Teasergrafik Altpapier vom 16. Dezember 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 16. Dezember 2020 Der Elefant im Raum

16. Dezember 2020, 12:59 Uhr

Warum der Begriff "harter Lockdown" in die Irre führt. Warum eine Studie zum Thema Medien und Vermögenssteuer instruktiv ist. Warum der MDR wieder Kritik wegen False Balance auf sich zieht. Warum eine neue medienpolitische Idee der CDU gar nicht neu ist. Ein Altpapier von René Martens.

Schoßhündchen-Journalismus

Als im März der erste Lockdown verordnet wurde, war unter den Journalisten die Einschätzung, dass es sich nicht um einen "harten" Lockdown handle, noch relativ weit verbreitet. Mit einem Lockdown wie in Wuhan ließen sich die Maßnahmen nicht vergleichen, hieß es. Jetzt, da der erste Lockdown wiederholt wird, gilt dieser nun aber plötzlich doch als "hart" - vermutlich deshalb, weil wir zwischendurch ja einen Lockdown light mit einigen eher symbolpolitischen Teil-Maßnahmen hatten.

Allen, denen sämtliche Lockdown-Phasen schwer zu schaffen machen, mag das haarspalterisch vorkommen, aber zumindest unter dem einen oder anderen medienkritischen Aspekt ist die Unterscheidung wichtig. Warum? Werfen wir zunächst einen Blick auf einen Tweet des Politikwissenschaftlers und Publizisten Maximilian Pichl:

"Schon wieder Leitartikel, die darauf abstellen, die Bürgerinnen und Bürger hätten sich im #LockdownLight nicht an die Beschränkungen gehalten. Über den Elefanten im Raum will niemand reden: Dass der unhygienische Normalbetrieb im Logistikzentrum, der Fabrik etc. einfach weiterlief."

Und weil jetzt in den Fabriken ja auch alles weiter läuft und weiterhin "jeder Abteilungsleiter entscheidet, ob Menschen in unsichere Büros kommen" (Andrej Reisin), führt der Begriff "harter Lockdown" in die Irre. Den gab es, wie gesagt, in Teilen Chinas oder in Neuseeland. Aber in Deutschland gab und gibt es ihn (bisher) nicht.

Welche Leitartikler geben sich nun besonders viel Mühe, um vom "Elefanten im Raum" (Pichl) abzulenken?

Zum Beispiel Stefan Braun, der in der Montagsausgabe der SZ kommentierte:

"Wer nicht hören will, muss fühlen - so altmodisch und abstoßend dieser Spruch klingt, so treffend beschreibt er doch, was passiert ist. Denn auch wenn die Verlockung sehr schnell groß sein wird, "der Politik", "der Regierung" oder "den Ministerpräsidenten" die Schuld zuzuweisen - diesen Schlamassel haben sich alle gemeinsam eingebrockt. Das Kollektiv hat versagt; so muss man das zusammenfassen."

Zum Beispiel Christian Grimm (Augsburger Allgemeine):

"Jetzt wird Härte verordnet, weil es nicht mehr anders geht. Vorwerfen kann man den Mächtigen des Landes, dass sie zu lange an den mündigen Bürger geglaubt haben. Dass nun die Freiheit eines jeden rigide beschnitten wird, müssen sich hierzulande Millionen selbst vorwerfen."

Nein, den "Schlamassel" (Braun) haben "uns" nicht zuletzt die "Mächtigen des Landes" (Grimm) eingebrockt, die sooo mächtig dann eben doch nicht sind, jedenfalls nicht genug, um Produktionsstätten zu schließen, wo Güter hergestellt werden, die derzeit niemand braucht.

Und warum wird der Elefant im Raum nicht gesehen? Zumindest als Ergänzungslektüre zur Beantwortung bietet sich hier die Otto-Brenner-Stiftungs-Studie "Streitfall Vermögenssteuer? Defizite in der Medienberichterstattung?" an. Diese "Defizite" lassen sich zum Beispiel unter anderem daran festmachen, dass die taz zwischen 2000 und 2018 nur 0,02 Prozent aller ihrer Beiträge dem Thema der Steuern für Erbschaften und Vermögen widmete und die FAZ 0,008 Prozent. Die Studie stammt aus dem Oktober, und, anders als die meisten anderen der Otto-Brenner-Stiftung, hat sie bisher wenig Verbreitung gefunden. Ich bin auf die Studie von Hendrik Theine und Andrea Grisold gerade erst aufmerksam geworden, weil Wolfgang Storz für die neue Ausgabe der Monatszeitung Oxi darüber geschrieben hat. Storz, der sich dem Thema vorher schon im "Bruchstücke"-Blog gewidmet hat, schreibt unter anderem:

