Mutter mit Kinder auf dem Schulweg
Bei Facebook und in anderen Sozialen Netzwerken wird Stimmung gegen Flüchtlinge und die Ampel-Politik gemacht. Dazu gehört auch ein Fall im Harzpark Güntersberge. Bildrechte: IMAGO/Michael Gstettenbauer

Analyse Leistungsbescheide für Ukrainer: So wird Stimmung gegen Geflüchtete gemacht

01. November 2023, 17:26 Uhr

In Sozialen Netzwerken kursieren viele Fake News und Halbwahrheiten. Typische Beispiele sind Kopien von Bürgergeldbescheiden für ukrainische Familien, die suggerieren, dass die Geflüchteten Tausende Euro Sozialleistungen kassieren. In einem Fall geht es um einen Bescheid über etwa 1.850 Euro für eine Mutter und ihre Kinder, in einem anderen sogar um 5.500 Euro für ein Familie in Sachsen-Anhalt. So wird gezielt Stimmung gegen Geflüchtete gemacht.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Andreas Sandig
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Ende 2022 tauchte im Internet das Foto eines Sozialleistungsbescheids für eine Frau aus der Ukraine und ihre beiden Kinder auf. Das Bild wurde seitdem über Chats bei WhatsApp, Telegram, Facebook und Tiktok immer weiterverbreitet.

In dem Schreiben bewilligte das Landratsamt Uckermark in Brandenburg der Mutter und ihren zwei Kindern im Alter von zehn und elf Jahren Leistungen von etwa 1.850 Euro monatlich von Januar bis Mai 2023. In der Bildunterschrift heißt es dann noch empört: Dazu kämen noch 500 Euro Kindergeld für die "Edelasylantin". Dahinter Zorn-Emojis und der Appell: "Schaut euch dieses gültige Dokument an. Bitte weiterleiten, ganz Deutschland muss das sehen."

Der Post ging viral. Die unabhängigen Faktenchecker von Mimikama widerlegten die Aussagen als unvollständig verzerrend und teils falsch. Doch die Fake-Nachricht dreht bis heute weiter ihre Runden. Im Oktober 2023 forderte ein Leser MDR AKTUELL auf, einen Artikel zu Sozialleistungen für Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine zu korrigieren. 1.849,52 Euro plus Kindergeld plus Wohnung und Krankenversicherung seien ja wohl unglaublich. Dafür brauche man schon ein gehobenes Bruttoeinkommen, um unterm Strich auf ähnlich viel Netto zu kommen. Der Redakteur solle das mal prüfen und mit dem Einkommen Alleinerziehender vergleichen. Versuchen wir es.

Ist der Bescheid für die Ukrainerin zu ihren Sozialleistungen echt?

Das Foto vom Leistungsbescheid ist wohl authentisch, auch wenn Oliver Schwers von der Kreisverwaltung Uckermark das unter Verweis auf den Datenschutz MDR AKTUELL nicht explizit bestätigen will. Die ukrainische Frau hatte das Papier offenbar verloren.

Die Verbreitung des Papiers im Internet mit Namen, Geburtsdaten und Adresse der ukrainischen Familie verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Eine Löschung oder gar die Durchsetzung einer Unterlassungserklärung sind jedoch praktisch schwer erreichbar. Moralisch muss jeder selbst entscheiden, ob er eine vor dem Krieg geflohene Mutter mit zwei Kindern an den Pranger stellt, indem er einen solchen Post teilt.

Der Bewilligungsbescheid wird zu Propaganda-Zwecken auch gern mit der Suggestivfrage "Ist das echt?" nur scheinbar angezweifelt und als überraschende Entdeckung angepriesen. Dazu werden in Kommentaren falsche Zusammenhänge hergestellt, wie mit der diffamierenden Bezeichnung der Frau als "Edelasylantin". Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine durchlaufen kein Asylverfahren wie Geflüchtete aus anderen Staaten. Sie sind den Menschen in Deutschland weitgehend gleichgestellt. Die Sozialleistungen für Asylbewerber sind geringer.

1.849,52 Euro pro Monat – die Details werden verschwiegen

Die abgebildete Seite 1 vom Bescheid suggeriert, dass die Frau aus der Ukraine mit ihren beiden Kindern 1.849,52 Euro Sozialleistungen pro Monat erhält. Das ist irreführend. Verschwiegen wird, dass davon ein erheblicher Teil Wohnkosten (Warmmiete) sind, die an den Vermieter gehen.

Die Gesamtgrundleistungen umfassen ferner eine Krankenversicherung, oft einen Kinderzuschlag sowie gegebenenfalls weitere kleinere Leistungen. Die bewilligte Gesamtleistung setzt sich zusammen aus:

  • Regelbedarf Mutter 502 Euro
  • Regelbedarfe für die Kinder (10/11), 2x348 = 696 Euro
  • Dazu kommt ein Mehrbedarf für Alleinerziehende mit 2 Kindern U16 Jahren von 180,72 Euro
  • Diese Bedarfe summieren sich auf 1.378,72 Euro

Bleibt eine Differenz von etwa 470 Euro zur bewilligten Gesamtsumme. Welchen Anteil die Warmmiete konkret ausmacht und ob das gegebenenfalls weitere Leistungen beinhaltet oder dazukommen, geht aus Seite 1 nicht hervor.

