Neue Seidenstraße in Europa Serbien: Geheime Bauverträge mit China – Gefahr für serbische Bevölkerung?
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27. November 2024, 19:52 Uhr
15 Menschen starben nach einem Unglück am Bahnhof im serbischen Novi Sad. Seitdem reißen die Proteste im Land nicht ab. Kritiker sagen: Schlamperei am Bau, undurchsichtige Deals mit chinesischen Baufirmen und Korruption sind verantwortlich für das Unglück. Wie das zusammenhängt und welche Rolle das System um Präsident Vučić spielt, erklärt Ostblogger Andrej Ivanji.
Am 1. November stürzte das Vordach über dem Eingang des Bahnhofgebäudes in Novi Sad ein. 15 Menschen sind mittlerweile gestorben, zwei wurden schwer verletzt. Schock und Trauer der Einwohner wichen bald blanker Wut.
"Das ist kein Unglücksfall. Das ist Mord!", sagte Marinka Tepić, Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei "Freiheit und Gerechtigkeit". Ähnlich klingt das auch bei anderen Oppositionspolitikern. Bojan Pajtić, Rechtswissenschaftler in Novi Sad und ehemaliger Regierungschef der serbischen Provinz Vojvodina, sieht die Ursachen der Tragödie in "Inkompetenz und Korruption".
Denn das rund sechs Jahrzehnte alte Bahnhofsgebäude in der Hauptstadt der Vojvodina, ein Meisterwerk der jugoslawischen Architektur, wurde erst vor drei Jahren rundum saniert. Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wohnten 2022 der feierlichen Wiedereröffnung bei. Man zelebrierte sich selbst und eine hervorragende Partnerschaft mit China.
Chinas Neue Seidenstraße in Südosteuropa
Seinen neuen Glanz verdankte der Bahnhof nämlich dem gemeinsamen Vorzeigeprojekt der zwei Staaten – dem Bau einer schnellen, 342 Kilometer langen Eisenbahnstrecke zwischen den Hauptstädten Belgrad und Budapest. Sie führt über Novi Sad und soll bis Ende 2025 fertig sein. Das Projekt ist Teil der chinesischen Initiative Neue Seidenstraße, die den Ausbau der Infrastruktur für Transport, Versorgung und Handel vorsieht. Sowohl nach Serbien als auch Ungarn fließen dafür Investitionen und Kredite aus China, chinesische Firmen sind maßgeblich an den Bauvorhaben beteiligt.
Mit den Bauarbeiten in Serbien war und ist eine chinesische Firma beauftragt, die seit 2017 in Serbien registriert ist. Das Teilstück Belgrad-Novi Sad ist bereits fertig, dort fahren schon jetzt (neben Stadler-Garnituren) Züge des chinesischen Herstellers CRRC Changchun (im Video unten), die mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h in Serbien eine regelrechte Attraktion sind. Die 75 Kilometer lange Strecke schaffen sie in knapp einer halben Stunde – auf alten Schienen brauchten die früheren klapprigen Züge mehrere Stunden.
Fahrlässigkeit als Ursache – Experte will gewarnt haben
Wie konnte es aber bei so großer Aufmerksamkeit für ein Bauprojekt passieren, dass das Vordach des Bahnhofes in Novi Sad einfach so einstürzte? Sind Fahrlässigkeit und Schlamperei am Tod von 15 Menschen schuld?
Das behauptet unter anderem der Ingenieur Zoran Djajić, der an der Rekonstruktion des Bahnhofs beteiligt gewesen ist. Er habe bemerkt, dass die Marmorplatten auf dem Dach des Bahnhofs in einem "sehr schlechten" zustand seien. Er habe angeregt, bestimmte Teile der Konstruktion genauer zu prüfen. Seinen Bericht habe er an zwei Dutzend Adressen geschickt. Hätte man auf ihn gehört, wäre man wahrscheinlich darauf gekommen, dass die Träger des Vordachs korrodiert gewesen seien, so Djajić. Außerdem sei das Vordach zusätzlich mit tonnenschweren Glasplatten mit Stahlrahmen belastet worden, die es dort im Originalbau nicht gegeben habe. Fotos, die das beweisen, machten in den sozialen Netzwerken die Runde.
Wer trägt die Verantwortung?
