Zwei Kinder sitzen nebeneinander vor Computern und spielen Videospiele. 2 min
Die Schüler von Christoph Kehl bauen an einer Gemeinschaftsschule in Jena das Antike Rom in einem Videospiel nach. Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Schule der Zukunft? Games im Unterricht

20. Oktober 2023, 00:01 Uhr

Während ein Großteil der Bevölkerung Videospiele hauptsächlich als Unterhaltungsmedium betrachtet, beschäftigen sich einige wenige mit dem Potenzial, das darüber hinaus in den digitalen Spielen schlummert – zum Beispiel mit Blick auf die Bildung. In vereinzelten Schulen werden Videospiele bereits im Unterricht eingesetzt. Ist das nur Spielerei oder bieten Games in der Schule tatsächlich einen Mehrwert?

Videospiele in der Schule – ein Versäumnis

Besonders, aber nicht nur bei Kindern und Jugendlichen sind Videospiele ein großer Bestandteil des Alltages. Unter den sechs bis 13-Jährigen spielen 70 Prozent digitale Spiele, davon ein Drittel täglich. Bei Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren geben nur sechs Prozent an, gar keine digitalen Spiele zu nutzen. Dass Videospiele trotzdem so gut wie keine Rolle in der Schule spielen, hält Dr. Lucas Haasis von der Universität Oldenburg für nicht zeitgemäß:

Porträt von Lucas Haasis.
Dr. Lucas Haasis ist Postdoc und Dozent für Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Oldenburg. Er bietet unter anderem Seminare und Workshops zu Einsatzmöglichkeiten digitaler Spiele im Geschichtsunterricht an. Bildrechte: Mustapha Ousellam

"Nicht nur in der Schule, sondern schon zuvor in der Lehramtsbildung spielen Spiele heute noch immer nur eine marginale Rolle. Das ist nicht nur ein Manko, sondern ein Versäumnis, das an der Lebensrealität von Schule und Freizeit von Schülern und Schülerinnen vorbeigeht."

Lucas Haasis bietet unter anderem Seminare für angehende Lehrkräfte zum Einsatz von Videospielen im Unterricht an. Für ihn gibt es gleich mehrere Gründe, warum Videospiele in die Schule gehören: Im Moment ließe man Kinder und Jugendliche größtenteils mit digitalen Spielen allein. Durch den Einzug von den Spielen in die Schulen könne man Kinder auch im privaten Umgang mit Videospielen unterstützen und so die individuelle Medienkompetenz fördern. So sollen Kinder in der kontrollierten Umgebung der Schule "einen neuen, auch kritischen Blick auf Spiele entwickeln", so Lucas Haasis.

Ein bekannter Spieleentwickler hat mal zu mir gesagt: 'Spielen tun sie sowieso! Entweder wir gehen darauf ein oder wir verlieren sie' – hat er recht.

Dr. Lucas Haasis, Universität Oldenburg

Vom Bekannten zum Unbekannten

Als weiteren Pluspunkt sieht Lucas Haasis die Möglichkeit, Videospiele als Türöffner für andere Themen zu nutzen. Bei digitalen Spielen seien die Schüler und Schülerinnen oftmals die Experten und nicht die Lehrkraft. Dadurch, dass Games zum Thema in der Schule gemacht werden, könne über das Bekannte dann zu etwas Unbekanntem übergeleitet und so ein Lernerfolg erzielt werden:

"Was wir häufig erfahren im Klassenraum und im Seminarraum ist, […] wie spannend und lehrreich es ist, wenn über etwas gesprochen wird und werden kann, was ihnen sehr bekannt ist, um gleichzeitig darüber dann dazu zu animieren, über etwas Neues oder etwas weniger Bekanntes etwas zu lernen."

Wie jedes andere Medium im Unterricht

Doch wie kann das in der Praxis aussehen? Christoph Kehl ist Lehrer für Ethik und Geschichte an einer Gemeinschaftsschule in Jena und setzt regelmäßig Videospiele in seinem Unterricht ein. Auf die Frage, wie man sich eine Unterrichtsstunde mit Games vorstellen kann, spricht er von vielfältigen Einsatzmöglichkeiten: "Es gibt nicht die typische Unterrichtsstunde mit Games. Wie ich Spiele im Unterricht einsetze, hängt immer von der Gruppe ab, von den Rahmenbedingen […] Deswegen variiert das ganz stark, was wir dann konkret mit dem Spiel machen". Das gängige Bild, dass Kinder und Jugendliche einfach im Unterricht vor die Geräte gesetzt werden und so zocken wie daheim, stimme so nicht. Oft würden auch die Erwartungen der Kinder enttäuscht, wenn nicht einfach zum Vergnügen gespielt wird. "Es bleibt natürlich Unterricht und es ist einfach ein anderes Medium, das man hier zum Lerngegenstand macht", so Christoph Kehl.

Porträt von Christoph Kehl.
Christoph Kehl ist Lehrer an der Gemeinschaftsschule Kulturanum in Jena und setzt in seinem Geschichts- und Ethikunterricht auch Videospiele ein. Bildrechte: Christoph Kehl

So beschreibt der Geschichtslehrer, dass in einer Unterrichtsstunde, in der er das Spiel "Valiant Hearts" einsetzte, welches im Ersten Weltkrieg spielt, die Schüler und Schülerinnen in mehreren Kleingruppen an den Geräten saßen. Während des Spielens hatten die Schüler Beobachtungsaufträge und sollten das Geschehen analysieren, abschließend wurden die Ergebnisse in der Klasse besprochen.

