NSU Mord an Polizistin: Hat das BKA mögliche Motive übersehen?

23. Oktober 2023, 05:00 Uhr

Nach der Analyse der Aussage der NSU-Terroristin Beate Zschäpe vor dem zweiten bayerischen Untersuchungsausschuss, fördern Recherchen von MDR Investigativ Belege zutage, die die Frage nach dem Motiv für den Mord an Michèle Kiesewetter in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 war der letzte von insgesamt zehn Morden des selbsternannten "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU). Über einen Zeitraum von 14 Jahren verübten die Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zudem 15 Raubüberfälle und drei Bombenanschläge. Um die Aufklärung bemühen sich insgesamt 15 Untersuchungsausschüsse.

Nach einem Mammut-Prozess wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 als Mittäterin wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Im Mai lässt sich Beate Zschäpe erstmals von Mitgliedern eines Untersuchungsausschusses befragen und sagt zu möglichen Motiven für die Morde: "[…], dass es aufgrund der Herkunft gewesen ist. Also, das ist doch unabstreitbar. […] Einfach Rassenhass".

Rassenhass ist zumindest bei den ersten neun Morden ein offensichtliches Motiv. Doch der Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter und der versuchte Mord an ihrem Kollegen Martin A. im April 2007 in Heilbronn passt nicht in die Reihe, denn die Mörder schießen auf bewaffnete deutsche Polizisten und nicht mehr auf wehrlose Zuwanderer. Nach Ansicht des Gerichts sind die junge Polizistin und ihr Kollege Zufallsopfer gewesen. Den Mördern sei es darum gegangen, an die Waffen der Polizisten zu gelangen.

Zweifel an Zwei-Personen-Version

Vor dem Untersuchungsausschuss sagt Zschäpe, dass sie von ihren Komplizen nie gehört habe, dass sie sich eine Polizeiwaffe besorgen wollten und: "Ich finde es Irrsinn, wenn jemand, der eine Ausbildung an einer Waffe hat, diejenigen zu überfallen und denen eine Waffe abzunehmen." Sie sei nicht dabei gewesen und hätte so nicht gehandelt.

Eine Hose als Beweisstück
In der Wohnung fanden die Ermittler eine graue Jogginghose mit Blutspritzern. Bildrechte: MDR Investigativ

Es gibt weitere Zweifel an Motiv und Ablauf der Tat in Heilbronn. Zwar kommt ein aufwendiges Gutachten des Bundeskriminalamtes zu dem Schluss, dass sich zwei Täter von hinten dem Polizeiwagen genähert und nahezu gleichzeitig auf die Köpfe der arglosen Polizisten geschossen haben. Aber: In den Überresten des Unterschlupfs der Terroristen fanden die Ermittler eine graue Jogginghose – und darauf winzige Blutspritzer von Kiesewetter.

In einem sogenannten Spritz-Gutachten wird daraufhin geklärt, ob einer der beiden Täter die Hose getragen hat. Ergebnis: Es ist wahrscheinlich, dass eine dritte Person die Hose anhatte. Das Gutachten legt nahe, dass nicht nur Böhnhardt und Mundlos bei der Tat zugegen waren, sondern eine weitere Person während der Schüsse auf die beiden Polizisten neben, beziehungsweise hinter einem der Mörder gestanden haben muss. Obwohl das Gutachten als glaubwürdig eingeschätzt wurde, spielte es bei der Beweisführung vor Gericht keine Rolle.

Wer die dritte Person gewesen sein könnte, ist nicht aufgeklärt worden. Aber: Es ist bis heute völlig unklar, wo sich Beate Zschäpe am Tag der Tat aufgehalten hat. Das Gericht geht davon aus, dass Zschäpe – wie bei den anderen Morden auch – zu Hause war und auf die Rückkehr der Killer wartete. Einen Beleg dafür gibt es nicht.

Ich weiß auch, dass es mit dem Mundlos mehr gemacht hatte als bei anderen Morden.

Beate Zschäpe NSU-Teroristin

Zschäpe sagt über die Zeit nach der Tat: "Ich weiß auch, dass es mit dem Mundlos mehr gemacht hatte als bei anderen Morden". Nach dem Polizistenmord in Heilbronn veränderten die Terroristen ihren Modus Operandi. Sie zogen um, mieteten eine große Wohnung in Zwickau und bauten sie zu einer Art Festung aus. Und: Sie hörten auf zu morden.

Eine Verbindung zwischen dem Terrornetz des NSU und Kiesewetter?  

Bereits kurz nach der Tat ermittelten Beamte im Umfeld der Polizistin in Oberweißbach. In dem Ort im Thüringer Wald wuchs Kiesewetter auf. Dort hatte sie Familie, Freunde, es war ihr Lebensmittelpunkt, bis sie zur Polizei nach Baden-Württemberg ging. Die Beamten fanden kein Motiv. Nach Verbindungen zur rechtsextremen Szene wurde gar nicht erst gesucht – wie nach den anderen Morden auch.