Am Tag nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs zog ein gewaltiger Protestmarsch durch Novi Sad. Die Menschen forderten, dass alle Verantwortlichen, die "Blut an ihren Händen haben", bestraft werden. Alle von den zuständigen Ministern bis hin zu Baufirmen, denen vor drei Jahren die Rekonstruktion des Bahnhofs anvertraut worden war.
Außerdem sollen alle Pläne der Bahnhofssanierung und die dazugehörigen Verträge öffentlich gemacht werden, forderten Demonstranten und führende Köpfe der serbischen Opposition. Doch das wird nicht so einfach sein: Mit dem Umbau des Bahnhofs wurde das chinesische Konsortium CRIC & CCCC beauftragt, ein Zusammenschluss der Firmen China Railway International Co. Ltd und China Communications Construction Company Ltd.
Die chinesischen Partner hätten gefordert, dass alle ihre Verträge mit dem serbischen Staat geheim gehalten werden, so zumindest die Behauptung serbischer Regierungsvertreter. Doch warum hat der serbische Staat dieser Geheimniskrämerei bei Geschäften in öffentlichem Interesse, die aus dem Staatshaushalt bezahlt werden, zugestimmt? Eine Antwort darauf gibt es von offizieller Seite bisher nicht.
"Korruption tötet"
"Korruption", heißt die Antwort, die serbische Oppositionspolitiker geben, "endemische Korruption". So sollen der Regierung nahestehende serbischen Baufirmen bei allen Bauprojekten dieser Art als Subunternehmer beteiligt sein. Transparente Vergabeverfahren spielen dabei für die chinesischen Hauptauftragnehmer keine Rolle, so die Vorwürfe. Das wichtigste Kriterium für Geschäfte mit dem Staat sei die Treue zur regierenden Serbischen Fortschrittspartei und zu Präsident Vučić, behauptet die Opposition. Auch Beamte im Bau- und Infrastrukturministerium sowie in staatlichen Agenturen, die die Bauprojekte kontrollieren sollten, seien aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft und nicht ihrer Fachkenntnisse angestellt worden.
Folglich sei das Unglück von Novi Sad ein Fall für die Staatsanwaltschaft, die sich mit organisiertem Verbrechen beschäftigt. Das zumindest sagt die ehemalige Staatsanwältin Jasmina Paunović, die wegen ihrer Kritik an der serbischen Justiz im von Vučić und seiner Partei dominierten System in Ungnade gefallen ist.
Am 11. November organisierten Oppositionsparteien unter dem Motto "Korruption tötet" einen Massenprotest in Belgrad. Und auch in Novi Sad gedenken Menschen weiter öffentlich der Toten und fordern, dass sich jemand für das Unglück verantwortet.
Unter dem Druck der Proteste reagierte nach drei Wochen endlich auch die Staatsanwaltschaft: Dreizehn Personen wurden unter dem Verdacht verhaftet, durch ihr Handeln eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit herbeigeführt zu haben, unter ihnen Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesić. Serbische Medien berichten, er sei deshalb in Hungerstreik getreten. Vesić und sein Vorgänger im Amt des Bauministers, Handelsminister Tomislav Momirović, waren zuvor zurückgetreten.
Seit die Serbische Fortschrittspartei (SNS) 2012 die Macht ergriffen hat, sind das Präzedenzfälle. Die Partei hielt bisher stets ihre Reihen fest geschlossen und beschützte unnachgiebig Staatsfunktionäre mit Parteibuch.
Die Opposition gibt sich aber immer noch nicht zufrieden. Der Parlamentsabgeordnete und Leader der Partei Ökologischer Aufstand Aleksandar Jovanović Ćuta wirft der Staatsanwaltschaft vor, peinlichst die Begriffe "Mord" und "Korruption" vermieden zu haben. Das sei ein Fall für die Sonderstaatsanwaltschaft für das organisierte Verbrechen, sagte er. Das vermeide man aber, weil die Spur zur Staatsspitze und Staatspräsident Aleksandar Vučić führen würde.
