Ein Wähler gibt seinen Stimmzettel während der Parlamentswahl in Bulgarien ab
Die Qual der Wahl: In Bulgarien findet die siebte Parlamentswahl in dreieinhalb Jahren statt. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa/AP | Visar Kryeziu

Sieben Neuwahlen in dreieinhalb Jahren Stillstand in Bulgarien

26. Oktober 2024, 12:54 Uhr

Bulgarien ist gerade dabei, mehrere Milliarden Euro an dringend benötigten Corona-Hilfen aus der EU zu verlieren. Grund für den schleppenden Abruf der Mittel ist die politische Dauerkrise. Seit über drei Jahren gibt es in Sofia fast durchgängig keine reguläre Regierung. Am Sonntag werden die Bulgaren zum siebten Mal seit 2021 an die Urnen gerufen, um ein neues Parlament zu wählen. Ob es danach eine Regierungsmehrheit gibt, ist mehr als fraglich.

Vessela Vladkova
Bildrechte: Vessela Vladkova

Schleppende bis gar keine Reformen, die aber als Bedingung für den Abruf der Corona-Hilfen aus der EU gelten – das ist der Grund, warum Brüssel Bulgarien droht, Mittel aus dem europäischen Wiederaufbaufonds Next Generation EU endgültig zu streichen. Darin sind bis 2027 insgesamt 12,3 Milliarden Euro für das Land eingeplant. Davon hat Sofia lediglich ein Viertel bezogen.

Wie sich die politische Krise auf das Leben in Bulgarien auswirkt, zeigt sich am Beispiel der Energieversorgung. Knapp ein Drittel des Strombedarfs in Bulgarien wird von Kohlekraftwerken gedeckt, Tendenz sinkend, wie die Zahlen aus dem laufenden Jahr zeigen. Stattdessen wächst der Anteil der erneuerbaren Energien, jedoch nicht schnell genug. Der Kohleausstieg ist für 2038 geplant und dagegen regt sich Protest, denn etwa 50.000 Familien hängen an den Jobs in den Bergbauminen. Um ihnen den Übergang in ein neues Arbeitsleben zu erleichtern, sind Mittel aus der Corona-Wiederaufbauhilfe vorgesehen. Bulgarien bekäme sie allerdings nur, wenn es sich mit konkreten Reformschritten für den Ausstieg aus der Kohle engagiert, was nur eine reguläre Regierung in Sofia tun kann. Seit dreieinhalb Jahren gibt es die aber so gut wie nie, da wegen der politischen Dauerkrise meist nur kommissarische Übergangsregierungen im Amt sind.

Ostbloggerin Vessela Vladkova steht mit Mikro in der Hand vor dem Parlamnetsgebäude in Sofia. 1 min
Ostbloggerin Vessela Vladkova vor dem Parlamnetsgebäude in Sofia Bildrechte: Vessela Vladkova/MDR
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Populisten auf dem Vormarsch

Die politische Krise ist der Nährboden für populistische Formationen, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen. Sie haben auch ganz markante Namen, wie "Welitschie" (zu Deutsch: Größe), "Metsch" (Schwert) oder "Wazraschdane" (Wiedergeburt), die eindeutig einflussreichste unter ihnen. Diese prorussische, antieuropäische und nationalistisch angehauchte Partei, die bei allen Parlamentswahlen seit 2021 ihr Ergebnis kontinuierlich verbessert hat, blockierte jüngst im Parlament einen wichtigen Reformschritt für den Kohleausstieg und somit für die Finanzierung von Renaturierungsprojekten auf dem Gelände der Bergbauminen "Maritza" im Südosten Bulgariens.

Das Parlament in Sofia
Stillstand und Dauerkrise: Das Parlament hat seit dreieinhalb Jahren keine stabile Regierungskoalition mehr beherbergt. Bildrechte: IMAGO / Rainer Unkel

Daraufhin warnte das Finanzministerium, Bulgarien könne nicht nur die nächste Zahlung aus Brüssel nicht bekommen, sondern auch für die Verzögerung bei der Umsetzung bereits eingegangener Verpflichtungen für die Gewährung der Corona-Hilfen sanktioniert werden. Das würde dem Land noch in diesem Jahr über 630 Millionen Euro kosten. "Die bulgarische Wirtschaft stottert, weil Reformen ausbleiben, weil wir auf der Stelle treten und das wirkt sich auf alle Wirtschaftszweige aus", sagt Ex-Wirtschaftsminister Nikolaj Wassilew.

Die bulgarische Wirtschaft stottert, weil Reformen ausbleiben, weil wir auf der Stelle treten und das wirkt sich auf alle Wirtschaftszweige aus.

Ex-Wirtschaftsminister Nikolaj Wassilew

Ihm zufolge fehlt nicht nur im jetzt laufenden Wahlkampf das Thema Wirtschaft. "Seit dem EU-Beitritt 2007 entwickelte Bulgarien keine neuen Ideen für seine Zukunft, es finden keine Reformen statt und eine ganze Generation wächst im Stillstand auf", sagt der Wirtschaftsexperte resigniert.

