Radikalisierung Antisemitismus und Nahostkonflikt: Schulen häufig überfordert
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11. Februar 2024, 17:00 Uhr
Viele Lehrerinnen und Lehrer an Sachsen-Anhalts Schulen sind mit der Vermittlung des komplexen Nahostkonfliktes überfordert. Die Folge: Viele Jugendliche informieren sich im Internet, die Gefahr für Radikalisierung, antisemitische Taten und Polarisierung steigt. Doch es gibt Lösungsansätze.
- Im Projekt "Tagebuch der Gefühle" beschäftigen sich Jugendliche verschiedenster Hintergründe freiwillig mit Antisemitismus.
- An Schulen gelingt die thematische Auseinandersetzung nicht immer. Besonders der Nahostkonflikt stellt viele Schulen vor Herausforderungen.
- Die Fach- und Beratungsstelle Salam unterstützt Schulen und leistet Präventionsarbeit bei drohender Radikalisierung.
Ob mit Schulabschluss oder ohne, ob mit Behinderung oder ohne, ob mit Migrationserfahrung oder nicht: "Hier", sagt Philipp aus Halle, während er mit anderen Jugendlichen zur Diskussion am Tisch sitzt, "sind wir alle fast wie Familie."
Hier, das ist eine Werkstatt der Stiftung Bildung und Handwerk (SBH) in Halle. Vor zwölf Jahren entstand in der Werkstatt das Projekt "Tagebuch der Gefühle", das sich ein Ziel gesetzt hat: eine besondere Form der Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu ermöglichen und Diskussionsräume zu öffnen. Besonders für Gefühle und eigene Gedanken soll hier Platz sein.
Und es funktioniert. Hier wird über die drängenden wie unbequemen Themen der Zeit gesprochen. Es ist eine Möglichkeit, die es für Schülerinnen und Schüler, für Lehrerinnen und Lehrer im Schulalltag nur selten gibt – dabei wären solche Räume notwendiger denn je.
Schulen scheuen den Nahostkonflikt
Längst drängen Themen wie der Nahostkonflikt insbesondere durch die aktuelle Lage auch in die Schulen. Antisemitismus, Radikalisierung, Drohungen und Streit: Die Meldungen häufen sich. Doch immer wieder scheuen sich die Lehrkräfte davor, Themen wie den Nahostkonflikt zu behandeln. Zu groß ist die Sorge, etwas falsch zu machen, zu komplex der Konflikt.
Jugendliche, die sich im Nahostkonflikt mit ihren Emotionen und der Flut an Meinungen und Informationen allein gelassen fühlen, suchen laut Experten häufig im Internet nach Antworten und Einordnungen. Wachsende Polarisierung, Radikalisierung und steigender Antisemitismus können die Folge sein.
Das weiß auch Oliver Schmiedl, Geschichtslehrer an der Ulrich-von-Hutten-Gesamtschule in Halle. "Die Radikalisierung, die in der ganzen Gesellschaft stattfindet, merken wir auch auf den Schulhöfen", meint Schmiedl. "Um dem entgegenzuwirken, braucht es ganzheitliche Ansätze".
Um wirklich etwas im Denken zu verändern, müsse man tief genug in den Konflikt einsteigen und dabei auch die verschiedenen Hintergründe und Herkünfte der Schülerinnen und Schüler sensibel mit einbeziehen. Dazu müsse man sich davon lösen, Antisemitismus wie bislang vor Allem im Zusammenhang mit dem Holocaust zu behandeln. Stattdessen müsse man projektorientiert arbeiten. Dazu reiche der normale Unterricht aber normalerweise nicht aus, so Schmiedl.
Tagebuch der Gefühle: Persönlicher Ansatz
Das kann Andreas Dose nur bestätigen. "Eine Schülerin hat mich vor zwölf Jahren gefragt: 'Herr Dose, wann hat Hitler nochmal die Mauer gebaut?'", erinnert sich der Werkstattpädagoge der SBH schmunzelnd. "Da war mir klar: Ich muss etwas machen." Heraus kam das besagte Projekt "Tagebuch der Gefühle".
