Wladimir Kara-Mursa neben seiner Anwältin Maria Eismont
Höchststrafe: Der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa und seine Anwältin Maria Eismont vor Gericht. Bildrechte: picture alliance/dpa/The Moscow City Court/AP

Rechtsstaatlichkeit Russland: Justiz wie zu Stalins Zeiten

04. Mai 2023, 08:16 Uhr

Russlands Justizsystem verfällt zusehends. Gab es in den 90er-Jahren noch Hoffnungen auf rechtsstaatliche Entwicklungen, haben heute vor allem politisch missliebige Bürger keine Chance mehr auf einen fairen Prozess. Ein paar Anwälte kämpfen trotzdem für Gerechtigkeit.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Als die Rechtsanwältin Maria Eismont vor Journalisten das Urteil wegen Hochverrats gegen ihren Mandanten, den Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa, kommentierte, wirkte sie gefasst: "25 Jahre. Das ist die Höchststrafe. Man hat den Eindruck, wenn mehr verhängt werden könnte, hätten sie das gemacht." Der Kampf der Anwälte gegen das Justizsystem in Russland ist der Kampf Davids gegen Goliath - mit geringen Erfolgsaussichten. Im Jahr 2019 wurde in Russland weniger als ein Prozent der Angeklagten vor Gericht freigesprochen. Laut dem World Justice Project-Ranking aus dem Jahr 2022 belegt Russland den 107. Platz unter 140 Ländern in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit.

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In letzter Zeit haben sich die Möglichkeiten für eine Verteidigung noch mehr verringert - auch, weil Russland die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr anerkennt. Das habe die Möglichkeiten der Anwaltschaft "stark untergraben", sagt der bekannte russische Strafverteidiger Pawel Tschikow, der, wie viele andere Menschenrechtsaktivisten, Russland inzwischen verlassen musste.

Strafverteidigung wird schwieriger

Iwan Pawlow, ebenfalls ein prominenter Menschenrechtsanwalt, hat den Verfall des russischen Rechtssystems miterlebt, bis er 2021 ebenfalls Russland verlassen musste, nachdem er selbst Ziel von Ermittlungen des FSB geworden war. "Ende der 90er-Jahre gab es viele Hoffnungen und Optimismus, aber seit etwa 2005 ging es bergab", stellt er mit Bitterkeit fest. Inzwischen sei das russische Justizsystem vollständig degeneriert: "Aber - wie man in Russland sagt - wenn man denkt, dass man den Boden bereits erreicht hat, fangen sie an, tiefer zu graben", lächelt er sarkastisch. "Manchmal denke ich, dass es nicht schlimmer werden kann, aber wenn man zurückblickt, stellt man fest, dass es noch gar nicht so schlimm war."

Nach Ansicht von Pawlow sehen die Richter bei der Verhängung drakonischer Urteile den Angeklagten als ihren Feind an, und ein Feind muss mit der Höchststrafe belegt werden - ein Freispruch kommt nicht infrage. Das heutige Justizkorps sehe seine Aufgabe darin, die Interessen der Staatsmacht zu bedienen, so Pawlow. Nur bei Schwurgerichtsverfahren, bei denen juristische Laien das Urteil sprechen, sieht die Statistik anders aus: Hier lag der Anteil der Freisprüche im Jahr 2021 bei 32 Prozent. Deshalb schränkt das russische Recht systematisch die Zahl der Fälle ein, die vor einem Schwurgericht verhandelt werden können.

Iwan Pawlow
Musste 2021 aus Sicherheitsgründen Russland verlassen: Rechtsanwalt Iwan Pawlow. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Viele Anwälte geben auf

Kein Wunder, dass viele Strafverteidiger von ihrem Beruf enttäuscht sind und das Handtuch werfen. "Viele Anwälte in meinem Umfeld haben das Land wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen bereits verlassen", sagt Iwan Pawlow, der die Arbeit der Anwälte im heutigen Russland "Palliativmedizin" nennt. Und Maria Eismont meint, wenn sie selbst jemals einen Anwalt brauchen würde, würde sie einen "Clown mit so einem roten Ball auf der Nase" engagieren. "Denn das passt am besten zu dem, was im Gericht vor sich geht."

