Straflager mit Stacheldraht
"Sperrzone - Zugang verboten", steht auf dem Schild. Ein Straflager im russischen Nordkaukasus. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

System Putin Der Fall Nawalny und Russlands finstere Gefängnisse

27. März 2021, 06:30 Uhr

Russlands Gefängnisse gelten als finstere Orte. Der Fall Nawalny rückt sie dieser Tage ins Rampenlicht. Demütigung, Misshandlung, Folter und Zwangsarbeit bestimmen in Russland den Alltag hinter Gittern.

Fotomontage Mann vor Fahne
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nawalny: Ein Gefangener lässt die Welt aufhorchen

Seit der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny seine Haft in einem Straflager im Städtchen Pokrow rund 150 Kilometer östlich von Moskau absitzt, steht das russische Gefängnissystem mal wieder im Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Nawalny nannte die Justizvollzugsanstalt Nr. 2, in der er einsitzt, ein "freundliches Konzentrationslager". Gewalt gebe es zwar nicht. Doch das penible Einhalten der Tagesordnung werde eisern eingefordert.

Straflager mit Kiirchenkuppeln
Die Strafkolonie Nr. 2 in der Region Wladimir östlich von Moskau. Hier ist Alexej Nawalny inhaftiert. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Die russischen Strafvollzugsanstalten gelten vielen in Russland als finstere Erben des sowjetischen Gulagsystems. Allein die offizielle Bezeichnung als "Lager" und "Kolonie" erinnert an dunkle Kapitel der russischen Geschichte. Ehemalige Gefängnisinsassen und Menschenrechtler berichten seit Jahrzehnten von körperlichen Misshandlungen und Folter, von maroden Unterkünften und unmenschlichen Arbeitsbedingungen.

Riesiges Gefängnis-Netzwerk

Tatsächlich ist das russische Gefängnissystem ein riesiges Netzwerk aus mehr als 670 Lagergefängnissen, etwa 300 Untersuchungshaft-Anstalten und acht Hochsicherheitsgefängnissen. Es gibt Spezialgefängnisse für Minderjährige, Frauengefängnisse und Sonderanstalten für ehemalige Polizisten und Mitarbeiter der Sicherheitsdienste. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Häftlinge halbiert. Derzeit sitzen mehr als 470.000 Menschen ein. Damit liegt Russland auf Platz drei der Länder mit den meisten Inhaftierten in Europa. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl, sitzen in Russland fünf Mal mehr Menschen im Gefängnis als in Deutschland, jedoch nur halb so viele wie in den USA.

Hierarchien mit Gewalt durchgesetzt

Ein zentraler Unterschied zu europäischen Gefängnissen ist die innere Organisation. "Von der Sowjetunion hat Russland Gefängnisse geerbt, in denen die Häftlinge in großen Baracken oder Wohneinheiten oft mit mehr als 100 Mann untergebracht sind", sagt Xenia Runowa, Soziologin an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. Ein typisches Lager ist unterteilt in einen Wohnbereich mit Doppelstockbetten, eine Gewerbezone mit Betrieben, etwa einer Nähfabrik oder einer Möbelwerkstatt, und einem Areal mit übrigen Einrichtungen wie Kirche, Schulungsräume, Sporthalle, Küchenblock und Bibliothek.

Männer nähen Uniformen
Uniformen nähen oder Möbel bauen - Arbeiten gehört zum Alltag im russischen Straflager. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

In den einzelnen Zonen und Wohngebäuden können sich die Häftlinge teils frei bewegen. Weil die Häftlinge in große Gruppen aufgeteilt sind, können sie von den Aufsehern jedoch nicht dauerhaft überwacht werden. Das fördert ein System, bei dem die Aufseher auf informelle und zum Teil offizielle Helfer aus den Reihen der Insassen zurückgreifen müssen, so Runowa. Auch unter den Häftlingen begünstige ein solches System inoffizielle Hierarchien, die oft mit Gewalt durchgesetzt werden. In den Anfangsjahren der Sowjetunion galt diese Art von Gefängnissen als effizient, weil wenige Wachmänner für viele Gefangene ausreichten. Ein System, das seither nicht grundsätzlich reformiert wurde.

