Ein Mann gibt einen Stimmzettel ab
Am 17. Dezember finden in Serbien wieder einmal vorgezogene Parlamentswahlen statt. Bildrechte: IMAGO/Xinhua

Neue Bündnisse Superwahlen in Serbien: Wer redet, hat keine Angst

16. Dezember 2023, 15:16 Uhr

Vor den "Superwahlen" am 17. Dezember ist Bewegung in die serbische Politik gekommen. Zehn Oppositionsparteien haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, das gute Chancen hat, die Machtverhältnisse deutlich zu verschieben. Gleichzeitig wirbt eine neue Initiative dafür, trotz aller Politikverdrossenheit zur Wahl zu gehen. Unser Ostblogger Andrej Ivanji berichtet.

Andrej Ivanji
Der Journalist Andrej Ivanji aus Belgrad war Anfang November in Israel. Seine Cousine lebt mit ihrer Familie dort. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

"Werde ich am 17. Dezember für ProGlas stimmen können?", fragt mich ein älterer Herr in der südserbischen Stadt Kruševac. Hier, im lokalen Kino, ist gerade ein Podiumsgespräch der gleichnamigen Initiative zu Ende gegangen, das ich moderiert habe. "Nein", antworte ich, "die stehen nicht zur Wahl." – "Schade, denen würde ich glatt meine Stimme geben", sagt der Mann.

Er ist nicht der einzige, der verwirrt ist, denn ProGlas ist etwas Neues: Vierzehn bekannte – manchmal gar prominente – Persönlichkeiten, unter ihnen Akademiker, Professoren, Schauspieler, ein Richter, ein Verleger, zwei Journalisten, ziehen während des Wahlkampfes durch Serbien.  Allerdings werben sie nicht für eine bestimmte politische Partei. Ihre Botschaft lautet: Liebe Mitbürger, geht wählen! Lasst nicht zu, dass andere über euer Schicksal bestimmen. Und die Botschaft kommt an: Der große Kinosaal in Kruševac ist an diesem 8. Dezember fast voll – und das an einem Freitagnachmittag.

ProGlas ist auf Serbisch ein Wortspiel, zusammengelesen heißt es Proklamation und getrennt "pro Stimme", also ein Aufruf für Wahlbeteiligung. Was, wie die Initiatoren selbst sagen, wie ein bescheidener Beitrag "einiger besorgten Bürger" zur Demokratisierung des Landes angefangen hatte, ist der absolute Hit der "Superwahl", die am 17. Dezember stattfindet und die aus vorgezogenen Parlamentswahlen, Wahlen in der Provinz Vojvodina, Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad und weiteren 65 Städten besteht.

Der Grund für diese Neuwahlen war keine politische Krise. Vielmehr möchte Staatspräsident Aleksandar Vučić seine bisher nahezu uneingeschränkte, in letzter Zeit in Frage gestellte Macht wieder einmal zementieren.

Staatsfeinde

Seit Vučić mit seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) 2012 die Macht ergriffen hat, gibt es zwar andauernd Neuwahlen, doch nichts ändert sich. Das hat die serbische Gesellschaft in tiefe Apathie gestürzt, die Wahlbeteiligung vor einem Jahr (da waren es reguläre Präsidentschafts- und Belgrader Wahlen, aber wieder einmal vorgezogene Parlamentswahlen) lag bei knapp über 50 Prozent. Das Ziel von ProGlas ist, Bürger zu überzeugen, zu den Urnen zu gehen, dass ihre Stimme wertvoll ist, dass jede Stimme zählt.

Für ihr demokratisches Engangement werden die Initiative und ihre Macher in den von der Regierung kontrollierten Medien als Staatsfeinde gebrandmarkt und einer Hetzkampagne unterworfen, genauso wie Oppositionspolitiker und überhaupt alle Andersdenkenden, die auch nur ein bisschen an Popularität gewonnen haben.

"Versteht ihr, wie absurd das ist?", fragt der pensionierte, in Serbien legendäre Musikjournalist Peca Popović die Menschen aus Kruševac. "Regierende Parteien rufen zur Wahl auf, und dann fallen sie über uns her, weil wir Bürger aufrufen, zu den Urnen zu gehen." Nur weil er gesagt habe, er wolle in einem "normalen Land" sterben, wurden Lesungen aus seinem Buch in seiner Heimat landesweit abgesagt, erzählt der 74-jährige Popović, der an einer Herzkrankheit leidet – und erntet frenetischen Beifall.

Aleksandar Sapic, Bürgermeister von Belgrad, spricht auf der SNS-Kundgebung vor den Wahlen in der Stark Belgrade Arena, Belgrad 02.12.2023
Wahlkampf in Serbien: Der Bürgermeister von Belgrad, Aleksandar Šapić, auf einer Veranstaltung der regierenden SNS. Bildrechte: IMAGO/MN Press Photo

Mut zur "Majestätsbeleidigung"

Und man spürt, dass sich in Serbien etwas geändert hat. Seit Vučić seinen Machtapparat in Serbien installierte, haben viele Menschen, vor allem in Provinzstädten, in denen sich alle kennen, Angst, den Staatspräsidenten und die Regierung laut zu kritisieren. Mit Kündigungen, Rufmordkampagnen, auch direkter Einschüchterung wurden Menschen davon abgebracht, "Majestätsbeleidigung" zu begehen.

Im Kinosaal in Kruševac verfängt das an diesem Nachmittag nicht mehr: Die Buhrufe bei der Erwähnung des allmächtigen Staatspräsidenten sind sehr laut und sehr überzeugend. Denn die zweite Mission von ProGlas ist gelungen: Durch ihr eigenes Beispiel den Bürgern Serbiens die Angst zu nehmen, offen und laut ihre Meinung zu sagen. Wer redet, hat keine Angst.

