Interview mit Natalie Grams-Nobmann "Mein Postfach muss nicht jede Beleidigung der Welt schlucken"

19. August 2022, 12:00 Uhr

Sieben Jahre lang hat die Ärztin und Autorin Natalie Grams-Nobmann täglich in den sozialen Medien über Medizin-Themen aufgeklärt – auch über das Impfen gegen das Coronavirus oder über Corona-Schutzmaßnahmen. Jetzt hat die Medizinerin ihren Account bei Twitter gelöscht.

MDR AKTUELL: Wie denken Sie über den Fall Ihrer österreichischen Kollegin Lisa-Maria Kellermayr?

Natalie Grams-Nobmann: Der Fall hat mich furchtbar betroffen gemacht und erschreckt. Ich habe die Arbeit von Frau Kellermayr verfolgt und alles, was danach kam. Es ist einfach ein schreckliches Beispiel dafür, wie wenig man als Ärztin oder Impf-Aufklärer in den sozialen Medien geschützt wird, und auch ein schreckliches Beispiel dafür, dass dieser "Hate" nicht in den sozialen Medien bleibt, sondern ins reale Leben überschwappt. Und dass wir diesem "Hate" nichts entgegenzusetzen haben.

Ich ertrage es nicht mehr, in diese Hölle zu blicken, wo Menschen den Tod eines anderen Menschen, den Suizid eines anderen Menschen regelrecht feiern.

Natalie Grams-Nobmann Ärztin

Sie selbst haben auch Konsequenzen gezogen und Ihren Twitter-Account gelöscht. Können Sie den Schritt erklären?

Ich habe nach sieben Jahren Impfaufklärung beziehungsweise Medizinaufklärung in den sozialen Medien gedacht, ich ertrage es nicht mehr.

Ich ertrage es nicht mehr, in diese Hölle zu blicken, wo Menschen den Tod eines anderen Menschen, den Suizid eines anderen Menschen regelrecht feiern – und das als Schuldeingeständnis dieser wirklich bedrohten und verfolgten Ärztin sehen und sich so darüber erheben. Ich denke, wenn nicht mal mehr der Tod eines Menschen frei von Häme und Hass ist, dann steht Ideologie über allem. Ich habe nicht mehr gewusst, wie ich damit umgehen soll. Und natürlich hat mir das auch Angst gemacht. Ich denke, mein Tod würde genauso gefeiert werden und das finde ich einfach menschlich furchtbar erschreckend.

Ich denke, mein Tod würde genauso gefeiert werden und das finde ich einfach menschlich furchtbar erschreckend.

Natalie Grams-Nobmann Ärztin

Inwiefern haben Sie bisher Bedrohungen erlebt?

Ich habe das in nicht ganz so krasser Weise erlebt, weil ich als Ärztin nicht niedergelassen bin mit einer Praxis, wo man vor der Tür stehen oder eine E-Mail hinschicken kann. Aber ich habe natürlich in der Zeit, in der ich in der Öffentlichkeit stehe, unglaublich viele verschiedene Formen von Hass erlebt – seien das Bedrohungen, Beleidigungen, Verleumdungen, Verfolgungen. Das ist bei mir auch ins reale Leben übergeschwappt. Ich habe teilweise Vorträge unter Polizeischutz gehalten. Ich bin sehr froh, dass es weiterhin sinnvoll ist, in öffentlichen Räumen eine Maske zu tragen.

Das ist teilweise wirklich eine lebensbedrohliche Angst, die man da aushalten muss, wenn man sich in den sozialen oder anderen Medien zum Impfschutz oder auch zu den Schutzmaßnahmen äußert

Natalie Grams-Nobmann Ärztin

Ich möchte nicht erkannt werden und insofern hat mich die Pandemie da fast ein bisschen geschützt und aus der Schusslinie gebracht. Aber ich musste dafür auch alle privaten Informationen und Kontaktmöglichkeiten verbergen. Man kommt quasi nicht an mich heran. Und wie muss das für die Kolleginnen sein, die diese Möglichkeit mit einer Praxis, einer Niederlassung oder auch in der Klinik nicht haben? Ich denke, das ist teilweise wirklich eine lebensbedrohliche Angst, die man da aushalten muss, wenn man sich in den sozialen oder anderen Medien zum Impfschutz oder auch zu den Schutzmaßnahmen äußert. Vieles, was einem da entgegenschlägt, muss angezeigt und verfolgt werden. Es ist nicht so, dass das Internet ein rechtsfreier Raum ist oder mein Postfach einfach jede Beleidigung der Welt schlucken muss.

Wenn sich Leute wie Sie aus Sorge von Twitter und abmelden, ist das natürlich auch ein bisschen traurig – weil man den anderen sozusagen das Feld überlässt. Aber als individuelle Entscheidung ist das notwendig, wie ich bei Ihnen heraushöre?