"Die Unterschiede graben sich mit der Pandemie tiefer und tiefer. Sie leert Hartz-IV-Empfängerinnen, Kurzarbeitenden, Entlassenen, kleinen Selbständigen und Kulturschaffenden Konten wie Energiehaushalte, die Konten Zehntausender laufen über, ohne dass die einen einzigen Finger krumm machen. Trotzdem: Als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken in diesem April als Ruferin in der Wüste das Thema Super- und Überreiche und höhere Vermögenssteuer ansprach, machte sich die sonst nicht selten seriöse Süddeutsche Zeitung nur lustig: 'Huch, eine Vermögensabgabe.' Ab in den Papierkorb mit dem Vorschlag, gleich kommt der Putzmann und leert."

Allzu viele deutsche Politik- und Wirtschaftsjournalisten verstehen sich halt als Schoßhündchen der "Super- und Überreichen" (Storz) - und das ist sowohl ein Teil der Erklärung dafür, warum sie in die "Mach mein Herrchen nicht an"-Attitüde verfallen, wenn Politiker in Aussicht stellen, diesen Herrchen ein paar Peanuts wegzunehmen. Und es auch ein Teil der Erklärung dafür, warum die derzeit den Elefanten im Raum ignorieren.

"Die Selbstheilungskräfte des Körpers"

"False Balance till we die" lautete vor rund zwei Monaten hier die Überschrift einer Kolumne, und Anlass dafür war ein Hörfunk-Interview, das der MDR mit einem Corona-Fake-News-Verbreiter geführt hat. Man könnte die Headline heute wieder bringen, denn für einen Beitrag zum Thema Corona-Impfstoff in der im MDR Fernsehen zu sehenden Sendung "MDR um 11" hat Reporter Stefan Bernschein die Heilpraktikerin Anne-Katrin Tempel interviewt. Unter anderem taz-Redakteur Sebastian Erb hat bei Twitter darauf hingewiesen.

"Das ist keine beängstigende Krankheit", sagt die Heilpraktikerin in dem Film über Corona, und das ist keine Überraschung angesichts der schwurbel-ideologischen Inhalte, die auf der Website ihrer Praxis via Link empfohlen werden. Sie rate dazu, "die Selbstheilungskräfte des Körpers anzuregen", sagt sie dem MDR-Reporter, zumindest gibt dieser das in indirekter Rede so wieder. Die gemeingefährlichen Äußerungen lässt Bernschein nicht nur so stehen. Er sagt nach dem Gespräch sogar: Auch wenn er in Sachen Impfen zu einer Pro-Haltung tendiere, habe ihm zumindest zum Teil "gefallen, was Frau Tempel gesagt hat".

Stefan Bernschein verkörpert einen zwischen leutselig, nassforsch und locker-flockig changierenden Reporter-Typus, der in der ARD recht weit verbreitet ist. Dieser Stil lässt sich einigermaßen verschmerzen, wenn es um banale Alltagsfragen geht. Für Themen von existenzieller Bedeutung gilt das eher nicht. Einer der bekannteste Vertreter dieses Hallodri-Reportage-Fernsehens ist Philipp Engel vom Hessischen Rundfunk, und es versteht sich fast von selbst, dass auch er unter dem Titel "Corona - die große Verschwörung?" schon einen Beitrag unter die Leute gebracht hat, der es in puncto Fahrlässigkeit mit dem des MDR aufnehmen kann.

Etwas kurios ist, dass der MDR einen Textbeitrag zu dem Thema, in den der erwähnte Filmbeitrag eingebettet ist, mit einem "Update" versehen hat:

"In der ersten Version dieses Artikels kam eine Heilpraktikerin zu Wort. Daraufhin haben wir vermehrt die Kritik erhalten, dass wir ihre Aussage mit der eines Arztes gleichsetzen. Das sollte der Artikel aber nicht aussagen. Deshalb haben wir die Aussage herausgenommen."