Falsch: 500 Euro Kindergeld kommen noch dazu

Weiter heißt es im Text zum Bild: "Und dazu gibt es noch 500 Euro Kindergeld". Das suggeriert, dass der Staat zu den bewilligten etwa 1.850 Euro Grundsicherung noch zusätzlich Kindergeld bezahlt. Das ergäbe Gesamtleistungen von 2.350 Euro. Das ist eine bewusste Irreführung, denn die 250 Euro pro Kind sind entweder Teil der Bürgergeldleistungen vom Jobcenter oder werden später als Leistung der Familienkasse verrechnet, jedoch nicht zusätzlich gezahlt. Im konkreten Fall ist auf der Seite 1 die Zahlung von Kindergeld nicht ersichtlich. Die aktuellen Grundleistungen für Geflüchtete aus der Ukraine hier noch mal im Überblick.

Sachsen-Anhalt: Ukrainer kassieren angeblich 5.500 Euro Sozialleistungen

Noch dreister ist die Stimmungsmache im Fall einer ukrainischen Familie in Sachsen-Anhalt. Dort war ein Leistungsbescheid des Jobcenters Harz im Internet auftaucht und hatte für Empörung gesorgt. Nach anfänglichen Zweifeln stellte sich heraus, der Bescheid ist echt.

Die "Bild"-Zeitung titelte Mitte September: "Amt zahlt 5.553 Euro für Ehepaar mit Kind". Im Bericht wurde jedoch klar gestellt, dass von der Gesamtsumme allein 4.460 Euro pro Monat als Unterbringungskosten an den Betreiber eines Ferienparks bei Güntersberge gingen, der Kriegsflüchtlinge aufgenommen hatte – und mit ihnen wohl das Geschäft seines Lebens machte.

Landratsamt und Jobcenter erklärten die hohen Wohnkosten von monatlich 1.487 Euro pro Person mit einer Notlage. Der Kreis habe die Flüchtlinge schnell unterbringen müssen. Es habe ein Ausschreibungsverfahren gegeben und keine besseren Angebote.

Irreführende Grafik zum Bürgergeld für Geflüchtete

Ein weiterer Fall von tendenziöser Berichterstattung war im Sommer 2023 ein "Bild"-Artikel mit einer Grafik zum Anteil bei Geflüchteten aus der Ukraine (66 Prozent), Syrien (55%) oder Afghanistan (47%), die Bürgergeld beziehen – im Vergleich zu Deutschen (5,3 Prozent). Die Recherchegruppe Correctiv schrieb dazu, dass diese Grafik von rechten Influencern benutzt werde, um online gegen Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten zu hetzen.

Ein AfD-Politiker verknüpfte die Daten grafisch mit den gesamten Leistungen von 44 Milliarden Euro. Zwar sind die Einzelzahlen korrekt, jedoch ohne Einordnung irreführend. Sie suggerieren, dass von der Milliardensumme das meiste an Geflüchtete geht und nur ein Bruchteil an Deutsche. Wahr ist: Von insgesamt rund 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehenden sind etwa 2,9 Millionen Deutsche.

Der Vergleich Leistungen für Ukrainerin zu deutschen Arbeitnehmern

Im Leserbrief an MDR AKTUELL wird zudem gefordert, die Grundleistungen für die Ukrainerin und ihre Kinder in der Uckermark mit der Lage von Alleinerziehenden in Deutschland zu vergleichen. Mit der Umstellung von Hartz IV aufs etwas höhere Bürgergeld seit 2023 ist in Deutschland wieder die Kritik lauter geworden, die Sozialleistungen seien zu üppig, der Abstand zu schlecht bezahlten Jobs zu gering. Arbeit lohne sich nicht mehr.

Doch im Regelfall kommen Arbeitnehmer auch mit Mindestlohn unterm Strich auf einige hundert Euro mehr als mit dem Bürgergeld. Der MDR hat das mit einer alleinerziehenden Mutter durchgerechnet. Allerdings muss die Frau mit ihren zwei Minijobs dabei zusätzliche Unterstützung beantragen, wie Wohngeld und Kinderzuschlag. Dazu kommt dann gegebenenfalls noch Unterhalt vom Kindsvater oder ein Unterhaltsvorschuss. Beim Bürgergeld wird Unterhalt hingegen vollständig angerechnet.

Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen bewerten die Sozialleistungen in Deutschland als angemessen oder eher zu niedrig. Das Institut der Deutschen Wirtschaft kommt auch für die 2024 anstehende Bürgergelderhöhung um zwölf Prozent zu dem Schluss, dass das Lohnabstandsgebot gewahrt bleibe. Befragungen zeigten auch, dass nur ein kleiner Teil der arbeitsfähigen Leistungsbezieher lieber Hilfen kassiert, als Geld zu erarbeiten.

Befördert wird die Debatte jedoch aktuell durch den relativ geringen Mindestlohn. Ein wirksames Mittel, um den Lohnabstand zu erhöhen und mehr Arbeitsanreize zu schaffen, wären also höhere Löhne.

MDR (ans)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 24. Oktober 2023 | 11:20 Uhr

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