Ein Kind schaut hoch, wo eine Hand ein Geldschein aus einem Portemonnaies nimmt.
In vielen Haushalten in Sachsen-Anhalt macht sich die Inflation im Geldbeutel bemerkbar – vor allem Einkommensschwache sind besonders stark betroffen. Bildrechte: IMAGO / photothek

Kommentar Inflation im Alltag: So geht es den Menschen in Sachsen-Anhalt

03. Juli 2022, 17:28 Uhr

Die Inflation trifft auch die Menschen in Sachsen-Anhalt – viele von ihnen bekommen finanzielle Probleme. Diejenigen, die vorher schon einkommensschwach waren, sind besorgt, wie sie die steigenden Preise bezahlen sollen. MDR-Redakteur Uli Wittstock überdie aktuelle Situation und die diskutierten Lösungsansätze.

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  • Steigende Preise: Professor Andreas Knabe erklärt, dass es ein normaler Vorgang ist, dass Preise auf knappe Güter höher werden.
  • Die höheren Preise und Inflation gelten für alle. Allerdings sind besonders einkommensschwache Menschen davon betroffen.
  • Gegen einen Armutsbeauftragten spricht sich LIGA-Chef Christoph Stolte aus. Jedoch fordert er, dass bei dem Erlass von Gesetzen stärker auf ärmere Menschen geachtet wird.

"Wir werden ärmer" scheint die neue Variante des Merkelschen "Wir schaffen das" zu sein. Als Wirtschaftsminister Habeck das vor Wochen so formulierte, sorgte das für Schlagzeilen. Unlängst kündigte Finanzminister Lindner drei bis fünf "harte" Jahre an. Doch was heißt das eigentlich genau? Statt drei nur noch zwei Flugreisen im Jahr oder zu Ende des Monats ein leerer Kühlschrank? Es kommt also auf die Sichtweise an.

Ob die Einkaufskörbe weniger gefüllt sind, lässt sich derzeit schwer einschätzen. Allerdings stellt man beim Streifen durch die Supermärkte fest, dass zumindest die Ecken mit den Sonderangeboten stärker frequentiert werden, als sonst.

Steigende Preise schon vor dem Krieg in der Ukraine

Und auch beim Tanken fällt auf, dass es wieder vermehrt Menschen gibt, die weniger auf den Füllstand achten, sondern stattdessen auf den Preis, um dann bei fünfzehn oder zwanzig Euro den Tankdeckel wieder zuzuschrauben.

Nach Jahren von Rabatt- und Niedrigpreisschlachten ist die Teuerung zurückgekehrt, allerdings nicht wie ein Dieb in der Nacht, sondern mit einem gewissen Vorlauf, denn schon vor dem Ukrainekrieg stiegen ja die Preise.

Bei den Spritpreisen gibt es nach einer aktuellen ADAC-Untersuchung große regionale Unterschiede. Warum das so ist, erfahren Sie hier im Video:

Inflation nicht generell etwas Schlechtes

Auch wenn in Schlagzeilen von Preisfieber, Teuerungswellen oder dem Inflationsgespenst die Rede ist, so handelt es sich bei diesen Vorgängen weder um Naturgewalten oder geisterhafte Erscheinungen, sondern um menschengemachte Entwicklungen.

Diese zu beobachten und zu beurteilen ist die Aufgabe von Fachleuten, in den meisten Fällen in der Wirtschaftswissenschaft angesiedelt. Einer von ihnen ist Professor Andreas Knabe. Er lehrt Finanzwissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

In der Finanzwissenschaft geht es natürlich um Zahlen, vor allem aber um das Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte. Um Gut und Böse geht es aber nicht – das wäre dann eher ein Thema für die Philosophie. Wenn man das voraus schickt, dann wundert es nicht, dass Professor Knabe die Inflation an sich als nichts Schlechtes sieht:

Man muss akzeptieren, dass die Preise von den Produkten steigen, wenn sie knapper werden. Das betrifft insbesondere den Bereich Energie, aber auch die Nahrungsmittel. Wir sehen, dass Nahrungsmittel weltweit fehlen, nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in anderen Ländern, in Afrika, wo die Folgen dramatischer sind.

