Schabbat Schalom | MDR Kultur | 01.07.2022 Die rote Kuh: Michal Natovich über ein Ritual gegen die Angst

07. April 2022, 14:49 Uhr

Auch wenn der Tod unser Leben begrenzt – das Leben selbst endet nicht. Wie ein Fluss fließt es immer weiter. Das ist die tröstliche Botschaft des Wochenabschnitts Paraschat Chukkat, meint die Leipziger Religionspädagogin Michal Natovich. Sie erklärt, welch überraschende Rolle vermeintlich unsinnige Regeln oder Rituale haben können, für unser Leben und am Beispiel des Opfers einer roten Kuh für den Umgang mit einer unserer größten Ängste: der Angst vorm Sterben.

Im Wochenabschnitt dieser Woche, Paraschat Chukkat, geht es um eines der eigenartigsten Rituale, das Juden auferlegt wurde. G-tt befiehlt Mose und Aaron, wie der Priester Eleasar eine rote Kuh (Para adumma auf Hebräisch) rituell opfern soll.

Das Opfer der roten Kuh

Die rote Kuh ist ein weibliches Rind, das noch nie trächtig war, weder gemolken noch eingespannt wurde. Diese Kuh wurde den Priestern als Opfer dargebracht, verbrannt, und ihre Asche wurde mit Wasser vermischt. Das Wasser mit der Asche war Teil eines Reinigungsrituals für Menschen, die mit einem toten Körper in Berührung gekommen waren. Dieses Wasser wurde auf unreine Menschen gespritzt, um sie zu reinigen, damit sie die jüdische Stiftshütte oder den Tempel wieder betreten konnten.

Drei Sichtweisen auf ein unverständliches Gesetz

Obwohl das Ritual seit den Tagen des jüdischen Tempels, also seit etwa 2.000 Jahren, nicht mehr praktiziert wird, ist es nach wie vor wichtig um zu verstehen, welche Bedeutung das Gesetz in der Tora hat. Gesetz, oder Chok auf Hebräisch, ist ein Gesetz, dessen Logik wir nicht verstehen können. Im Gegensatz dazu dienen viele andere jüdische Gesetze der sozialen Gerechtigkeit (wie z.B. Spenden für Arme), oder sie sind Teil des historischen Gedächtnisses. Aber einige Gesetze können als irrational oder als Aberglaube angesehen werden.

Die jüdischen Weisen versuchten, diese Art von vermutlich nicht rationalen Gesetzen zu erklären.  Eine der berühmtesten Erklärungen wurde von Rabi Jochanan ben Zakkai gegeben.  Er erklärte, dass das Gesetz einfach der Ausdruck des göttlichen Willens ist. Gott hat entschieden, dass bestimmte Dinge verunreinigen und bestimmte reinigen, und so ist es nun einmal.

Andere Weisen, wie Maimonides, hatten eine ganz andere Auffassung. Maimonides glaubte, dass kein göttlicher Befehl irrational sei. Gesetze wie das Rote-Kuh-Ritual scheinen nur irrational zu sein. Diese Gebote sind für uns heute schwer zu verstehen, da wir den kulturellen Kontext vergessen haben. Im Großen und Ganzen sind solche Praktiken deshalb ausgestorben.

Die Bedeutung von Ritualen

Rabbi Jonathan Sacks schlägt eine dritte Sichtweise auf diese schwer verständlichen Gesetze vor: Seiner Ansicht nach sind diese Gesetze dazu bestimmt, das rationale Gehirn zu umgehen und auf seine emotionalen Teile einzuwirken. Sie sprechen die unbewussten Seiten in uns an. Rabbi Sacks zufolge ist der gesamte Reinigungsprozess ein Ritual, das den Menschen helfen soll, mit der größten aller Ängste umzugehen: der Angst vor dem Sterben.

Die Person, die mit einem toten Körper in Berührung gekommen ist, hat die Tatsache des Todes erfahren. Bewusst oder unbewusst hat das eine gewisse beängstigende Wirkung. Das rote Kuh-Reinigungsritual soll der Person helfen, damit umzugehen.

Das Ritual enthält, wie jedes Ritual, gewisse symbolische Elemente. Das Tier selbst ist ein Symbol für reines, ungezähmtes Leben. Die Farbe Rot ist die Farbe des Blutes, das die Essenz des Lebens ist. Die Asche selbst wurde dann in Wasser aufgelöst, was die Kontinuität, den Fluss des Lebens symbolisiert. Dieses Ritual bietet dem Menschen, der daran teilnimmt, eine Möglichkeit, mit dem Tod umzugehen. Es zeigt auf symbolische Weise, dass unser Leben enden kann, aber das Leben selbst endet nicht. Das Leben ist ein nie endender Fluss, und ein Teil von uns wird in die Zukunft getragen.

So oder so sind diese aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbaren Gesetze eine Gelegenheit, einmal mehr über die Bedeutung von Regeln und Ritualen in unserem Leben nachzudenken. Sind sie immer rational? Haben sie eine versteckte Bedeutung? Und wenn ja, welche ist das?

In diese Sinne – Schabbat Schalom

Zur Person: Michal Natovich Michal Natovich wurde 1979 in Israel geboren und wuchs in einer modernen orthodox-jüdischen Familie auf. Sie studierte Literatur auf Lehramt und arbeitete nach ihrem Diplom-Abschluss mehrere Jahre als Lehrerin für Hebräische Sprache und Literatur an einer israelischen Schule. Seit 2012 wohnt sie mit ihrer Familie in Leipzig. Dort war sie als Hebräisch-Dozentin in verschieden Institutionen tätig. Seit 2020 arbeitet sie als Lehrerin für Jüdische Religion in Leipzig und Dresden.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Mehr aus Religion und Gesellschaft im MDR

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 01. Juli 2022 | 15:45 Uhr