"Kein schöner Land" Wie ein deutscher Volksliederabend in Rudolstadt die Gemüter kühlt
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31. August 2024, 11:52 Uhr
Wenn ein thüringisches Theater zwei Tage vor den Landtagswahlen ein Stück mit dem Titel "Kein schöner Land. Ein deutscher Volksliederabend" auf die Bühne bringt, rechnet man eigentlich mit mehr als nur Volksliedern, vielleicht sogar mit einer politischen Botschaft. Zu erleben sind dann aber doch "nur" Volkslieder. Unser Kritiker findet, gerade deshalb ist der Abend am Rudolstädter Theater ein Geniestreich.
- Der deutsche Volksliederabend in Rudolstadt hat keine Botschaft, er beansprucht "Heimat" auf befreiende Art.
- Das "Berlin-Lied" des Duos "Wenzel und Mensching" von 1982 funktioniert als Bedienungsanleitung des Abends.
- Die zeitlosen Volkslieder thematisieren Krieg, Frieden, Heimweh, Liebeskummer, Abschied oder Sehnsucht.
Auf den ersten Blick ist "Kein schöner Land. Ein deutscher Volksliederabend" nur ein bezauberndes Theatererlebnis. Eine großartige Mischung aus hauptsächlich bekannten Volksliedern, musikalisch hervorragend vorgetragen auf einer Freilichtbühne an den Thüringer Bauernhäusern in Rudolstadt. Nur? Bitte nicht falsch verstehen, das wäre nicht wenig. Die Stimmung war fantastisch, es wurde mitgeklatscht und mitgesungen, viel gelacht, und sogar ein Kanon mit dem Publikum hat einigermaßen geklappt. Dazu ein warmer Sommerabend – wunderbar!
Aber was Intendant und Regisseur Steffen Mensching da gemeinsam mit seinem Chefdramaturgen Michael Kliefert auf die Bühne gestellt hat, ist auf den zweiten Blick noch viel mehr als das. Denn obwohl es keine großartige Handlung rundherum gibt, keine ausdrücklich politische Ebene, kann man diesen Abend als hochpolitisch wahrnehmen.
Man ist es fast schon nicht mehr gewohnt, dass eine Inszenierung scheinbar ohne Botschaft daherkommt.
Das Thema "Heimat" den Populisten wegnehmen
Mensching nutzt den Raum Theater für ein gemeinsames Erlebnis für alle Zuschauer. Angesichts der so aufgeregten Debatten rund um die Wahlen kühlt er die Gemüter mal für zwei Stunden herunter, sozusagen. Indem er sagt: Jetzt genießt das einfach mal. Das wirkt befreiend. Man ist es fast schon nicht mehr gewohnt, dass eine Inszenierung scheinbar ohne Botschaft daherkommt. Weltflucht ist es dennoch nicht. Denn neben den handwerklichen, den gesanglichen Qualitäten, setzt es quasi auch ein Zeichen: Theater verbindet. Es hebt diesen unglaublichen Schatz an deutschen Volksliedern und nimmt ihn damit zugleich denen weg, die versuchen, das Thema "Heimat" populistisch zu kapern und mit ihrem Heimatbegriff das "Deutsche" für sich zu beanspruchen. Nochmal, man muss das nicht darin sehen, aber man kann.
"Wenzel und Mensching"-Lied aus der DDR ist Bedienungsanleitung des Abends
Warum ich es so gesehen habe? Steffen Mensching hat eine Art Bedienungsanleitung im Programm versteckt, indem er ein eigenes Lied, das "Berlin-Lied" des in der DDR legendären Duos "Wenzel und Mensching" aus dem Jahr 1982, unter die alten Volkslieder mischt. Dessen Text ist DDR-frech, voller politischer Andeutungen und Doppeldeutigkeiten. Und genau so kann man eben auch die anderen Volkslieder wahrnehmen.