Zaghafte Reformen

Fast 90 Prozent der Insassen sind derzeit in solchen Lagern untergebracht, die nicht immer weitab der Zivilisation liegen, sondern mitunter mitten in Städten oder am Rande von Industriegebieten. Anders als zu Sowjetzeiten, sitzen zudem die meisten Häftlinge ihre Strafe in der Region ab, in der sie vorher ihren Wohnsitz hatten. Eine der wichtigsten Reformen der vergangenen Jahre ist eine gesonderte Unterbringung von Sträflingen, die zum ersten Mal eine Haftstrafe absitzen, und Wiederholungstätern.

Die Korruption blüht

Alexander Afanasjew gehört zur ersten Gruppe und hat die letzten sieben Jahre in einer Kolonie im Umland von Sankt Petersburg verbracht. Der Grund: eine Schlägerei, bei der sein Gegenüber unglücklich stürzte und an seinen Kopfverletzungen starb. Afanasjew beschreibt sein Ankommen im Straflager: "Wir hatten einen ziemlich ruppigen Empfang, mussten bei Ankunft im Lager eine Stunde in der Hocke sitzen mit den Händen über dem Kopf", erinnert sich der 41-Jährige. Doch schon kurz darauf wurde er von anderen Insassen auf Möglichkeiten hingewiesen, wie man sich seinen Alltag "versüßen" könne. "Das Verhältnis zwischen Insassen und Verwaltung war rein kommerziell", berichtet Afanasjew. "Wer gut 140 Euro im Monat zahlte, konnte in Viererzimmern wohnen, ein privates Handy besitzen, nicht zur Arbeit gehen, die Küche benutzen, Filme schauen und unbegrenzt Pakete von Verwandten empfangen".

Wer kein Geld zahlte oder es sich nicht leisten konnte, musste stattdessen streng alle Vorschriften befolgen. "Die Korruption blühte nur so", sagt der Ex-Häftling, der seine Strafe inzwischen abgesessen hat. Für das Eintreiben des Geldes seien sogenannte "Aktivisten" zuständig, Häftlinge, die den Vollzugsbeamten zur Hand gehen, die auch als Informanten agieren und andere Insassen aushorchen. "Gewalt von den Beamten gab es keine, dafür waren die Aktivisten zuständig, wenn jemand zum Beispiel nicht zahlen wollte".

Ein anderer Weg sich das Leben zu erleichtern, sei die Arbeit im Gefängnisbetrieb. Ex-Häftling Afanasjew etwa hat sich zum Schichtleiter der Nähfabrik seines Lagers hochgearbeitet und private Aufträge von seinen Aufpassern entgegengenommen. "Einmal habe ich für einen Vollzugsbeamten die teure Ledertasche seiner Frau repariert, dafür habe ich dann verlangt, dass er bei kleineren Vergehen ein Auge zudrückt".

Verschiedene Gefängniskategorien

In solchen Lager-Kolonien sitzt in Russland der Großteil der Gefängnisinsassen. Die Justiz unterteilt die Lager zudem in solche mit strengem oder allgemeinem Regime. Die Unterschiede erschöpfen sich jedoch meist in der zulässigen Anzahl und Länge der Besuche von außen und dem zulässigen Gewicht der ankommenden Pakete. Von der Schwere der Tat hängt ab, wer in ein "strenges" oder "allgemeines" Lager kommt.

Ganz anders sieht es dagegen in sogenannten Lager-Siedlungen aus. Diese ähneln auf den ersten Blick einer Wohngegend, ohne Wachtürme und Stacheldraht. Die Insassen können mehrtägige Besuche von Verwandten empfangen, sich einen Job außerhalb der Anstalt suchen und mit privatem Geld in ganz normalen Geschäften einkaufen. Allerdings sind diese Lager-Siedlungen nur Verurteilten vorbehalten, die sich keine Gewaltverbrechen haben zuschulden kommen lassen und das erste Mal zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind. Nach offizieller Statistik gibt es 106 solcher Siedlungen mit rund 30.000 Insassen.