Politischer Stillstand

Auch auf dem Feld der Politik steht Bulgarien seit über drei Jahren still. Nach der bevorstehenden siebten Neuwahl gibt es wenig Hoffnung, dass die politische Krise mit der Bildung einer stabilen Regierung beendet wird. Die Meinungsforscher sehen die proeuropäische Mitte-Rechts-Partei GERB wieder vorn, doch sie findet nach wie vor keine Koalitionspartner. Das reformorientierte liberal-konservative Bündnis PP-DB, das voraussichtlich zweit- oder drittstärkste Kraft wird, zögert mit der Unterstützung wegen der Korruptionsvorwürfe gegen GERB-Chef Bojko Borissow. Die anderen Parteien, die ins nächste Parlament einziehen werden, sind entweder moskautreu oder populistisch, und als Koalitionspartner unerwünscht.

Der bulgarische Ministerpräsident Boiko Borissow
Pro-europäisch, aber unter Korruptionsverdacht: GERB-Chef Bojko Borissow Bildrechte: IMAGO / photonews.at

"Die Parteien haben ihre Möglichkeiten, neue Wählergruppen anzusprechen, längst ausgeschöpft", kommentiert der Politikwissenschaftler von der Neuen Bulgarischen Universität, Hristo Pantschugow. "Die Konfrontationslinien zwischen den Parteien sind längst bekannt, die Hauptdarsteller liefern nichts Neues und die Wähler sehen keinen Sinn darin, wieder zur Wahl zu gehen."

Die Konfrontationslinien zwischen den Parteien sind längst bekannt, die Hauptdarsteller liefern nichts Neues und die Wähler sehen keinen Sinn darin, wieder zur Wahl zu gehen.

Hristo Pantschugow, Neue Bulgarische Universität

Das Einzige, wonach sich die Menschen in Bulgarien sehnen, sei ein Ausweg aus der Sackgasse. "Aber genau das wird ihnen nicht geboten", betont der Politologe.

Dagegen sieht Swetoslaw Malinow von der Sofioter Universität einen möglichen Ausweg, wenn sich beide proeuropäischen Kräfte GERB und PP-DB auf eine Regierungsmehrheit einigen. "Die Frage wird sein, ob sie zusammen ausreichend Mandate bekommen oder sie einen dritten Partner mit ins Boot holen müssen", betont Malinow, der ebenfalls Politologe ist. Er stellt fest, dass beide Parteien im Wahlkampf nicht mehr sehr kritisch zueinander sind. Aber auch er ist von der Wahlmüdigkeit der Bulgaren alarmiert, die sich am Sonntag in einer rekordverdächtig niedrigen Wahlbeteiligung von voraussichtlich gerade mal 30 Prozent wiederspiegeln wird. "Die Erklärung ist einfach – es kann nicht erwartet werden, dass wir alle vier Monate wählen gehen und sich in der Zwischenzeit neue Parteien und neue Ideen herausbilden", so Malinow. Je niedriger aber die Wahlbeteiligung ist, desto weniger Stimmen reichen für den Einzug ins Parlament aus.

Prorussische Kräfte im Aufwind

Von dieser Entwicklung profitieren die Populisten. Die prorussische Partei "Wiedergeburt" schaffte den Sprung ins Parlament erst im November 2021 mit damals knapp fünf Prozent. Von Neuwahl zu Neuwahl hat sie ihre Unterstützung laut Umfragen fast verdreifacht, genährt durch die Enttäuschung über die etablierten Parteien. In der Außenpolitik drückt sich ihre moskautreue Politik in der Forderung nach einem Austritt Bulgariens aus der NATO und im Vorwurf an die prowestlichen Kräfte, mit der Unterstützung für die Ukraine das Land in einen Kriegstreiber zu verwandeln, aus. "Wiedergeburt" reichte zudem nach Kreml-Vorbild ein Gesetzesvorschlag ins Parlament ein, demzufolge Nichtregierungsorganisationen, die von internationalen Geldgebern unterstützt werden, als "ausländische Agenten" in ein entsprechendes Register eingetragen werden sollen. Der Vorschlag fand aber keine Mehrheit.  

Älteres Ehepaar im Wahllokal
Alles sinnlos? Die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen wird voraussichtlich bei spärlichen 30 Prozent liegen. Bildrechte: imago images/NurPhoto

Auch die sozialistische Partei – die Nachfolgerpartei der KP – fällt immer wieder mit Narrativen aus Moskau auf. So behauptete unlängst ihr Fraktionsvorsitzender Borislaw Guzanow, der vermeintliche Deep State in den USA würde die militärischen Spannungen in Osteuropa absichtlich und künstlich erhöhen, um der Region seine neoliberale Ordnung aufzuzwingen. Er ist einer der bekanntesten Gegner des europäischen Green Deals, der unter anderem auch Bulgariens Energieabhängigkeit von Russland bekämpft. Den Ausbau von Windkraftanlagen an der bulgarischen Schwarzmeerküste lehnt Guzanow folglich ab.

So blicken die Bulgaren auf einen düsteren Winter, wenn sie am Tag nach der Wahl mit einem zersplitterten Parlament aufwachen, das kaum Aussichten auf eine Regierungsmehrheit bieten wird. Die Wahlmüdigkeit wird sich wohl noch mehr ausweiten, wenn noch vor Weihnachten klar wird, dass im Frühjahr die nächsten vorgezogenen Parlamentswahlen anstehen. 

MDR (tvm)

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 26. Oktober 2024 | 07:17 Uhr

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