So lange der Film mit den schwurbeligen Äußerungen der Heilpraktikerin noch abrufbar ist, handelt es sich hier aber eher um eine niedrigschwellige Form der Schadensbegrenzung.

Teile der CDU wollen ARD und ZDF "privatisieren"

Obwohl in der vergangenen Woche Ministerpräsident Reiner Haseloff die Abstimmung über den Ersten Medienänderungsstaatsvertrag und damit die Erhöhung des Rundfunkbeitrags abgesagt hat, um seine Haut und seine Spitzenkandidatur für die kommende Landtagswahl zu retten, haben sie sich im Magdeburger Parlament bei der Sitzung am gestrigen Dienstag - dem eigentlich vorgesehenen Abstimmungstermin - doch noch ein bisschen gekabbelt.

Die Mitteldeutsche Zeitung wartet mit der sprachlich möglicherweise suboptimalen Teil-Überschrift "ARD und ZDF spalten weiter die Koalition" auf. Und Max Zeising schreibt im ND:

"Es wurde deutlich: Die Stimmung ist nach wie vor höchst angespannt, die politische Landschaft in Sachsen-Anhalt ist weiterhin brüchig."

Michael Ridder erinnert im aktuellen epd-medien-Tagebuch — ähnlich wie Claudia Tieschky in der SZ in der vergangenen Woche (Altpapier) —, dass die Blockade von Magdeburg hätte verhindert werden können, wenn die für die Medienpolitik Hauptverantwortlichen in diesem Land sich ein bisschen intensiver mit einer grundlegenden Rundfunkreform beschäftigt hätten:

"Kluge Strategen in den Rundfunkreferaten der Landesregierungen haben bereits vor Jahren den Fall kommen sehen, dass die AfD in ostdeutschen Parlamenten eine Bedeutung erlangen könnte, die eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags auf dem üblichen Weg nahezu unmöglich macht. Das Mittel gegen dieses Demokratiegift lag seit Mitte 2017 auf dem Tisch und wurde von der maßgeblich beteiligten Kieler Staatskanzlei 'ABC-Modell' (Auftrag, Budgetierung, Controlling) genannt. Es sah unter anderem ein Indexmodell vor, mit dem die Beitragserhöhung an die allgemeine Preissteigerung gekoppelt worden wäre (…). Vor gut einem Jahr wurde das Modell dann für vorerst gescheitert erklärt - man habe sich im 16-Länder-Kreis nicht einigen können, hieß es. Eine Fehlentscheidung, die sich nun bitter rächt (…)."

Der aktuell medienpolitisch brisanteste Vorschlag betrifft allerdings nicht die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Mit solchen Kinkerlitzchen gibt sich der "Bundesfachausschuss Wirtschaft, Arbeitsplätze, Steuern" der CDU gar nicht erst ab. Dieses zumindest mir bisher nicht aufgefallene Gremium hat ein Papier vorgelegt, dessen Vorschläge 

"darauf hinaus laufen, ARD, ZDF und Deutschlandradio in ihrer jetzigen Form abzuschaffen".

So fasst es der Spiegel zusammen. Redakteur Christian Reiermann schreibt weiter:

"'Langfristig sollten die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten schrittweise privatisiert werden', heißt es in dem Papier. Bis es so weit ist, 'sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf Aufgaben beschränkt werden, die private Anbieter nicht oder nur unzureichend gewährleisten können'. Als Beispiele nennen die CDU-Experten die Bereiche Information, Bildung und Kultur."

Der Fachausschuss schlägt nun vor, das ins Programm für den kommenden Bundestagswahlkampf aufzunehmen.

Originell sind diese Ideen nun eher nicht, sie sind eine Mischung aus Vorschlägen, die die AfD längst vorgebracht hat - etwa 2016 in einem Grundsatzprogrammentwurf und 2020 in einem "Grundfunk" genannten "Konzept", das aber offenbar nur bei sieben Landtagsfraktionen der Partei auf Wohlgefallen stieß. 

Der ZDF-Fernsehrat Leonard Dobusch schrieb neulich bei netzpolitik.org:

"Es ist kein Zufall, dass die radikale Ablehnung des Konzepts und Prinzips öffentlich-rechtlicher Medien die extreme Rechte von der Schweizer SVP über die österreichische FPÖ bis hin zur deutschen AfD vereint. Sie alle fordern offen deren Abschaffung. Jede Kürzung und Schwächung öffentlich-rechtlicher Medien ist für sie ein Schritt in die richtige Richtung."