Gefängnis-Kantine
Zum Essen nur das Nötigste. Die Zustände in russischen Gefängnissen beschäftigen immer wieder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Das andere Extrem sind geschlossene Gefängniskomplexe. Dort leben die Insassen zwar in kleineren Zellen, allein oder maximal zu viert, dürfen sich jedoch außerhalb der Räume nicht frei bewegen. Jeder Insasse wird von einem Wachmann begleitet und bewacht. Anders als in den meisten Lagern, gibt es in solchen Anstalten kaum Arbeit oder andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Die etwa 1.300 Insassen von landesweit insgesamt acht solcher Anstalten sind fast ausschließlich Schwerverbrecher mit jahrelangen Haftstrafen. Vor allem in solchen Gefängnissen seien die Insassen dem Wachpersonal schutzlos ausgeliefert, sagt die Soziologin Xenia Runowa.

Und dann gibt es noch die Sonderkolonien für Wiederholungstäter, wo Lagerverwaltungen regelmäßig im Verdacht stehen, mit Gewalt für eiserne Disziplin zu sorgen und kleinste Vergehen mit Schlägen und Einzelhaft zu bestrafen. Regelmäßig gelangen eklatante Verstöße in solchen Anstalten an die Öffentlichkeit.

Der jüngste Skandal ereignete sich in der Kolonie Nr. 6 in der Großstadt Irkutsk, unweit des Bajkalsees im Osten Russlands. Die oppositionelle Zeitung Nowaja Gazeta hatte von Verwandten eines Häftlings erfahren, dass er von anderen Insassen gefoltert und mit einem Besenstiel vergewaltigt worden war. Offenbar, so Medienberichte, habe die Lagerleitung die Häftlinge dazu angestiftet, mit dem Ziel, so Geständnisse für weitere Straftaten zu erpressen. Anfang März wurde der nunmehr ehemalige Leiter der Kolonie verhaftet. 

Miserable medizinische Versorgung

Neben direkter Gewalt zählt auch die schlechte medizinische Versorgung zu den Risiken für das Leben der Häftlinge. Die Gefängnismedizin ist nicht dem Gesundheitsministerium, sondern der Vollzugsbehörde untergeordnet. Es herrscht akuter Personalmangel und die Ausrüstung ist schlecht. Wer spezielle fachärztliche Hilfe braucht, muss oft Wochen und Monate auf eine Genehmigung warten, sich außerhalb des Gefängnisses oder des Spezialhospitals behandeln zu lassen. Allein 2018, dem Jahr der jüngsten veröffentlichten Statistik, starben in russischen Gefängnissen fast 2.800 Menschen. "Unter den Häftlingen sind etwa zehn Prozent HIV-positiv und nur 60 Prozent bekommen eine Therapie", schreibt die Sankt-Petersburger Gefängnisexpertin Runowa. Auch Hepatitis C und Tuberkulose seien verbreitet.

Alexei Navalny
Nawalnys Gesundheitszustand hat sich in der Haft offenbar enorm verschlechtert. Dieses Foto stammt noch von einem Gerichtstermin Ende Februar. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Im übrigen ist es ausgerechnet die mangelnde medizinische Versorgung im Gefängnis, die auch Nawalnys Anhänger umtreibt. Laut Nawalnys Anwältin Olga Michajlowa, habe sich ein Rückenleiden des Politikers in den vergangenen Tagen derart verschlimmert, dass sein rechtes Bein taub werde. Aus dem Straflager heißt es dazu nur, Nawalnys Zustand sei stabil und befriedigend. Einer von Nawalnys Mitstreitern schrieb auf Twitter, das bedeute, mit Nawalny passiere gerade nichts Gutes. Ungewissheit über das Schicksal der Insassen, auch das ist typisch für russische Gefängnisse.

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Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 20. Februar 2021 | 10:30 Uhr

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