Der Ansatz ist bestechend einfach: niedrigschwellige Arbeit, persönliche Geschichten, Offenheit. Die Jugendlichen können selbst entscheiden, welche Themen sie behandeln und wie sie sich ihnen widmen wollen. Häufig ist der Zugang dadurch sehr persönlich, berührt die Jugendlichen. Heraus kommen zahlreiche Projekte und Veröffentlichungen. Tagebücher, Comics, Videos, Bilder, Ausstellungen: Alle erzählen von einer ganz besonderen Annährung an das Thema.
Max nickt. "Über viele Aussagen und Fragen habe ich vorher gar nicht nachgedacht", erzählt der junge Mann, der bereits seit mehreren Jahren in dem Projekt mitwirkt. "Aber jetzt ist das anders."
Beratungsstelle Salam aus Halle
"Es ist zentral, dass an Schulen ein Raum geschaffen wird, wo die Jugendlichen ihre Fragen, aber auch ihre vermeintlichen Antworten einbringen können. Das heißt, der Raum muss grundsätzlich erst einmal offen sein, um überhaupt pädagogisch thematisieren zu können, was die Jugendlichen bewegt", erklärt auch Hans Goldenbaum, Bereichsleiter für Gewalt- und Radikalisierungsprävention für die Beratungsstelle Salam. Ein Problem dabei, dass der Diskurs nicht nur an Schulen, sondern in der gesamten Gesellschaft häufig polarisiert sei. Es falle vielen Menschen schwer, die Komplexität und Widersprüche auszuhalten.
Die Beratungsstelle hat viel Erfahrung dabei, Schulen in besonders herausfordernden Konflikten zu unterstützen. Aktuell hilft Salam auch vielen Fachkräften im Umgang mit dem Nahostkonflikt und bei der Prävention von Antisemitismus und Rassismus. "Wir nehmen eine große Verunsicherung bei den Lehrkräften wahr", erzählt Goldenbaum.
Bildungsministerium: Angebot für zahlreiche Hilfestellungen
Das Bildungsministerium antwortete auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT, dass es zahlreiche Hilfestellungen für Lehrkräfte in Form von Fortbildungsangeboten und Handreichungen zum Themenkomplex Nahost und Antisemitismus gebe. Die Themen Holocaust und Antisemitismus seien ohnehin schon in verschiedenen Fächern Teil der regulären Lehrpläne, etwa in Geschichte, Religion und Sozialkunde. Hierbei böte sich teilweise auch die Möglichkeit, über den Nahostkonflikt zu sprechen. Zudem bearbeite man gerade die Lehrpläne und wolle in diese ein spezielles Konzept einarbeiten. Das beinhalte konkrete Inhalte zur Verantwortung aller, klar gegen nationalsozialistisches Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus einzutreten.
Salam: Workshops, Fortbildungen und Beratungsgespräche
Um Gesprächsräume zu öffnen und die Lehrkräfte zu stärken, bietet Salam Fortbildungen für Lehrkräfte, eins-zu-eins Betreuung und Workshops an. Dort soll Fachwissen zu den verschiedenen Narrativen auf den Konflikt, didaktische Methoden und geeignete Unterrichtsmaterialien vermittelt werden.
Zugleich unterstützten sie die Schulen bei der Beziehungsarbeit mit den Schülerinnen und Schülern in dem Konflikt, der sehr emotionalisiert sei. Goldenbaum wünscht sich, dass die Schulen zudem Raum für gemeinsame Quellenarbeit und die Vermittlung von Medienkompetenz bekommen. "Das wäre unglaublich hilfreich für den einzelnen Jugendlichen wie insgesamt längerfristig für die Gesellschaft. Und das findet viel zu wenig statt."