Dabei gilt der Kreis Saalfeld-Rudolstadt, in dem Oberweißbach liegt, in jenen Jahren als Hochburg der Neonaziszene in Thüringen. Hier hatten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bis zu ihrem Abtauchen in den Untergrund an Nazi-Schulungen teilgenommen, gingen auf Demonstrationen und engagierten sich im sogenannten "Thüringer Heimatschutz", der Keimzelle des späteren NSU. Auch die NPD hatte dort feste Strukturen.

Eine Frau mit Sonnenbrille
Ein Foto von Beate Zschäpe als junge Frau. Bildrechte: MDR Investigativ

Ein Jahr vor dem Mord pachtete kaum einen Kilometer von Oberweißbach entfernt ein Mann namens David F. die damalige Gaststätte "Zur Bergbahn". Dieser Mann hat eine enge Beziehung zu Zschäpe. Ein Jahr vor ihrem Abtauchen hatten die beiden ein Verhältnis. Aus seiner Jugendzeit in Jena kennt er zudem Böhnhardt und Mundlos. Und: F. ist der Schwager von Ralf Wohlleben. Von Wohlleben stammt die NSU-Mordwaffe, er war NPD-Funktionär und einer der wichtigsten Unterstützer des Terror-Trios. Wohllebens Frau ist die Schwester von F. und sie betrieb zumindest zeitweise die Gaststätte "Zur Bergbahn" mit ihrem Bruder.

Die Gaststätte wurde 2006 zu einem wichtigen Veranstaltungsort für die NPD. Am 18. März trafen sich dort knapp 100 Rechtsextremisten aus ganz Deutschland. "In diesem Zeitraum hatte die NPD für sich beschlossen, eine bundesweite Kampagne zu starten", erklärt Martina Renner MDR Investigativ. Sie saß für "Die Linke" im Thüringer Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Terrorserie des NSU.

Mit diesem Treffen sollten Führungsköpfe und Multiplikatoren geschult werden. Die soziale Frage rund um die Agenda 2010 sollte zur Mobilisierung genutzt werden. "Thüringen natürlich deswegen, weil man auf sehr gute Strukturen in diesem Bundesland zurückgreifen konnte", sagt die ehemalige Landtagsabgeordnete Renner. Wohlleben hatte die Veranstaltung mit organisiert. Doch es lief nicht wie geplant: Polizei und Ordnungsamt lösten das für die NPD wichtige Treffen frühzeitig auf.

BKA-Akte liefert Hinweis auf anderes Motiv

Jetzt fördern Recherchen durch MDR Investigativ in den Ermittlungsunterlagen von damals einen Vermerk zutage, der bisher völlig unbekannt war. "Jetzt heißt es hier im ersten Absatz: Anlass ist eine Zeugenaussage, nachdem Michèle Kiesewetter die am 18. März 2006 in Lichtenhain stattgefundene Veranstaltung der rechten Szene vereitelt haben soll", zitiert Renner den Beleg.

Das […] würde erklären, warum man gegen ihre Person irgendetwas hat.

Martina Renner Bundestagsabgeordnete (Die Linke)
Ein Porträt von Politikerin Martina Renner.
Martina Renner saß für "Die Linke" im Thüringer Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Terrorserie des NSU. Bildrechte: MDR Investigativ

Damit stelle sich die Frage nach dem Motiv für den Mord an der Polizistin ein Jahr später plötzlich neu. Denn das "[…] würde erklären, warum man gegen ihre Person irgendetwas hat, also warum man sie auf dem Kieker haben könnte", sagt Renner und fragt, warum dem nicht oder nicht in ausreichendem Maß nachgegangen worden sei: "Also dieser ganze Vermerk ist ja nicht nur uns unbekannt in den Untersuchungsausschüssen, sondern spielte auch in den polizeilichen Ermittlungen danach keine Rolle mehr."

Immerhin: Das BKA fand heraus, dass Kiesewetter zur fraglichen Zeit eine Woche dienstfrei hatte. Sie hätte also am Tag der Veranstaltung in Oberweißbach sein können. Wo genau sie war, lässt sich nicht mehr klären. MDR Investigativ fragt beim BKA nach, das verweist auf den Generalbundesanwalt und der lässt mitteilen, man sei dem Hinweis seinerzeit nachgegangen, es hätten sich daraus aber "keine tatrelevanten Ermittlungsansätze" ergeben.

Sowohl F. als auch Wohlleben haben auf die Frage, ob Kiesewetter auf die NPD-Veranstaltung in der "Bergbahn" irgendeinen Einfluss genommen hatte, nicht geantwortet. Und so ist bis heute nicht geklärt, ob es ein anderes Motiv für den Mord an der Polizistin gegeben haben könnte – nicht Waffenbeschaffung und Zufallsopfer, sondern möglicherweise ein gezielter Anschlag des NSU.

Außerdem bleibt unklar, wo sich Zschäpe am Tag des Mordes aufgehalten hatte. "Ich war an keinem Tatort. Das wurde höchstrichterlich auch festgestellt, dass ich an keiner Mordtat beteiligt gewesen bin", erklärt Zschäpe im Mai. Doch die Aussagen von ihr vor dem bayerischen Untersuchungsausschuss lassen viele Fragen offen.

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