Pawel Tschikow ist hingegen zuversichtlich, dass Anwälte noch etwas tun können: "Wir haben im letzten Jahr erreicht, dass Strafverfolgungen in Fällen von Fake News eingestellt wurden. Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen in Freiheit blieben, obwohl ihnen bis zu zehn Jahre Gefängnis drohten. Die Anwälte haben viel zu tun, um die Haftbedingungen zu verbessern und die Strafen zu reduzieren. Wenn es anderen so vorkommt, als ob es keinen großen Unterschied macht, ob jemand zu drei oder sieben Jahren verurteilt wird, denke ich, dass der Angeklagte selbst dies anders sieht."

Öffentliche Aufmerksamkeit hilft nicht mehr

Ein Anwalt ist verpflichtet, seinen Mandanten auf jede nicht verbotene Weise zu verteidigen. "Auch die Öffentlichkeit ist ein solches Mittel, deswegen habe ich immer über meine Fälle gesprochen", erklärt Iwan Pawlow. Wenn eine Geschichte in die Medien gelangte, war das fast immer eine Erfolgsgarantie, da die politische Führung die öffentliche Meinung noch ernst nahm. Als Beispiel nennt Pawlow den Fall von Maria Dawydowa, die 2015 wegen Hochverrats angeklagt wurde, weil sie der ukrainischen Botschaft mitgeteilt hatte, dass laut ihrer Beobachtungen russische Militärs in den Donbass geschickt werden. Die russische Öffentlichkeit war über ihre Festnahme empört. Sie wurde freigelassen und ihr Verfahren eingestellt.

In diesem Auszug aus einem vom Bezirksgericht Babuskinsky zur Verfügung gestellten Video steht der rechtspopulistische russische Aktivist Alexej Nawalny während einer Anhörung zu seiner Anklage wegen Verleumdung im Bezirksgericht Babuskinsky in einem Glaskasten. Alexej Nawalny wird durch ein Moskauer Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt.
Alexej Nawalnys Antikorruptions-Ermittlungen haben vieles ins Rollen gebracht. Inzwischen sitzt auch er im Straflager. Bildrechte: picture alliance/dpa/Babuskinsky District Court/AP | -

Doch in letzter Zeit führe mehr Öffentlichkeit zu einem noch härteren Vorgehen der Behörden, warnt sein Kollege Tschikow. Nun müssen Strafverteidiger genau abwägen, ob ein Fall öffentlich gemacht werden soll oder nicht. Dieser Trend habe mit Nawalnys Anti-Korruptions-Ermittlungen begonnen, sagt Tschikow: "Stand ein Beamter im Fokus von Nawalnys Aufmerksamkeit, verschaffte ihm das keine Strafverfolgung, sondern Sicherheit. Andernfalls hätte dies den Einfluss Nawalnys dramatisch erhöht und die Schwäche der Macht aufgezeigt."

Weiterkämpfen, weiterhoffen

Aufgeben ist keine Option für viele Menschenrechtsanwälte - obwohl im heutigen Russland auch ihre eigene Sicherheit bedroht ist. Iwan Pawlow, der sogar aus dem erzwungenen Exil heraus seine Kollegen in Russland unterstützt, ist sicher, dass alle politischen Gerichtsfälle eines Tages wieder aufgenommen werden. "Und dann wird man fragen: Was hat der Anwalt für seinen Mandanten getan? Hat er gekämpft, oder saß er rum und drehte Däumchen?" Also müssen Strafverteidiger Spuren ihrer Arbeit hinterlassen, damit man später sehen kann: Der Anwalt hat bewiesen, dass der Angeklagte unschuldig ist. Bis dahin könne man nur hoffen, dass sich für die Beklagten wider Erwarten ein "Fenster der Gelegenheit" öffnet - und ein gut vorbereiteter Strafverteidiger einen echten Unterschied machen kann, meint Pawlow. Ein konkretes Beispiel für so eine Chance kann er allerdings nicht nennen.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. April 2023 | 10:18 Uhr

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