Medien stellten unterdessen die Frage: Wenn es bei so einem Prestigeprojekt zu tödlicher Fahrlässigkeit kommen konnte, wie sicher sind dann andere Bauten, an denen sich chinesische Baufirmen beteiligen und deren Details ebenfalls geheim gehalten werden? Und was hat das Konsortium CRIC & CCCC bisher überhaupt alles in Serbien gebaut? Das Nachrichtenportal Direktno.rs spitzte noch weiter zu: "Wir sind eine chinesische Kolonie: China hat 3.500 Firmen in Serbien"
Geschäfte chinesischer Unternehmen in Serbien
Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzt anhand offizieller Statistiken, dass in Serbien über 1.500 chinesische Wirtschaftsverbände und mehrere tausend Unternehmen tätig sind. So bauen CCCC und andere chinesische Firmen Eisenbahnstrecken, Autobahnen, Brücken und Tunnel. Chinesische Investitionen sollen im vergangenen Jahrzehnt 5,6 Milliarden Euro betragen haben, womit China der größte Investor in Serbien geworden ist.
Die "feste Freundschaft" zwischen Serbien und China, wie Serbiens Präsident zu sagen pflegt, entwickelt sich immer mehr zu einer finanziellen Abhängigkeit. Aus Daten der Serbischen Nationalbank geht hervor, dass im Jahr 2023 chinesische Kredite 8,4 Prozent der gesamten serbischen Auslandsschulden ausmachten. Binnen zehn Jahren haben sie sich verzehnfacht – von 305 Millionen Euro auf 3,7 Milliarden. Geld gibt unter anderem die chinesische EXIM Bank (Export-Import Bank of China). Wohlgemerkt eine Bank, die bis 2017 acht Jahre lang auf der schwarzen Liste der Weltbank stand. Grund seien laut Berichten von Radio Free Europe Vorwürfe über gefälschte Vergabeverfahren auf den Philippinen gewesen.
Nach dem tödlichen Unglück in Novi Sad verbreiten sich in Serbien Zweifel, ob es bei den Geschäften mit China mit rechten Dingen zugeht. In Brüssel und Washington werden die Deals mit einem Naserümpfen zur Kenntnis genommen. Man hört immer wieder Warnungen, dass sich Serbien als EU-Beitrittskandidat außenpolitisch und wirtschaftlich an den Westen binden sollte. Doch es geschieht genau das Gegenteil.
Auch in Montenegro: China verleiht das Geld, China baut
Auch Montenegro hat in China hohe Schulden aufgenommen. Das Land war vor drei Jahren nicht in der Lage, seine Kreditraten für die Schulden in Höhe von einer Milliarde Dollar bei China zu begleichen und bat die EU um Hilfe.
Den Kredit hatte der kleine Adriastaat aufgenommen, um eine Autobahn zu bauen. Die Autobahn soll den montenegrinischen Adriahafen Bar mit Serbien verbinden, so wie es das Projekt Neue Seidenstraße vorsieht. Das ausführende Unternehmen war ein chinesisches, auf serbischer Seite bauen ebenfalls chinesische Firmen an der Autobahn.
Und so entfällt ein großer Teil der montenegrinischen Auslandsschulden auf China. Vom Autobahnkredit waren im Juni 2024 laut montenegrinischem Finanzministerium noch über 700 Millionen Dollar offen. Um chinesische Kredite bedienen zu können, musste sich das Land sogar erneut verschulden. China vergibt zwar unkompliziert Kredite, zeigt jedoch keine Nachsicht, wenn die Raten fällig werden.
Seit Langem ist China dabei, mit der Neuen Seidenstraße in Europa die Infrastruktur für den Transport seiner Waren auszubauen. Dabei dehnt das Land den eigenen wirtschaftlichen und somit auch politischen Einfluss aus. In Serbien, Montenegro, aber auch in Ungarn ist der fernöstliche Partner dabei sehr willkommen. Allerdings werfen Opposition und Zivilgesellschaft in Serbien ihrer Regierung mittlerweile vor, zu wenig Details über die Geschäfte offen zu legen, nicht genug zu kontrollieren und sich an korrupten Praktiken zu beteiligen. Wer trägt die Verantwortung für das Unglück von Novi Sad, bei dem 15 Menschen ihr Leben gelassen haben? Wer wird dafür die Konsequenzen tragen? Um Antworten zu bekommen, treibt es die Menschen in Serbien gerade wieder zu Protesten auf die Straße.
MDR (baz, usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 30. November 2024 | 07:17 Uhr