Games im Unterricht sind kein Selbstläufer

Ohne solche begleitenden Aufgaben geht es nicht. Man könne die Schüler und Schülerinnen nicht einfach vor ein Spiel setzen und erwarten, dass so die Lernziele erreicht werden:

"Man stellt sich immer vor, man daddelt und im besten Fall hat man am Ende ganz, ganz viel gelernt. Automatisch wird das für die wenigsten Schülerinnen und Schüler funktionieren. […] Sie werden spielen, und sie haben wahrscheinlich auch eine gute Zeit. Ob sie dabei viel gelernt haben, das zeigt sich erst am Ende und hängt natürlich vom didaktischen Einsatz ab."

Porträt von Christoph Kehl. 17 min
Für den Lehrer Christoph Kehl sind Videospiele im Unterricht wie jedes andere Medium. Er betont aber, dass die digitalen Spiele nicht der "Heilige Gral" seien und es klare Arbeitsaufträge brauche, dass Lernziele erreicht werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Christoph Kehl

Kehl betont, dass Videospiele nicht der "Heilige Gral" der Lehre seien. Auch Lucas Haasis ist der Überzeugung, dass der Einsatz von Videospielen in einem didaktischen Rahmen und mit Anleitung stattfinden muss. Ohne Arbeitsaufträge oder weitere Quellen bestehe die Gefahr, dass sich die Lernenden "im wahrsten Sinne verlaufen".

Spiele sind eine Ergänzung zu anderen Medien, kein Ersatz, sie funktionieren nur in Kombination.

Dr. Lucas Haasis, Universität Oldenburg

Über, mit und durch Videospiele lernen

Für Christoph Kehl sticht bei der Lehre mit Games besonders hervor, dass er damit mehr Schülerinnen und Schüler erreicht als mit einem komplexen Text. An der Gemeinschaftsschule, an der er unterrichtet, sind zum Teil auch Sprachbarrieren eine Herausforderung. Durch die Spiele würden fast alle Schüler und Schülerinnen aus den heterogenen Klassengruppen einen Zugang zum Thema finden. Er hat die Erfahrung gemacht, dass durch Videospiele abstrakte Thematiken aus dem Unterricht, wie zum Beispiel Geschichte und deren Darstellung, erfahrbar und erlebbar werden. "Da brauche ich keinen Text, sondern da hat jeder Schüler und jede Schülerin eine Erfahrung und hat irgendwie eine Intuition. Und mit dieser Intuition kann ich arbeiten", so der Lehrer.

Das, was Videospiele im Allgemeinen von anderen Medien abhebt, ist die Möglichkeit zur Interaktion. Das sei laut Lucas Haasis auch der Knackpunkt im Einsatz von Videospielen, den kein anderes Medium in der Schule bieten kann:

"Im Spiel selbst zu entscheiden, sich selbst und die eigenen Entscheidungen als wirksam zu erfahren, aber sich auch einfach selbst zum Beispiel in historisch inszenierten Lebenswelten virtuell zu bewegen, sie zu erkunden – wo gibt es das schon? Das ist eine neue, andersartige und wichtige Erfahrung, die durch kein anderes Medium abgedeckt werden kann – die im Gegenzug in der alltäglichen Alltagswelt aber immer relevanter wird."

Werden bald alle mit digitalen Spielen lernen?

Sowohl der Geschichtslehrer Christoph Kehl als auch der Geschichtswissenschaftler Lucas Haasis sehen großes Potenzial in Videospielen für den Einsatz in der Schule. Auch internationale Studien finden positive Effekte von Videospielen in der Bildung und das unabhängig von Schulform, Alter der Lernenden oder Schulfach. Werden also bald vermehrt Videospiele in den Schulen zum Einsatz kommen? Bisher zählen Videospiele im Gegensatz zu Lern-Apps nicht zu den Lernmedien, die vom Freistaat Thüringen finanziell unterstützt werden, wie ein Sprecher des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) auf Nachfrage mitteilte.

Dennoch werden bereits seit mehreren Jahren Fortbildungen für Lehrkräfte angeboten, die sich auch um den Einsatz von Videospielen im Unterricht drehen. Im neuen Fach "Medienbildung und Informatik" sollen neben anderen Medien auch digitale Spiele mehr als bisher in den Fokus gerückt werden. Nach dem Lehrplan, der sich noch im Entwurfsstadium befindet, geht es hier vor allem um die Ausbildung von Kompetenzen im Umgang mit Videospielen.

Ob und wie das Potenzial, das in Videospielen steckt, zukünftig in den Schulen ausgeschöpft wird, hängt auch davon ab, welchen Bezug kommende Lehrkräfte zur Thematik haben. Lucas Haasis will seinen Studierenden Mut zum Ausprobieren mit auf den Weg geben:

"Traut euch auf unbekanntes Terrain, aber informiert euch umfassend vorher, geht kompetent an die Sache. [...] Traut euch zu spielen und gemeinsam zu spielen: Die Schüler und Schülerinnen werden es euch danken."

Sowohl Christoph Kehl als auch Lucas Haasis sind von ihrer Lehrmethode überzeugt, allerdings braucht es für den Lernerfolg mehr als nur die technischen Vorraussetzungen. Damit Videospiele im Unterricht einen Mehrwert für die Schüler und Schülerinnen haben, braucht es Anleitung und Lehrkräfte, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Ohne klare Arbeitsaufträge und Lernziel bleiben die Spiele hauptsächlich Spielerei.

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Für den Lehrer Christoph Kehl sind Videospiele im Unterricht wie jedes andere Medium. Er betont aber, dass die digitalen Spiele nicht der "Heilige Gral" seien und es klare Arbeitsaufträge brauche, dass Lernziele erreicht werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Christoph Kehl
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