Viele Lieder des Abends sind so, dass man – wenn man mag – daran andocken kann und darin mehr lesen kann. Sie sind aufgeladen mit Assoziationen und Erinnerungen.
Zeitlos: Volkslieder über Krieg, Frieden und menschliche Gefühle
Volkslieder stecken voller Emotionen: sie handeln vom einfachen Leben, von Gut und Böse, von Sorgen und Armut, von Ängsten und Träumen, von Krieg und Verlust. Immer wieder kann man die Gegenwart durchschimmern sehen beziehungsweise durchklingen hören. Der so genannte Raum zwischen den Zeilen, hier gehört er zum Angebot für die persönliche emotionale Stimmung aller Zuschauer.
Da ist beispielsweise das Lied "Zogen einst fünf wilde Schwäne", ein altes Volkslied aus Ostpreußen, das in einer späteren Version zum Inventar der bundesdeutschen Friedensbewegung gehörte. Hannes Wader und "Zupfgeigenhansl" haben es gesungen. Es geht darin um das Leid, dass jeder Krieg mit sich bringt. Zogen einst fünf junge Burschen/ stolz und kühn zum Kampf hinaus./ "Sing, sing, was geschah?"/ Keiner kehrt nach Haus. Jeder versteht, dass es darin auch um die Kriege der Jetzt-Zeit geht, die vielen Menschen Sorgen machen. Aber niemand wird genötigt, sofort eine Position dazu einzunehmen. Es ist zugleich einfach ein sehr schönes, auch sehr melancholisches Lied.
Viele Lieder des Abends sind so, dass man – wenn man mag – daran andocken kann und darin mehr lesen kann. Sie sind aufgeladen mit Assoziationen und Erinnerungen: "Es kann ja nicht immer so bleiben", "Kein schöner Land", der Song "Gänselieschen" ("Unsre LPG hat tausend Gänse") der DDR-Kultband Renft. Einmal klingt sogar ganz kurz "Kleine weiße Friedenstaube" an, ein DDR-Pionierlied. Dazu viele Klassiker: "Am Brunnen vor dem Tore", "An der Saale hellem Strande" …
Großartiges Ensemble changiert zwischen Pathos und Humor
Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass ich mal einen Volksliederabend so euphorisch loben würde. Denn diesen Abend prägt noch etwas: Er changiert gekonnt zwischen Pathos und Humor. Auf dem Programmzettel steht ein Zitat des DDR-Dichters Karl Mickel: "Spaß muss es machen, sonst macht’s keinen Spaß!" Und das macht es, mal augenzwinkernd, mal "auf die Zwölf". "Wenn der Topf aber nun ein Loch hat" zum Beispiel ist urkomisch. Vorgetragen von Marcus Ostberg und Clara Sindel, die zugleich als neues Ensemble-Mitglied extra vorgestellt wurde. Man spürt Teamgeist, man erlebt die Kraft der Musik. Katrin Strocka zum Beispiel ist eine begnadete Sängerin. Wobei es eigentlich unfair ist, jemanden besonders hervorzuheben – dieser Abend ist insgesamt ein richtig schöner. Und konzeptionell, wie ich finde, geradezu ein Geniestreich.
Informationen zum Stück (zum Ausklappen)
Kein schöner Land
Ein deutscher Volksliederabend
Szenische Einrichtung: Steffen Mensching, Michael Kliefert
Bühne und Kostüme: Ronald Winter
Musikalische Leitung: Thomas Voigt, Udo Hemmann
Mit: Johannes Arpe, Laura Bettinger, Rayk Gaida, Johannes Geißer, Marcus Ostberg, Markus Seidensticker, Katrin Strocka, Clara Sindel
Die nächsten Aufführungen in den Thüringer Bauernhäusern Rudolstadt am 1., 3., 7., 8., 13. und 15.September.
Quelle: Matthias Schmidt (MDR KULTUR)
Redaktionelle Bearbeitung: jb
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 31. August 2024 | 10:15 Uhr