Ja, weil einige Plattformen auch nicht schützen. Man muss sich da wirklich alles gefallen lassen. Wenn man Dinge über die Plattform meldet, kommt in aller Regel zurück, dass das nicht den Richtlinien widerspreche – da könne man nichts machen. Man sieht sich mit wirklich den übelsten Beleidigungen oder Vergleichen konfrontiert, die auch nichts mehr mit einem Diskurs oder freier Meinungsäußerung zu tun haben, weil Hass per se einfach keine Meinung ist.

Ich bin angetreten in den sozialen Medien, um wissenschaftliche Informationen zu vermitteln, gerne auch, um darüber zu diskutieren. Ich habe überhaupt nicht den Anspruch, alles zu wissen oder alles immer besser zu wissen. Aber dann muss es eben auch eine sachliche Diskussion sein. Die kann natürlich auch gerne mal emotional sein. Impfen betrifft einen ja auch sehr persönlich. Aber es darf eben nie einen gewissen Punkt überschreiten, den Diskurs verlassen und eigentlich nur noch darauf ausgerichtet sein, die andere Person zu zerstören.

Sie haben die Plattformen angesprochen. Wie ist es mit der Politik? Fühlt man sich von ihr und von den Behörden genug unterstützt?

Nein, überhaupt nicht und das war sicherlich auch der Fall bei der österreichischen Kollegin. Man wendet sich in Verzweiflung und in Panik zum Beispiel an die Polizei und natürlich gibt es einzelne Beamtinnen, die reagieren total super darauf. Aber ich habe auch solche Sachen zu hören bekommen wie: "Ja, dann begeben sie sich halt nicht in die Öffentlichkeit. Warum machen Sie das auch? Sie machen das doch freiwillig, da müssen Sie das auch aushalten." Oder es heißt sinngemäß, das sei Meinungsfreiheit, jeder dürfe alles sagen.

Das stimmt so aber nicht. Da überschreitet manche Tat eine Grenze und ich finde, die Sicherheit, dass so etwas auch verfolgbar ist, sollte man auch in den sozialen Medien haben. Und weil Sie angesprochen haben, dass man natürlich auch dieser totalen Diskursverweigerung etwas entgegensetzen muss – durch Informationen, durch Aufklärung, durch das Dabeibleiben – das sehe ich ganz genauso. Aber wenn gar kein Diskurs mehr möglich ist, was soll ich dort tun? Ich möchte auch selbst gewährleisten können, dass ich sachlich bleibe, dass ich die Informationsebene bediene und niemanden beleidige. Dazu sehe ich mich im Moment auch aufgrund der Vielzahl an Bedrohungen einfach nicht in der Lage.

Dieses "Silencing", das ich während der ganzen Pandemie verfolgt habe, ist eine schreckliche Sache. Die coolsten und am sachlichsten Argumentierenden, die verschwinden immer mehr von den Plattformen.

Natalie Grams-Nobmann Ärztin

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Ich würde mir wünschen, dass Politiker und Politikerinnen daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Dass nicht die, die am lautesten schreien, am meisten Gehör geschenkt bekommen, sondern dass wir, die Verstummten, gehört werden müssen.

Dieses "Silencing", das ich während der ganzen Pandemie verfolgt habe, ist eine schreckliche Sache. Die coolsten und am sachlichsten Argumentierenden, die verschwinden immer mehr von den Plattformen. Ich habe in meiner ganzen Zeit in den sozialen Medien niemanden beleidigt oder bedroht oder unsachlich abgekanzelt. Und natürlich darf man auch mal einen Witz machen oder Satire benutzen. Aber man darf keinen anderen Menschen fertigmachen. Und genau die Menschen, die es immer geschafft haben, sachlich zu bleiben – trotz der bekannten Belastungen in der Pandemie – gehen jetzt und das sollte uns alle alarmieren.

Der Fall Lisa-Maria Kellermayr In Österreich trauern dieser Tage tausende Menschen um die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Sie hatte in den sozialen Medien über Corona und die Impfungen aufgeklärt. Dafür war sie seit Monaten von Pandemie-Leugnern und Impfgegnern bedroht worden. Vergangene Woche beging die Ärztin Suizid.

Sie haben suizidale Gedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen! Sie können jederzeit kostenlos anrufen: 08001110111 ; 08001110222 oder 0800116123. Auf der Website www.telefonseelsorge.de finden Sie weitere Hilfsangebote, etwa per E-Mail oder im Chat.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben das Interview an einer Stelle nachträglich geringfügig gekürzt. Hier hatte Frau Grams-Nobmann ein irreführendes Beispiel für die Auslegung des Begriffs Meinungsfreiheit gebracht.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 03. August 2022 | 06:21 Uhr

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