Teile der CDU haben nun offenbar die Ambition, dass ihre Partei künftig in Aufzählungen wie die obige aufgenommen wird.


Altpapierkorb (Altpapier-Jahresrückblicke zu Talkshows und Wissenschaftsjournalismus, die Nieman-Lab-Prognosen fürs Medienjahr 2021, digitalpolitisch tendenziell revolutionäre EU-Verordnungsentwürfe, der Anwalt der Überlebenden des Anschlags auf Charlie Hebdo, zwei RTL-Mitarbeiter möglicherweise bald vor Gericht)

+++ In dieser Woche sind der dritte und der vierte Altpapier-Jahresrückblick erschienen: von Jenni Zylka einer über Talkshows und von mir einer über Wissenschaftsjournalismus. Konnten andere Wissenschaftsthemen von der Aufmerksamkeit für Corona profitieren? Hat die Corona-Pandemie einen neuen Blick auf andere Krisen (und den Umgang damit) ermöglicht? Ist der Beruf des Wissenschaftsjournalisten letztlich nicht doch frustrierend? Das sind nur einige der Fragen, denen ich in dem Beitrag nachzugehen versuche.

+++ Was im Laufe des Dezembers auch stets aufpoppt: die Prognosen, die das Nieman Lab bei Medienexperten für das kommende Jahr abfragt. Ich habe längst nicht alle "Predictions for  journalism 2021" gelesen. In einen Beitrag zum Thema Diversität (siehe dazu ausführlich zuletzt ein Jubiläums-Altpapier von Alice Hasters) etwa hat mich aber die von 50 Cent inspirierte Headline "Get representative, or die trying" reingezogen. Er stammt von Hadjar Benmiloud, der Gründerin einer ungewöhnlichen Medienberatungsfirma in den Niederlanden. Sie schreibt: "In 2021, any discussion around diversity, equity, and inclusion (DEI) in newsrooms will either go one of two ways. Center stage, based on quality journalism arguments and enabling newsrooms to adapt and innovate. Or sidelined, as we’ve seen in so many newsrooms before. These places start with moral arguments and 'nice to support' initiatives (…) DEI is framed as some esoteric undefined ideal beyond the horizon, one that never gets prioritized and never gets any closer." Ihre Prognose: "Only newsrooms that see DEI as a core priority of every journalism function will survive. DEI in journalism is not about 'offering opportunities' to less privileged parties, but about maximizing their power to reflect reality and offer journalism a chance to fulfill its core task — to cover reality with truth — in a brave new world."

+++ "Sie gilt schon länger als Schrecken des Silicon Valley" - mit diesen Worten stieg Markus Preiß, der EU-Korrespondent der ARD, gestern in einem Bericht in der 20-Uhr-"Tagesschau" ein. Gemeint ist EU-Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager, die mitverantwortlich ist für einen, so netzpolitik.org, "umfassenden", wenn nicht gar "revolutionären" Vorschlag "für die Neuordnung der digitalen Welt". "Können zwei EU-Verordnungen die Macht von Google, Apple, Facebook und Amazon begrenzen?" fragt Patrick Beute (Spiegel) und leitet seine diesbezüglichen "Antworten" in der Regel mit der Einschränkung ein, dass "viele Formulierungen in den Entwürfen Spielraum für Interpretationen lassen".

+++ Nadia Pantel porträtiert für die SZ Richard Malka, den Anwalt, der die Überlebenden des Terroranschlags auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo vertritt: "Als Malka vergangene Woche sein Abschlussplädoyer hielt, beschrieb der Schriftsteller Yannick Haenel dies als 'Katharsis'. Ein großes Wort - das zu Malka passt. Schließlich geht es immer um das Große, wenn er vor Gericht auftritt. Auf dem Papier vertritt er seine Klienten, doch seine Plädoyers sind grundsätzliche Kampfreden für die Freiheit."

+++ Ein RTL-Beitrag, der 2018 einen Lynchjustiz-Angriff auf einen vermeintlichen Pädosexuellen auslöste (Altpapier), könnte bald noch Folgen für einen Reporter und eine freie Mitarbeiterin des Senders haben. Der Tagesspiegel berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Bremen die beiden Mitarbeiter des Senders vor Gericht bringen möchte.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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