Protest gegen Putin
Sich als Opposition öffentlich gegen Wladimir Putin zu äußern, ist momentan nur aus dem Ausland möglich. Demonstration zur Unterstützung des in Russland inhaftierten Alexej Nawalny in Litauen. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Russland Russische Opposition: Gnadenlos verfolgt, heillos zerstritten

29. August 2023, 09:58 Uhr

Russische Oppositionelle sehen sich gnadenlosen Repressalien ausgesetzt. Viele haben das Land verlassen, wer bleibt, sitzt oft im Gefängnis. Gleichzeitig gibt es innerhalb der Opposition reichlich Streit um Inhalte und den Führungsanspruch. Gibt es unter diesen Umständen eine Perspektive für ein Russland nach Putin?

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Am 4. August wurde der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wegen "extremistischer Tätigkeit" zu einer weiteren Freiheitsstrafe von 19 Jahren verurteilt. 2021 hatte ein Gericht bereits neun Jahre Haft gegen ihn verhängt. Kurz nach der neuerlichen Verurteilung veröffentlichte Nawalny einen Text mit dem Titel "Meine Angst und mein Hass". Darin erklärt der prominente Politiker, dass die Ursprünge der aktuellen Probleme Russlands in den 1990er-Jahren zu finden seien, bereits unter Präsident Boris Jelzin sei der Weg für die Ära Wladimir Putins geebnet worden. Er wirft dem Umfeld Jelzins Korruption und sogar Wahlfälschung vor und äußert die Befürchtung, die Fehler von damals könnten von der heutigen Opposition wiederholt werden.

Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, wird in einem Saal des Moskauer Stadtgerichts per Videostream  aus seiner Gefängniskolonie zu einer Anhörung zugeschaltet.
Alexej Nawalny durfte für seinen Prozess Anfang August vor einem Moskauer Gericht nicht erscheinen. Er wurde lediglich aus der Gefängniskolonie per Video zugeschaltet. Bildrechte: picture alliance/dpa/AP | Alexander Zemlianichenko

Der Text hat innerhalb der Opposition heftige Diskussionen ausgelöst. So schrieb der Kremlgegner und ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski beispielsweise, im Namen Nawalnys würden "direkte Lügen" verbreitet. Doch dessen Aussage, dass sich in den 90er-Jahren keine festen demokratischen Institutionen etabliert hätten, fand auch Zustimmung. Die Politologin Jekaterina Schulmann sieht in Nawalnys Kritik eine weitsichtige Ansprache an Putins Anhängerschaft, die den "wilden 90er-Jahren" äußerst kritisch gegenübersteht.

Gefängnis oder Exil

Der oppositionelle Politiker Dmitry Gudkow bringt die Situation in Russland auf den Punkt: "Man wird vor die Wahl gestellt: Entweder man verlässt das Land oder man geht ins Gefängnis." Er selbst und sein Vater Gennadi, der ebenfalls Parlamentsabgeordneter war, leben inzwischen im Ausland. Ebenfalls im Exil: der Chef der libertären Partei Michail Swetow und der ehemalige Co-Vorsitzende der rechtszentristischen Partei "Rechte Sache", Leonid Gosman.

Der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski lebt bereits seit 2013 im Exil. Er hatte vor 20 Jahren die Organisation "Offenes Russland" gegründet, die sich für Demokratie und die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland einsetzt. Nachdem er Putin öffentlich kritisiert hatte, kam er wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung in Haft, wurde aber nach zehn Jahren überraschend begnadigt. 2017 erklärten die russischen Behörden "Offenes Russland" zur unerwünschten Organisation und verbot die Website.

Wer bleibt, zahlt einen hohen Preis

Die Oppositionellen, die in Russland bleiben, zahlen dafür einen hohen Preis: So wurde Lilija Tschanyschewa, Ex-Leiterin des Regionalstabs von Alexej Nawalny, wegen Organisation einer "extremistischen Gemeinschaft" zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt.

Der Politiker und Journalist Wladimir Kara-Mursa bekam gar eine 25-jährige Haftstrafe wegen Hochverrats, weil er den Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisierte. Der ehemalige Moskauer Kommunalabgeordnete Ilja Jaschin wurde zu einer Haftstrafe von achteinhalb Jahren wegen "Verunglimpfung der russischen Streitkräfte" verurteilt. Seine Entscheidung, in Russland zu bleiben, erklärte er in einem Brief aus dem Gefängnis so: "Ich weiß nicht, wie man Putin aus der Ferne besiegen kann."

Teile und herrsche

In Russland gibt es derzeit nur eine Oppositionspartei, die man als vollwertige politische Kraft bezeichnen kann: die liberale Partei "Jabloko". Sie hat Parlamentserfahrung, setzt sich gegen den Krieg ein. Allerdings erfreut sich der "ewige" Parteiführer Grigori Jawlinski (72) keiner großen Beliebtheit unter jungen Russen. Bei den bislang letzten Wahlen hat Jabloko lediglich 1,3 Prozent der Stimmen geholt.