Andreas Knabe Professor für Finanzwissenschaft an der Uni Magdeburg

Das menschliche Leid, das dadurch entstünde, sei viel größer als hier. Deshalb kommentiert Knabe weiter: "Und deswegen müssen wir es zulassen, dass die Preise für diese Produkte, die weltweit knapper werden, ansteigen. Damit jeder das richtige Signal hat, weniger zu verbrauchen."

Mehrkosten für alle – Einkommensschwache besonders betroffen

Das heißt nicht, dass deutsche Verbraucher nun hungern müssen, um die drohende Katastrophe in Afrika abzuwenden. Aber es bedeutet, dass die Mehrkosten für Lebensmittel in anderen Bereichen der Lebensführung zu Einsparungen führen werden.

Dies ist wohl die eigentliche Kernbotschaft der Habeckschen Mitteilung, dass wir alle ärmer werden. Zwar treffen die gestiegenen Preise alle Verbraucher, doch die Möglichkeiten, diese Preise auszutarieren, sind eher ungleich verteilt.

Und wer nun mitteilt, die Party sei vorbei, auch mit Blick auf die unübersehbaren Folgen des Konsumwahns, der übersieht leicht jene, die bei dieser Party eher nur als Zaungäste dabeistanden. Und Finanzwissenschaftler Knabe bestätigt das: "Prozentual betrifft die aktuelle Inflation natürlich Haushalte, die einen größeren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel und für Energiekosten ausgeben stärker. Und das sind die einkommensschwächeren Haushalte." Nach aktuellen Zahlen sind zwanzig Prozent der Sachsen-Anhalter arm oder von Armut bedroht, und die trifft es in diesen Zeiten besonders.

Was Menschen aus Halle bewegt, die Hartz IV bekommen, können Sie sich in dieser exactly-Reportage anschauen:

Armut macht stumm

Alle Versuche mit Betroffenen zu reden, gestalten sich schwierig. Wer arm ist, möchte über seine Lebenssituation öffentlich nicht reden. Die Hartz IV-Seifenopern im Privatfernsehen haben ja die Klischees über Menschen in Armut nicht unbedingt abgebaut, sondern eher verfestigt.

So hat es sich in den letzten Jahren zunehmend eingespielt, dass Sozialverbände in die Rolle der Sachverwalter für benachteiligte Menschen treten. Die LIGA in Sachsen-Anhalt vereint fünf Wohlfahrtsverbände, und derzeitige Chef der LIGA ist der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte.

Für ihn ist das Problem auch ein sehr deutsches: "Wir haben so eine gesellschaftliche Grunderzählung. Wer arm ist, ist selbst daran schuld, hat etwas falsch gemacht im Leben. Sonst wäre er nicht arm. Und das führt erst einmal dazu, dass sich der Einzelne schämt, arm zu sein. Also versucht er, es irgendwie nach außen nicht sichtbar zu machen. Und das führt also nicht zu politischen Aktionen, sondern es führt in den Rückzug. Deswegen ist es so ruhig, obwohl es jeden Fünften betrifft."

Wenn in Frankreich die Gelbwesten protestieren, blicken die meisten Deutschen eher verständnislos über den Rhein, nur wenn es um die Impfpflicht geht, formiert sich hierzulande Widerstand. Und so bleibt es die Aufgabe der Wohlfahrtsverbände, darauf zu verweisen, dass die ungleiche Verteilung von Reichtum zu sozialen Schieflagen in Deutschland führt.

9-Euro-Ticket und Tankrabatt auf Kosten der Enkel

Finanzwissenschaftler Andreas Knabe sieht kritisch auf die Versuche der Bundesregierung, die Menschen zu entlasten, denn die Entlastungspakete sind kreditfinanziert. Wer also heute mit einem 9-Euro-Ticket fährt, der fährt auf Kosten seiner Enkel umher, denn die müssen die Kosten der Aktion, rund drei Milliarden, später zahlen.

