Neue Studie Historiker: Unvorstellbare Gewalt im DDR-Jugendgefängnis in Halle
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14. November 2023, 15:12 Uhr
Das Jugendhaus in Halle galt als modernste und größte Jugendhaftanstalt der DDR mit bis zu 1.500 Insassen. Neue Einblicke in den Alltag und das Scheitern eines groß angelegten Sozialexperimentes liefert jetzt eine Studie des Leipziger Historikers Udo Grashoff, die unter dem Titel "Jugendhaus Halle – Gefängnisalltag 1971–1990" im Mitteldeutschen Verlag als Sachbuch erschien. Er spricht von einem unerwarteten Maß an Gewalt und Unmenschlichkeit. Wir stellen die neue Studie vor.
- Eigentlich sollte das Jugendhaus Halle ein DDR-Vorzeige-Strafvollzug werden.
- Über den Gefängnisalltag zwischen 1971 und 1990 war wenig bekannt, die Ergebnisse einer ersten Studie liegen jetzt vor und überraschten selbst den DDR-Experten Udo Grashoff.
- Nicht allein Akten, sondern auch Zeitzeugen-Interviews liefern erschütternde Einblicke, wie die Gewalt auch der Insassen untereinander eskalierte.
Mit seiner Studie zur größten Jugendstrafanstalt der DDR leuchtet der Leipziger Historiker Udo Grashoff ein wenig bekanntes Kapitel der DDR-Geschichte aus. Am Rande von Halle im Stadtteil "Frohe Zukunft" war die Anlage mit vergitterten Plattenbauten Ende der 70er-Jahre neu errichtet worden. Eigentlich sollte sie ein Vorzeigemodell des modernen Strafvollzuges werden.
Tatsächlich aber mutierte das Jugendhaus Halle schnell zu einem Ort der Brutalität, wie Grashoff im Gespräch mit MDR KULTUR erklärt: "Die Zustände dort waren so brutal, wie man es sich für die DDR der Honecker-Zeit nicht hätte vorstellen können." Grashoff, der seit langem zur DDR-Geschichte forscht und über Selbsttötungen in der DDR promoviert hat, wertete das Aktenmaterial in fünf Archiven aus. Nach seinen Recherchen war er vom Außmaß der Gewalt überrascht:
Ich hätte nie geglaubt, dass ein solches Ausmaß an Unmenschlichkeit in der DDR der Honecker-Zeit existiert hat.
Vom DDR-Vorzeigegefängnis zum brutalen Jugendknast
Anders als die Jugendwerkhöfe, die als Einrichtungen der "Jugendhilfe" geführt wurden, fungierte das Jugendhaus als Verwahrstätte für gerichtlich verurteilte Straftäter. Es war aber nicht der Justiz, sondern direkt dem Innenministerium beziehungsweise den Polizeibehörden zugeordnet.
Anknüpfend an Strafrechtsmodelle der Weimarer Republik sollte es im neu gebauten Jugendhaus darum gehen, ein "pädagogisches Klima" zu schaffen, um Jugendliche in die DDR-Gesellschaft zu reintegrieren. Im theoretischen Konzept wurde das Ziel formuliert, "erheblich verfestigte Fehlentwicklungen durch eine exakt geplante sinnvoll gestaltete Erziehungsarbeit zu überwinden".
Suizidversuche und "Zwang in faschistischer Manier"
Schon von Anfang an aber, so fand es Udo Grashoff bei der Sichtung der Akten heraus, prallte dieser pädagogische Anspruch auf eine knallharte vom militärischen Drill geprägte Wirklichkeit. In einer Lageeinschätzung 1974 meldet der Leiter des Jugendhauses "Fluchtversuche, teils in Gruppen. Suizidversuche durch Halswürgen, Fremdkörperschlucken und Öffnen der Pulsader". Der Bericht erwähnt auch das Schlagen von Mitinhaftierten in brutaler Art – allein im ersten Halbjahr 1974 wurden 27 Schlägereien registriert. Ein Wachoffizier schildert, dass die Gefangenen untereinander "Zwang in faschistischer Manier" ausübten. Ganz offenbar griff der pädagogische Anspruch in diesem Jugendhaus nicht.
Erschütternde Zeitzeugenberichte vom Gefängnisalltag 1971–1990
Udo Grashoff richtet für seine in Buchform im Mitteldeutschen Verlag erschienene Studie zum "Jugendhaus Halle – Gefängnisalltag 1971–1990" den Blick auf die Strafgefangenen, auf das Wachpersonal und auf die Konfliktbereiche zwischen ihnen. Neben den Akten sind es Zeitzeugeninterviews, die Grashoff dabei helfen, ein Bild vom Gefängnisalltag zu zeichnen.
Er befragte einstige Strafgefangene, die aus ganz verschiedenen Gründen im Jugendhaus landeten, darunter Kleinkriminelle, DDR-Oppositionelle und Rechtsextreme. Ihre Berichte sind erschütternd, und das Fazit des Historikers ist es auch: "Es gab in diesem Gefängnis keine Solidarität. Es gab unter den Schwachen immer noch den Schwächsten, der von den weniger Schwachen dann auch noch misshandelt oder schlecht behandelt wurde."
Es gab in diesem Gefängnis keine Solidarität.
Grashoff präpariert in seinen Zeitzeugengesprächen sehr klar heraus: Die Vorstellung, ein großes Maß an Leiden führt dazu, dass die Geschlagenen zusammenhalten – sie trifft auf dieses Gefängnis nicht zu. Und er führt auch Akten an, die noch in der DDR-Zeit selbst die Häufung der schweren Vorkommnisse – "Schlagen von Mitgefangenen, Suizidversuche und Drangsalierungen" – als Versagen der Verantwortlichen für den Strafvollzug benennen.
Dieses Versagen – so wäre es auch interpretierbar – hatte gleichwohl eine Funktion: Abschreckung. Auch jugendliche Oppositionelle aus der Friedens- oder Umweltbewegung, Wehrdienstverweigerer oder "versuchte Republikflüchtige" mussten schließlich befürchten, ins Jugendhaus eingeliefert zu werden.
Aktuelle Lehren für Jugend-Strafvollzug heute
Neben diesem DDR-spezifischen Aspekt betont der Historiker aber auch die aktuelle Dimension seines Forschungsschwerpunktes. Der Jugendstrafvollzug sei ein Problemfeld, bei dem es weltweit viele Versuche gebe, Gefängnisse humaner zu machen: "Es ist wichtig auch für den Jugendstrafvollzug heute, gescheiterte Experimente wie das Jugendhaus Halle genau zu analysieren, um zu verstehen, was schief gegangen ist – und wie diese Brutalität entstanden ist", so Grashoff, der auch Vorstand des Vereins Zeit-Geschichte(n) e.V. Halle ist.
Denn wie eine Gesellschaft mit ihren Strafgefangenen umgeht, das ist seit jeher auch ein Gradmesser für ihre Humanität oder Inhumanität.
Angaben zum Buch
Udo Grashoff: Jugendhaus Halle
"Die Schlägerei hört einfach nicht auf"
Gefängnisalltag 1971–1990
Mit Fotografien von Marcus-Andreas Mohr
Herausgegeben vom Zeit-Geschichte(n) e.V. – Verein für erlebte Geschichte
Mitteldeutscher Verlag 2023
236 S., Br., 165 × 240 mm, s/w- und Farbabb.
ISBN 978-3-96311-788-6
20,00 Euro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 08. November 2023 | 07:40 Uhr