Frau neben einem Mädchen, beide wirken, als hätten sie gestritten
Es gehört zur Entwicklung dazu, dass sich Phasen von Angepasstheit und Kooperation mit Momenten des Widerstands und der Rebellion abwechseln. Bildrechte: PantherMedia/Arne Trautmann

Erziehung Schwierige Kinder gibt es nicht

13. Juni 2022, 10:02 Uhr

Wie geht man mit Kindern um, die sich nicht an Regeln halten können oder wollen? Erziehungsexpertin Nora Imlau hat selbst vier Kinder und weiß, dass es für Eltern eine große Herausforderung sein kann, solche Kinder großzuziehen. Doch gerade dann braucht es Verständnis und Liebe. Zudem ist schlechtes Verhalten meist ein Zeichen tieferliegender Probleme. Und die gilt es herauszufinden.

Nora Imlau
Bildrechte: Maria Herzog

Frech, trotzig, ungezogen – wenn Kinder durch anstrengendes Verhalten auffallen, stresst das auch die Eltern. Schließlich fühlen sie sich verantwortlich dafür, ihre Kinder gut zu erziehen. Wenn sich der Nachwuchs nicht gut benimmt, haben Mama und Papa entsprechend schnell das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Dabei gehört es zum Kind sein, auch mal über die Stränge zu schlagen.

Kinder, die sich sicher und geborgen fühlen, probieren sich aus und überschreiten dabei auch manchmal Grenzen. Das ist ganz normal. Tatsächlich gehört es zur kindlichen Entwicklung, Phasen von Angepasstheit und Kooperation ebenso zu durchlaufen wie Momente des Widerstands und der Rebellion. Beides ist wichtig, um zu einer gereiften Persönlichkeit heranzuwachsen.

Zwei herausfordernde Phasen

Besonders herausfordernde Phasen sind dabei typischerweise die so genannte Autonomiephase zwischen etwa zwei und fünf Jahren, in der Kinder ihren eigenen Willen entdecken, sowie die Pubertät, in der sie sich von ihrem Elternhaus loslösen und ihre Individualität vor allem durch Abgrenzung zum Ausdruck bringen.

Fröhliche Familie mit zwei Kindern, Eltern nehmen Kinder huckepack
So harmonisch geht es in Familien nicht immer zu. Bildrechte: Colourbox.de

Es ist ganz typisch, dass Eltern gerade in diesen Phasen an ihrer Erziehung zweifeln und sich fragen, ob sie alles falsch gemacht haben. Dabei ist es im Grunde genommen ein gutes Zeichen, wenn Kinder Autoritäten auch einmal in Frage stellen und nicht immer hören.

Wenn Kinder immer brav sind und nie widersprechen, ist das eher besorgniserregend. Denn diese Kinder haben oft sehr früh gelernt, nur liebenswert zu sein, wenn sie keinen Ärger machen. Für Kinder ist es aber wichtig, zu wissen: Ich werde bedingungslos geliebt, auch dann, wenn ich mal Mist baue.

Was gute Erziehung bedeutet

So paradox es also klingen mag: Gute Erziehung zeigt sich oft gerade in Kindern, die ihren eigenen Kopf haben und auch mal widersprechen und Dinge anders machen – denn das trauen sich Kinder nur, wenn sie sichere Bindungserfahrungen gemacht haben.

Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, dass Eltern Grenzüberschreitungen nicht einfach achselzuckend hinnehmen, sondern klar aufzeigen, was geht und was nicht: Eltern sollten für Kinder wie Leuchttürme sein. Sie weisen ihren Kindern den Weg und zeigen ihnen, wo sie den sicheren Hafen finden. Der sichere Hafen, das ist für Kinder vor allem ihre Familie. Hier ist ihr Übungsfeld für alle sozialen Interaktionen. Dafür ist es wichtig, dass es auch Konflikte geben darf. Dabei können Kinder lernen, respektvoll zu streiten.

Streit angemessen vorleben

Kindern wird von den Eltern vorgelebt, ob ein Streit bedeutet, sich zu beschimpfen, zu beleidigen oder gar zu bedrohen. Ein Konflikt kann bei allen Emotionen aber auch fair ausgetragen werden. Diese Verhaltensweisen übertragen sie dann auch auf ihre eigenen Strategien der Konfliktlösung.