Förderung SALAM Die Beratungsstelle SALAM wird im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" unter anderem gefördert vom Bundesministerium für Familie und Jugend.
Gestärkt gegen Antisemitismus
In der Werkstatt der SBH Halle sind die Jugendlichen gerade dabei, unter dem Titel "Wo warst du?" 1.000 Interviews zum Attentat in Halle zu sammeln. Über 900 haben sie schon. Dass zur Beschäftigung mit der Vergangenheit auch aktuelle Bezüge gehören, ist für Paul selbstverständlich. Der junge Projektteilnehmer erzählt, die Erfahrungen beim Tagebuch der Gefühle würden ihn dabei stärken, auch im komplexen Nahostkonflikt Rechtsextremismus und Demokratie-Unzufriedenheit zu widersprechen.
Projektleiter Dose nickt. "Unsere Jugendlichen sind so gestärkt, dass sie es schaffen in ihren Gruppen in antisemitische Diskussionen einzusteigen und da eben auch mit Argumenten zu arbeiten. Das finde ich ganz wichtig. Das sind eben nicht nur die Schüler, die Abiturabschluss haben, sondern auch die mit Hauptabschluss oder die, die gar keinen Schulabschluss haben."
In dem Projekt sei jede und jeder willkommen. Der Bedarf an solchen Angeboten sind Dose zufolge enorm. Das merke man auch an dem großen Interesse aus ganz Deutschland. Auch zahlreiche Preise hat das Projekt gewonnen, unter anderem von der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. "Es ist schön zu sehen, dass das Engagement etwas bewegt", sagt Projektteilnehmer Philipp.
Projektleiter Andreas Dose ist auch nach zwölf Jahren noch mit voller Leidenschaft dabei. Und er hat noch viel vor. "Es ist unsere Pflicht als Gesellschaft, diese Themen zu behandeln und für unsere Grundwerte einzutreten", sagt er. "Ansonsten sieht es sehr finster aus."
MDR (Leonard Schubert)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 11. Februar 2024 | 19:00 Uhr
DER Beobachter vor 34 Wochen
Ich denke schon, dass man den Konflikt ab etwa Klasse 9 schon ganz gut vermitteln kann, sofern die Voraussetzungen einer gewissen sachlichen Vorbildung bestehen. Die Jugendlichen sind zum Glück noch nicht so ideologisch verbohrt wie etwa die hiesige Kommentatorenschaft. In Sachsen schreibt der Lehrplan eben ab Stufe 9 sowohl an Gymnasien als auch in der Oberschule im Wahlpflichtbereich die Behandlung eines aktuellen nationalen oder internationalen Konfliktes in seiner historischen Dimension und seiner aktuellen Interessensgemengelagen sogar vor. Man kann auch ganz gut dazu externe Kompetente einladen. Hier in DD empfähle ich dafür z.B. der der hier tatsächlich äußerst kompetente Jugendoffizier...
DER Beobachter vor 34 Wochen
Ein Daumen mit gemischten Gefühlen. Südafrika schwimmt im Moment etwas im Fahrwasser Russlands, das ja mit Iran gemeinsame Sache macht. Andererseits stimmt es, dass die gegenwärtige südafrikanische Regierung historisch eher zu Palästina steht wegen der gemeinsamen Geschichte als Unterdrückte...
weils so nicht unwidersprochen bleiben darf vor 35 Wochen
Mit einigen geht da eben die Empathie durch, die anderen offenbar fehlt. Ist ja auch nicht einfach, in einer Schule zu sitzen, sich vorzustellen, wie anderswo eine Schule grade bombardiert wird und die Schüler nicht nach Hause geschickt werden können, weil "zu Hause" die Eltern auch grade bombardiert werden, und die von den Häusern nur noch Trümmer stehen - und dabei gleichzeitig noch die "bedingungslose Solidarität" des Herrn Steinmeier teilen zu sollen. Es ist alles so wiederwärtig...