Zudem stellt sich die Frage, welchen sozialpolitischen Sinn es macht, dass pensionierte Oberstudienräte hoch subventioniert durch die deutschen Lande fahren, denn Hartz IV-Empfänger dürften eher selten das 9-Euro-Ticket nutzen. Und natürlich stellt sich auch die Frage, warum ein Tankrabatt den SUV-Fahrer gleichermaßen entlasten soll, wie den kleinen Dienstwagen einer ambulanten Pflegekraft. Professor Knabe formuliert es zurückhaltender:

Der Staat muss die Nachfrage drosseln. Das kann der Finanzminister tun, in dem er auf die Bremse tritt. Oder man könnte die Steuern erhöhen. Das reduziert die Einkommen und führt zu weniger Konsum. Oder man erhöht die Zinsen und senkt damit die Investitionen.

Andreas Knabe Professor für Finanzwissenschaft an der Uni Magdeburg

Und dabei gibt es jedoch zu beachten, dass Sparpolitik und höhere Steuern jetzt wirken, die Folgen einer Zinserhöhung zeigen sich erst später. Wenn nämlich die Zinsen steigen, sinken die Investitionen und das habe Folgen für die kommenden Generationen: "Mit weniger Investitionen sind die Produktionsmöglichkeiten in Zukunft geringer. Und das heißt, dass für die nächsten Generationen die Einkommen niedriger sein werden, die Konsummöglichkeiten geringer. Man verschiebt damit Lasten in die Zukunft." Auch deshalb ist die Debatte über höhere Zinsen so beliebt, weil diejenigen, welche die Folgen spüren werden, noch keine relevante Wählerschicht sind.

In der jüngeren Generation macht sich die Inflation zum Beispiel auch in der Schule bemerkbar, wo das Essen teurer wird: 

Brauchen wir einen Armutsbeauftragten?

Dass Sachsen-Anhalt im Bundesvergleich viele arme Menschen hat, ist auch eine Folge der Deindustrialisierung nach dem Ende der DDR. Und während die einen Omas Häuschen erben oder den Kleingarten der Großtante, so erben andere die Armut ihrer Eltern. Die Mehrheit hierzulande scheint sich jedoch an diesen Umstand gewöhnt zu haben. Möglicherweise bräuchten die Betroffenen einen Armutsbeauftragten, der zum Beispiel der Landesregierung zuarbeitet.

Christoph Stolte von der Diakonie Mitteldeutschland hält davon jedoch wenig: "Auf den ersten Blick klingt das gut. Wir haben jemanden, der das Thema voranbringt, weil es ein Querschnittsthema ist, das eigentlich alle politisch Verantwortlichen angeht. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass man sagt: Jetzt haben wir einen Beauftragten, der kümmert sich. Das Thema wird wegdelegiert, und es ändert sich nichts."

Stolte: Armut bei Gesetzgebung im Blick haben

Aus Sicht von Christoph Stolte gäbe es eine bessere Variante, um die Bedürfnisse armer Menschen politisch stärker zu berücksichtigen. Bereits jetzt wird ja jedes Gesetz im Landtag auf seine finanziellen Folgen geprüft. Auch die ökologischen Fragen geraten zunehmend in den Blick. Deshalb schlägt Stolte vor:

Es könnte bei jedem Gesetz geprüft werden, ob es Armut und Ausgrenzung verringert und zwar bei allen Verordnungen und Regelungen, die der Staat macht.

Christoph Stolte Chef der LIGA in Sachsen-Anhalt

Dass sich die Politik um das Thema nicht kümmert, ist jedoch ein Vorwurf, der so nicht zu halten ist. Auf der letzten Landtagssitzung stand das Thema auf Antrag der Linken auf der Tagesordnung. Es herrschte Einstimmung im Parlament, nämlich den Antrag in den Sozialausschuss zu verweisen. 

MDR (Uli Wittstock,Johanna Daher)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 03. Juli 2022 | 12:00 Uhr

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