Streitendes Paar
Konflikte sollten, auch zum Wohl der Kinder, fair ausgetragen werden. Bildrechte: imago/allOver-MEV

Gleichzeitig sind Eltern natürlich nicht die einzigen Menschen, die die kindliche Entwicklung beeinflussen. Auch Gleichaltrige haben einen großen Einfluss und können Konfliktstrategien vorleben, die den Familienwerten stark widersprechen. Auch hier ist es wichtig, klar Stellung zu beziehen: Auch wenn Kinder oft so tun, als wäre ihnen die Meinung ihrer Freunde viel wichtiger als die der Eltern, sollten sie immer wissen, wie die Eltern zu ihrem Verhalten stehen. Und die Eltern dürfen auch ganz klar sagen: So sprechen wir hier bei uns zu Hause aber nicht!

Schlechtes Verhalten als Zeichen tieferliegender Probleme

Wichtig zu wissen: Wenn Kinder sich aus Erwachsenensicht schlecht verhalten, steckt dahinter nur sehr selten der Impuls, einfach provozieren zu wollen. Stattdessen verweist kindliches Fehlverhalten oft auf tieferliegende Probleme.

Ein Junge schreit
Hinter schlechtem Verhalten steckt immer ein Grund. Bildrechte: IMAGO / photothek

Verhalten ist Kommunikation und wenn Kinder sich schlecht verhalten, wollen sie uns damit oft sagen, dass es ihnen schlecht geht. Typisches Beispiel: Wird ein kleines Geschwisterkind geboren, benimmt sich das ältere Kind plötzlich ständig daneben und provoziert augenscheinlich grundlos.
Dahinter steckt eine tiefe Verunsicherung: Wie wichtig bin ich meinen Eltern jetzt noch? Mögen sie das Baby jetzt lieber als mich? Wer solche kindlichen Hilfeschreie abstraft oder durch Ignorieren abzustellen versucht, vergibt die Chance, mit dem Kind in Verbindung zu kommen. Besser wäre es, hinter das anstrengende Verhalten zu schauen und zu versuchen, dem Schmerz auf die Schliche zu kommen.

Ungünstige Verhaltensweisen verschwinden nicht, wenn sie ignoriert werden, sondern wenn das dahinter liegende Bedürfnis erfüllt ist.

Nora Imlau Buchautorin und Journalistin für Erziehungsratgeber

Oft ist die beste Antwort auf Fehlverhalten mehr Zuwendung, mehr Aufmerksamkeit, mehr Verständnis. Doch viele Eltern schrecken davor zurück, weil sie Sorge haben, ungünstige Verhaltensweisen zu verstärken. Diese Sorge ist unbegründet. Ungünstige Verhaltensweisen verschwinden nicht, wenn sie ignoriert werden, sondern wenn das dahinter liegende Bedürfnis erfüllt ist.

Altersgerechte Erwartungen

Darüber hinaus ist es wichtig, immer wieder die eigenen Erwartungen zu überprüfen und sich zu fragen: Kann mein Kind überhaupt leisten, was ich gerade von ihm will? So sind Kinder beispielsweise erst mit fünf Jahren in der Lage, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Davor sind ihnen die Gefühle anderer nicht nachvollziehbar.

In der Folge wirken kleine Kinder oft egoistisch und selbstzentriert, weil sie etwa nicht teilen wollen. Doch ein dreijähriges Kind, dass es schwierig findet, sein Spielzeug zu teilen, ist nicht bockig oder trotzig, sondern zeigt einfach altersgerechtes Verhalten. Es kann noch gar nicht leisten, was wir von ihm erwarten.

Prinz Louis, Kate, die Queen auf dem Balkon. Prinz Louis hält sich die Ohren zu.
Der Urenkel der Queen ist nicht schlecht erzogen, sondern verhält sich, wie es für einen Vierjährigen normal ist. Bildrechte: imago/PA images/Doug Peters/EMPICS

Ein prominentes Beispiel für altersgerechtes Verhalten ist auch der britische Prinz Louis, der jüngste Sohn von Thronfolger William und seiner Frau Kate, der gerade mit seinen vier Jahren mehrere Tage lang den Feierlichkeiten zum Thronjubiläum seiner Urgroßmutter, der Queen, beiwohnen musste. Dabei zappelte er herum, hielt sich die Ohren zu, schnitt Grimassen und wies Zurechtweisungen seiner Mutter zurück, worüber in der britischen Presse teils scharf geurteilt wurde: Der junge Royal sei einfach schlecht erzogen.

Dabei verhielt sich der Junge einfach wie ein ganz normaler Vierjähriger, der keine Angst vor seinen Eltern hat. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, wie lange die kindliche Entwicklung dauert. Erst mit Anfang zwanzig ist unsere Hirnentwicklung soweit fortgeschritten, dass wir die Folgen unserer Handlungen komplett abschätzen können. Mit vier Jahren, aber auch noch im Grundschulalter, sind Kinder weit davon entfernt und von vielen an sie gestellten Erwartungen noch völlig überfordert.

