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Ein Grund für große Unterschiede ist, dass bundesweit nur rund 50 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag hat. Im Osten liegt der Schnitt noch drunter. Bildrechte: picture alliance / dpa | Uwe Anspach

Löhne in Ost und West Wirtschaftsexperte: "Ostdeutsche Beschäftigte sind nicht per se weniger produktiv als Westdeutsche"

03. Mai 2024, 09:49 Uhr

Bei den Löhnen in Ost und West gibt es noch große Unterschiede. Wo und warum? Malte Lübker ist Tarif- und Einkommensexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und erklärt, warum er viele landläufige Gründe für nicht gerechtfertigt hält.

Wo stehen die Tariflöhne in Ost und West im Vergleich?

Direkt nach der Wende waren die Tariflöhne in Ostdeutschland deutlich niedriger als im Westen. Aber die Angleichung zwischen Ost und West hat bei den Tarifverträgen sehr gut funktioniert: Wir hatten in den 1990er-Jahren einen sehr steilen Anstieg bei den Tariflöhnen im Osten und in den Nullerjahren ging das weiter so voran. Seit etwa 2010 haben wir im Prinzip fast eine Entgeltgleichheit zwischen den Tariflöhnen in Ost und West. Der Osten ist bei 98 Prozent des Westniveaus angekommen.

Warum gibt es noch allgemeine Lohn-Unterschiede zu verzeichnen?

Das liegt immer auch mit an der regionalen Wirtschaftsstruktur. Auch innerhalb des Westens gibt es solche Unterschiede: Schleswig-Holstein hat etwa niedrigere Löhne als Baden-Württemberg. Es gibt immer ein bisschen Lohngefälle zwischen Stadt und Land. Das sehen wir auch in Westdeutschland, dass die Löhne in den Stadtstaaten am höchsten sind, in den Flächenländern sind sie ein bisschen niedriger. Das spielt schon eine Rolle. Trotzdem kann es diese großen Lohnunterschiede nicht rechtfertigten, die wir zwischen Ost und West sehen.

Malte Lübker
Malte Lübker ist Tarif- und Einkommensexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jens Kalaene

Dabei wird häufig ein Faktor übersehen: Die Tarifbindung in Ostdeutschland ist niedriger als in Westdeutschland. In Sachsen haben wir nur 43 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, im gesamtdeutschen Durchschnitt sind es fast 50 Prozent. Das ist wichtig, denn es gibt auch deutliche Lohnunterschiede innerhalb eines Bundeslandes entlang der Grenze zwischen tarifgebundenen Unternehmen und nicht tarifgebundenen Unternehmen. Wenn wir ähnliche Betriebe innerhalb Sachsens miteinander vergleichen, dann zahlen die ohne Tarifvertrag etwa 13 bis 14 Prozent weniger als die mit Tarifvertrag. Das zeigt, dass es sich für Beschäftigte lohnt, gemeinsam Tarifbindung und damit bessere Löhne durchzusetzen.

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Warum ist die Tarifbindung in Sachsen so niedrig?

Tarifverträge sind häufig historisch gewachsen, das fehlt im Osten teilweise, und deswegen sehen wir, dass Menschen selber für ihren Tarifvertrag kämpfen müssen. Das geht häufig nur über Streiks. Eigentlich sind die Voraussetzungen in Sachsen sehr gut für eine hohe Tarifbindung: Es gibt einen starken industriellen Kern, eine starke Metall- und Elektroindustrie. Das sind genau die Branchen, in denen Tarifverträge traditionell verwurzelt sind – auch auf Seiten der Arbeitgeber. Aber dieses Bekenntnis zur Tarifbindung fehlt bei den sächsischen Metallarbeitgebern, die sehr früh einen Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung aufgebaut haben. Ein Betrieb kann also Mitglied im Arbeitgeberverband sein, ohne sich an einen Tarifvertrag zu halten. Auch deswegen müssen die Gewerkschaften Tarifverträge Betrieb für Betrieb durchsetzen.

Schaden höhere Löhne nicht dem Wirtschaftsstandort Sachsen?

Es gab lange Zeit die Idee, dass es ein Standortvorteil sein kann, Niedriglohnland zu sein. Ich denke, das hat sich in Zeiten des Fachkräftemangels gewandelt. Da sind niedrige Löhne kein gutes Werbeargument mehr für ostdeutsche Bundesländer. Man muss weg von diesem Niedriglohn-Image, wenn man Fachkräfte binden will. Und langfristig ist es auch für den einzelnen Arbeitgeber sinnvoll zu signalisieren: "In meinem Betrieb gilt ein Tarifvertrag. Hier sind die Löhne verlässlich. Hier sind die Löhne fair". Damit ist man attraktiv als Arbeitgeber für Fachkräfte.