Der Kreml geht besonders rücksichtslos gegen diejenigen vor, die versuchen, eine landesweite Opposition zu organisieren - etwa gegen Alexej Nawalny. Der hatte ein russlandweites Netzwerk von regionalen Büros aufgebaut und die Strategie der "intelligenten Abstimmung" entwickelt, die es ermöglicht, der Kreml-Partei "Einiges Russland" bei Wahlen entgegenzutreten.

Im Exil bestimmen keine Organisationen, sondern einzelne Persönlichkeiten die Debatte. Zudem ist es inzwischen schwer, eine klare Grenze zwischen oppositionellen Politikern, Aktivisten und Journalisten zu ziehen - denn die meisten Oppositionellen gründeten Youtube- oder Telegram-Kanäle, um ihre Botschaft zu verbreiten.

Trotz alledem glaubt der Politologe Abbas Galljamow, dass die Opposition im Exil ein echter Machtfaktor sein könnte: Schließlich bezieht die Hälfte der Russen Informationen aus dem Internet, daher könne ihre Meinung auch aus dem Ausland beeinflusst werden. Die Opposition müsse ihre Kräfte bündeln und einen Anführer präsentieren, so Galljamow: "Die Menschen fragen sich: Wenn nicht Putin, wer dann?"

Die Exil-Opposition ist zerstritten

Doch nach Geschlossenheit sieht es derzeit nicht aus: Zwar hatte Chodorkowski angesichts der russischen Invasion in der Ukraine ein "Antikriegskomitee" ins Leben gerufen und einen Oppositionskongress in Berlin organisiert. Allerdings nahmen daran keine Vertreter von Nawalnys Netzwerk teil. Im Juni fand in Brüssel das größte Treffen der russischen Opposition im Exil seit dem Beginn des Krieges statt und Aktivisten, Menschenrechtler und unabhängige Journalisten diskutierten mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments über die Zukunft Russlands ohne Putin. Auch dort blieb das Nawalny-Netzwerk fern. Die Hoffnung, dass die Konferenz zu einer "vereinigenden Versammlung der Opposition" werden würde, war damit zerschlagen.

Dabei geht es nicht nur um Inhalte, sondern auch um den Führungsanspruch. Nawalnys Anhänger beanspruchen ihn für sich, Chodorkowski dagegen setzt sich für eine breite Koalition ein. Auch Maxim Katz, ein ehemaliger Mitstreiter von Nawalny, der heute in Israel lebt, tritt für die Einigung der oppositionellen Bewegung ein und will die "größte liberale Partei" gründen. Mit 1,85 Millionen Abonnenten auf Youtube, zählt er zu den populärsten politischen Aktivisten.

Streitfrage Kollektivschuld

Die Frage, ob Russen eine kollektive Verantwortung für den Krieg in der Ukraine tragen, spaltet die Exil-Opposition zusätzlich. So hatte der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow härtere Sanktionen gegen Russland gefordert und mit dem Vorschlag eines "Gute-Russen-Passes" für Wirbel gesorgt.

Garri Kasparow
Garri Kasparow spricht sich dafür aus, dass russische Staatsbürger vor der Einreise in die EU eine Antikriegserklärung abgeben sollen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Der sah vor, dass russische Flüchtlinge nur dann in die EU einreisen dürfen, wenn sie eine Antikriegserklärung unterzeichnen. Allerdings gilt Kasparow, der seit 2013 im Ausland lebt, nur im Westen als bedeutender Oppositionspolitiker - in Russland hat er kaum Unterstützer. Viele Oppositionelle - unter anderem Maxim Katz - sind anderer Ansicht als Kasparow. Sie glauben, dass die aggressive Politik Russlands nicht den Willen des russischen Volkes widerspiegelt.

Prinzip Hoffnung

Und so haben bei all der Streiterei nur wenige Akteure überhaupt eine Vorstellung, wie ein Russland nach Putin aussehen könnte. Nawalny etwa hält die Korruptionsbekämpfung für das wichtigste Reformvorhaben, dazu gehören auch mehr Transparenz und eine unabhängige Justiz. Als Staatsform schwebt ihm eine präsidial-parlamentarische Republik vor, in der alle politisch belasteten Beamten aus den Ämtern entfernt werden.

Auch Chodorkowski hat seine grundsätzlichen Vorstellungen dargelegt: Er wünscht sich eine parlamentarische Republik mit einem System der Gewaltenteilung, außerdem stärkere Regionen anstelle einer Zentralmacht. Allerdings betont Chodorkowski auch, dass er selbst keine politischen Ambitionen hat.

Derzeit steht allerdings jedem Reformvorhaben der aktuelle Machthaber im Kreml im Weg. Und so bleibt der russischen Opposition nur die Hoffnung auf bessere Zeiten. So sagte Wladimir Kara-Mursa kurz vor seiner Verurteilung vor Gericht: "Ich weiß auch, dass der Tag kommen wird, an dem sich die Finsternis über unserem Land lichten wird. (…). Und dann wird unsere Gesellschaft ihre Augen öffnen und entsetzt sein über die schrecklichen Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden." Der Glaube an eine bessere Zukunft Russlands ist es, der die russische Opposition trotz ihrer Differenzen und Spannungen verbindet.

MDR (usc)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. August 2023 | 18:35 Uhr

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