkspolizisten.
Was Sie lediglich dafür benötigten, um z.B. auch den Staatsratsvorsitzenden als ehemaligen Dachdeckerlehrling zu bezeichnen, war ein sogenannter "Jagdschein". Dann hätten auch Sie, ohne Probleme, demonstrieren können, wenn Sie sich darum ordnungshalber bemüht hätten.

ElBuffo vor 48 Wochen

Und damit der Bürger gar nicht erst diese Sorgen haben musste, wurde der erstmal mit Selbstschussanlagen, Tretminen und gezielten Schüssen davor bewahrt in eine solche Situation zu kommen? Sehr fürsorglich.

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