Unterschiedliche Temperamente

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass auch Persönlichkeit und Charakter darüber entscheiden, wann Kinder sich wie benehmen können. So konnte etwa der US-amerikanische Persönlichkeitsforscher Jerome Kagan nachweisen, dass bereits Neugeborene sich stark in verschiedenen Charaktereigenschaften unterscheiden, was einen starken Einfluss auf ihre spätere Entwicklung hat.

Ein Baby liegt in einem Bett.
Fast die Hälfte aller Menschen werden mit einem ruhigen Temperament geboren und können sich selbst regulieren. Bildrechte: IMAGO / Cavan Images

So kommen etwa 40 Prozent aller Menschen mit einem eher ausgeglichenen, ruhigen Grundtemperament zur Welt. Ich nenne sie "regulationsstarke Kinder", weil sie sich von Geburt an recht gut selbst regulieren können und beispielsweise oft keine Schwierigkeit damit haben, alleine einzuschlafen, wenn sie müde sind. Diese Menschen tun sich ein Leben lang recht leicht damit, sich an Regeln zu halten und werden oft als sehr unkompliziert empfunden. Das ist aber nicht der Verdienst ihrer Eltern, das liegt einfach in ihrer Natur.

Weitere 40 Prozent aller Kinder brauchen hingegen mehr Unterstützung bei der Regulation ihrer Emotionen und mehr Zeit für die Entwicklung verschiedener emotionaler Kompetenzen wie etwa der zur Selbstregulation. Die Eltern dieser Kinder fragen sich oft, warum ihr Kind zum Beispiel noch mit zwei Jahren Begleitung beim Einschlafen braucht, obwohl das acht Wochen alte Nachbarskind problemlos allein im eigenen Bettchen schläft. Dabei liegt das unterschiedliche Verhalten schlicht in den unterschiedlichen Bedürfnissen begründet.

Gefühlsstarke Kinder

Und schließlich gibt es noch jene Kinder, die ich gefühlsstarke Kinder nenne. Sie machen etwa 20 Prozent eines jeden Geburtenjahrgangs aus. Diese Kinder kommen mit einer besonders herausfordernden Persönlichkeitsstruktur zur Welt: Sie weinen mehr als andere Babys, schlafen weniger, beruhigen sich oft nur sehr schwer und brauchen sehr viel Nähe und Aufmerksamkeit. Oft bleiben diese Kinder viele Jahre lang bedürftiger und ecken mit ihrem Verhalten auch mehr an, weil sie sich wilder, ungestümer und rebellischer verhalten als andere Kinder.

Doch sie sind nicht schlecht erzogen, sie ticken einfach anders als andere Kinder und brauchen eine besonders klare, zugewandte Begleitung, um sich in der Welt zurechtzufinden.

Was gefühlsstarke Kinder konkret brauchen Gefühlsstarke Kinder benötigen verlässliche Regeln und Strukturen, aber auch viel Verständnis und Geduld, wenn sie es noch nicht schaffen, sich an alle Grenzen zu halten.

Weil sie gefühlt ständig unter Strom stehen und sehr stressempfindlich sind, ist es für sie außerdem besonders wichtig, ihre Eltern als Ruhepole zu erleben, von denen sie lernen können, wie sie sich selbst beruhigen. Keine einfache Aufgabe, wenn Eltern selbst gestresst sind vom Alltag mit ihrem herausfordernden Kind.

Doch wenn wir verstehen, dass unser Kind uns nicht ärgern will, sondern Hilfe und Unterstützung im Umgang mit seinem besonderen Temperament braucht, ist schon viel gewonnen.

Ich kenne mich mit dem Thema auch deshalb so gut aus, weil ich selbst ein gefühlsstarkes Kind habe. Wir müssen hier unsere Vorstellung loslassen, dass alle Kinder die gleiche Erziehung brauchen, und unsere Kinder so begleiten, wie es wirklich zu ihnen und ihrer Persönlichkeitsstruktur passt. Dann entwickelt sich eine Eltern-Kind-Beziehung, die Kindern Halt und Sicherheit schenkt – und das ist der beste Nährboden für gutes Verhalten. Zumindest auf lange Sicht.

Unsere Expertin

Nora Imlau
Bildrechte: Maria Herzog

Leben Nora Imlau

Nora Imlau

Nora Imlau ist Bestsellerautorin (ihr neuestes Buch "Mein Familienkompass" ist im September 2020 im Ullstein Verlag erschienen) und Journalistin für Erziehungsratgeber. Sie bloggt übers Kinderkriegen und Kinderhaben, hält Vorträge und Workshops.

Foto: Maria Herzog

Quelle: Nora Imlau, MDR um 4

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 13. Juni 2022 | 17:00 Uhr

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