Was halten Sie von unterschiedlichen Löhnen innerhalb eines Unternehmens an Standorten in Ost und West?

Wenn wir ungleiche Löhne innerhalb von einem Unternehmen haben in Ost und West, dann ist das natürlich eine besonders schreiende Ungerechtigkeit. Häufig werden dann Unterschiede in der Produktivität als Begründung angeführt. Was man dabei übersieht ist, dass es bei der Produktivität immer auf den gesamten Mix aus der Qualifikation der Beschäftigten und der Betriebsausstattung – Maschinen und dergleichen – ankommt. Wenn wir identische Werke haben, die das gleiche Produkt herstellen, irgendwo in Westdeutschland und irgendwo in Ostdeutschland, dann gibt es da eigentlich auch keine großen Unterschiede in der Produktivität.

Ostdeutsche Beschäftigte sind nicht per se weniger produktiv als Westdeutsche, das ist ein oft zitiertes Zerrbild. Deswegen gibt es keine vernünftigen Gründe dafür, Beschäftigte in den ostdeutschen Standorten weniger gut zu bezahlen. Betriebe machen das, weil sie damit durchkommen. Deswegen ist es ein gutes Zeichen, dass Menschen sich dagegen wehren und sagen: "Nein, wir wollen die gleichen Bedingungen haben wie in den westdeutschen Standorten". Das geht häufig nur über Streiks. Aber das ist ein Beitrag dazu, mehr Lohngerechtigkeit innerhalb Deutschlands zu schaffen.

Auch unterschiedliche Lebenshaltungskosten werden als Grund für unterschiedlich hohe Löhne genannt. Das stimmt insofern, als die Mieten in einigen Regionen deutlich teurer sind als in anderen. Aber das lässt sich aber nicht auf die Aussage runterbrechen: "Im Osten ist alles billiger". Die Mieten sind in Leipzig inzwischen deutlich höher als in Duisburg oder Bremerhaven. Bei Lebensmittelpreisen, Energie, Waren im Versandhandel und so weiter gibt es keine wesentlichen Unterschiede mehr in den Lebenshaltungskosten. Ich denke, dass auch dieses Argument sich inzwischen weitgehend erübrigt hat.

Welchen Einfluss haben die Gewerkschaften auf die Lohnentwicklung?

Die Gewerkschaften hatten in den letzten Jahren mit Mitgliederschwund zu kämpfen. Das hat sich erfreulicherweise im letzten Jahr gewendet: Wir sehen in den DGB-Gewerkschaften das erste Mal seit langer Zeit wieder einen Zuwachs. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass mehr Menschen bereit sind, auch für ihre Rechte zu kämpfen und sich selber einzubringen und bessere Löhne durchzusetzen.

Ich denke, das Wichtige in Bezug auf die Tarifbindung ist, dass auch da jetzt eine Trendwende in Gang kommt. Seit 2000 ist die Tarifbindung deutlich gefallen, in ganz Deutschland. Das hat dazu geführt, dass hier ein sehr starker Niedriglohnsektor entstanden ist. Dann war der Staat gefragt einzugreifen mit der Einführung des Mindestlohns. Ich denke, es ist ein Trugschluss, dass man ganz ohne Regulierung auskommen kann. Wenn die Tarifparteien das nicht untereinander ausmachen, dann ist im Zweifelsfall der Staat auch gefragt, wie beim Mindestlohn eine Untergrenze bei den Löhnen einzuziehen, um Missbrauch zu verhindern.

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Mit ein bisschen gutem Willen sehen wir am aktuellen Rand eine Stabilisierung der Tarifbindung. Aber da ist es zu früh zu sagen, dass das wieder nach oben geht. Das ist ein schwieriges Geschäft, Tarifverträge Betrieb für Betrieb durchzusetzen. Um wieder zu einer besseren Tarifbindung zu kommen, brauchen wir bessere Rahmenbedingungen seitens der Politik. Das Vergabegesetz hierfür ist ein Stichwort. Das bezweckt, dass die öffentlichen Aufträge nur an Betriebe gehen, die auch Tariflöhne bezahlen, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Sachsen ist neben Bayern das einzige Bundesland, wo die Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen noch überhaupt keine Rolle spielt.

Aber es braucht auch ein klares Bekenntnis der Arbeitgeber zur Tarifbindung. Das gehört zur sozialen Marktwirtschaft in Deutschland dazu, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Löhne aushandeln. Die sollen dann auch für möglichst viele Betriebe gelten, damit wir faire Wettbewerbsbedingungen haben.

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