Keine Sekunde im Staatsfernsehen

In fünf Wochen haben über 170.000 Bürger die ProGlas Petition online unterzeichnet. Dennoch widmet ihnen etwa das Staatsfernsehen "keine einzige Sekunde", sagt der Akademiker Vladica Cvetković – und das, obwohl ihre Auftritte landesweit mehr Menschen besuchten, als so manche Kundgebungen politischer Parteien. "Denn", erklärt die Wirtschaftsjournalistin Biljana Stepanović, "im Interesse regierender Parteien ist es, dass die Wahlbeteiligung so gering ausfällt, wie es nur geht."

Tatsächlich neigt das Lager der Nichtwähler eher den Oppositionsparteien zu, zeigen Meinungsumfragen. Vučićs Wähler sind diszipliniert, seine SNS hat 750.000 Parteimitglieder, und die Parteiführung sorgt dafür, dass jeder, der ein Parteibuch hat, zu den Urnen gebracht wird.

Aleksandar Vucic, Präsident von Serbien, spricht auf der Vorwahlkundgebung in der Stark Belgrade Arena, Belgrad 02.12.2023
Im Wahlkampf omnipräsent: Serbiens Präsident Aleksandar Vučić. Bildrechte: IMAGO/MN Press Photo

Der Präsident als Fernsehstar

Genauso wie Initiatoren von ProGlas hat auch die Opposition fast keinen Zugang zu Fernsehsendern mit nationaler Frequenz. Das Büro für Gesellschaftsforschung (BIRODI) rechnete vor, dass im November Vučić allein 37 Prozent aller Informationsendungen im Fernsehen besetzte, seine Regierung 21 Prozent, die SNS 10 Prozent, die Ministerpräsidentin 6 Prozent und Vučićs Koalitionspartner 3,2 Prozent. Alles zusammen 77,2 Prozent. Dabei waren mehr als 88 Prozent der Beiträge über Vučić positiv.

Für alle anderen politischen Akteure blieben im Fernsehen also nur 22,8 Prozent der Sendezeit übrig, und das nur, weil BIRODI auch den kritischen Kabelfernsehsender N1 mitrechnete.

Der Hoffnungsschimmer

Trotz dieser medialen Übermacht der SNS, trotz der Tatsache, dass der Präsident – der diesmal gar nicht zur Wahl steht – und die Regierung staatliche Ressourcen für Wahlwerbung missbrauchen, trotz alledem hat die Opposition gute Chancen auf ein Ergebnis, das das politische Kräfteverhältnis in Serbien deutlich verschieben könnte.

Vor allem in Belgrad, das zeigen die Umfragen, stehen die Zeichen auf Sieg für die Opposition. Und wenn Vučić Belgrad verliert, wäre das der Anfang vom Ende seiner nahezu unangefochtenen Machtposition in Serbien, die es ihm bisher erlaubte, in zunehmend autoritärem Stil durchzuregieren. Denn im zentralisierten Serbien ist die Hauptstadt das größte Reservoir des Kapitals, das Geschäftszentrum des Landes.

serbisches Parlament
Das serbische Parlament hat schon viele Neuwahlen gesehen – die letzte im vergangenen Jahr. Bildrechte: IMAGO/PantherMedia / Vladimir Slavkovic

Der Grund für diese Trendwende: Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist es zehn Oppositionsparteien gelungen, sich auf ein buntes, doch im Allgemeinen prowestliches, bürgerliches Wahlbündnis zu einigen. Serbien gegen die Gewalt (Srbija protiv nasilja) heißt es, entstanden in der Folge der gleichnamigen Massenproteste nach zwei Amokläufen am 3. und 4. Mai, bei denen 20 Kinder und Jugendliche getötet wurden.

Obwohl sprichwörtlich zerstritten, einigten sich die Parteien unter dem Druck ihrer potentiellen Wähler und Umfragen, die für eine gemeinsame Liste wesentlich bessere Chancen sahen, der autoritären Machtausübung Vučićs ein Ende zu setzen. Das Bündnis verspricht die Rückkehr zu demokratischen Standards: Unabhängigkeit der Justiz, der Polizei und Sicherheitsdienste von der Politik, Medien- und Meinungsfreiheit, Wiederbeleben der Zivilgesellschaft und faire Wahlen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Zurückdrängung des Einflusses von Parteien, insbesondere der SNS, deren Mitglieder inzwischen Schlüsselpositionen in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen innehaben: Etwa in Justiz und Verwaltung, in staatlichen Unternehmen oder den Medien. Außerdem kündigt das Oppositionsbündnis einen entschiedenen Kampf gegen die Korruption an, die unter Vučić ungeahnte Ausmaße erreicht hat.

Drei Trümpfe hat das Oppositionsbündnis in der Hand: die soziale Misere, die viele Menschen bei einer zweistelligen Inflation drückt; dass immer mehr Bürger genug von Vučić haben und ihm nicht mehr vertrauen; und ProGlas, das bei Wählern die Hoffnung erweckt, dass ein Machtwechsel tatsächlich möglich ist. Außerdem stehen auf dem Wahlzettel ein Block rechts-patriotischer Parteien, die Sozialistische Partei Serbiens – Koalitionspartner der SNS –, insgesamt 18 Parteien, von denen viele an der Dreiprozenthürde scheitern werden.

So sind nach langer, langer Zeit die Wahlen in Serbien zumindest wieder interessant geworden.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 11. November 2023 | 11:18 Uhr

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