Kommentar Bulgarien auf Schlingerkurs

29. Juli 2021, 13:27 Uhr

Wo geht es hin mit Bulgarien? Nach der zweiten Parlamentswahl in diesem Jahr Mitte Juli hat das Land noch keine Regierung. Ob es eine geben wird? Unsere Ostbloggerin Vessela Vladkova kommentiert die Politik ihres Heimatlandes, die geprägt ist von den übergroßen Egos einiger Parteichefs und dem Desinteresse der Wahlberechtigten.

Vessela Vladkova
Bildrechte: Vessela Vladkova

Die Wende ist mehr als 30 Jahre her. Dass sie in Bulgarien nach einer von der Kommunistischen Partei geführten Palastrevolution und nicht aus tiefster Überzeugung der Menschen kam, rächt sich heute. Denn das Demokratieverständnis der Bulgaren lässt schmerzlich zu wünschen übrig. Der unmittelbare Ausdruck ist die chronisch niedrige Wahlbeteiligung, aber auch die leichtfertige Bereitschaft, bei substanzlosen Parteien das Wahlkreuz zu machen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 11. Juli gingen nur 42 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne. "Es ist Hochsommer und der Urlaub ist mir heilig", werden sich wohl viele Bulgaren gedacht haben, und blieben lieber am Strand liegen, statt zur Wahl zu gehen. Ein gestörtes Demokratieverständnis demonstrierte aber auch der Sieger dieser wenig repräsentativen Wahl.

Ein gestörtes Demokratieverständnis

Die Wahllokale hatten nicht einmal 24 Stunden geschlossen, die ersten Hochrechnungen waren kaum veröffentlicht und es war bei weitem nicht abzusehen, wer sich Wahlsieger nennen darf, da kündigte die erst 2020 gegründete Partei "Es gibt so ein Volk" (ITN) an, sie werde die neue Regierung bilden und die alleinige Verantwortung für Bulgarien übernehmen – ohne Koalitionspartner, ohne politische Konsultationen. Erst Tage später stand das offizielle Wahlergebnis fest: ITN ist tatsächlich Wahlsieger mit einem hauchdünnen Vorsprung und mit knapp 24 Prozent Unterstützung. Bei deutlich weniger als 50 Prozent Wahlbeteiligung vertritt der Sieger gerade mal zehn Prozent der Bulgaren.

Die Überheblichkeit, mit nur 65 Abgeordneten in einem 240-köpfigen Parlament allein regieren zu wollen, ist mehr als nur eine Provokation. Sie sagt viel über die Substanz einer populistischen Formation aus, die ohne aussagekräftiges Programm und ohne Wahlkampf als stärkste Kraft ins Parlament eingezogen ist. Was diese Partei mit dem kuriosen Namen "Es gibt so ein Volk" vom Parlament hält, kann man daran ablesen, dass sie angefangen hat Ministerposten zu verteilen, bevor das frisch gewählte Parlament überhaupt zusammengekommen war - und dabei ignoriert, wer Koch und wer Kellner ist. Denn in einer parlamentarischen Demokratie wie Bulgarien ist nach abgehaltenen Wahlen die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments der erste und wichtigste politische Akt. Denn es ist das Parlament, das die Regierung wählt. Und es ist das Parlament, das die Politik der Regierung festlegt und sie kontrolliert. Das ABC der demokratischen Gesellschaftsordnung muss man sich in Bulgarien wohl so deutlich bewusst machen.

Die Politiker überheblich, das Volk apathisch

Ob Slawi Trifonow, der Showmaster und Gründungsvater der ITN, dieses ABC kennt? Bestimmt. Ob er es anerkennt? Vielleicht. Sein Verhalten legt jedoch einen Narzissmus offen, den man in Bulgariens Politik nur zu gut kennt. Glaubt man seinen raren Äußerungen, will Trifonow das politische Modell der vergangenen knapp 12 Jahre "ausradieren", das vom fast durchgehend regierenden Ministerpräsidenten Bojko Borissow dominiert war. Von einem starken Mann also, dessen Wort Gesetz war, und dessen Selbstgefälligkeit omnipräsent. In seinen letzten Regierungsjahren kommunizierte Borissow mit dem Wahlvolk via Facebook und regierte vom Geländewagen aus bei seinen ständigen Rundreisen durchs Land. Und Trifonow? Wie alle spärlichen politischen Botschaften (mit Ausnahme eines einzigen Radiointerviews), kam auch die unangemessene Ankündigung, im Alleingang eine Regierung bilden zu wollen, nicht auf einer Pressekonferenz, sondern flackerte über den Bildschirm seines eigenen Pay-TV-Senders "7/8", live übertragen auf Facebook.

Älteres Ehepaar im Wahllokal
Die politische Apathie der Bulgaren ist prägend für die Politik des Landes Bildrechte: imago images/NurPhoto

Noch hat Bulgarien keine neue Regierung. Das Parlament hat sich inzwischen konstituiert und zeigt sich gewillt, sich auf eine Regierungsmehrheit zu einigen. Ob der Wahlsieger ITN eingesehen hat, dass er allein das Staatsruder nicht übernehmen kann, ist schwer abzuschätzen. Neu in den turbulenten Tagen nach der Wahl ist, dass Trifonows Leute nun doch mit anderen Parlamentsparteien verhandeln wollen. Schnittmengen sind kaum zu erkennen. Denn Wahlsieger in Bulgarien ist eine ideologisch nicht einzuordnende Partei mit allgemeinen populistischen Botschaften vom Wechsel des politischen Modells. Fest steht aber, die politische Arroganz hat in Bulgarien mit Slawi Trifonow einen neuen Helden, den die chronische politische Apathie und das gestörte Demokratieverständnis zum Helden gemacht haben.

Ein Angebot von

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 11. Juli 2021 | 20:30 Uhr

Mehr Politik in Osteuropa

Mehr aus Osteuropa