Kinderärztemangel auf dem Land Warum ein Kinderarzt in der Börde immer mehr zu tun hat

02. Oktober 2022, 15:53 Uhr

In Sachen-Anhalt gibt es zu wenige Kinderärzte, insbesondere in ländlichen Gegenden wie dem Landkreis Börde. Roland Achtzehn aus Wanzleben ist einer der wenigen Kinderärzte in der Region und hat immer mehr zu tun – doch es fehlt ihm an Personal. Besuch bei einem Mediziner, dessen Wartezimmer immer voll ist.

MDR SACHSEN-ANHALT-Reporter Lucas Riemer
Bildrechte: Magnus Wiedenmann

Ein Donnerstagnachmittag in der Kinderarztpraxis von Roland Achtzehn in Wanzleben: Das Wartezimmer ist voll, neben Kindern sitzen Mütter und Väter, manche spielen auf ihren Handys. Gelegentlich öffnet sich eine Tür und Roland Achtzehn tritt heraus, um eine der Familien ins Behandlungszimmer zu bitten. Dort fragt der Kinderarzt nach dem Befinden, horcht Lungen ab, wirft einen Blick auf Laborergebnisse, stellt Rezepte aus. Meist dauert das nur ein paar Minuten. Noch ein kurzer Vermerk in der Akte und ein freundliches "Tschüss", dann leuchtet schon der Name des nächsten Patienten ganz oben auf Roland Achtzehns Computermonitor auf.

Der Mediziner hat viel zu tun, denn er gehört zu einer seltenen Spezies: Neben seiner gibt es nur noch zwei weitere Kinderarztpraxen im Bördekreis. Auf 10.000 Kinder und Jugendliche in dem Landkreis kamen im Jahr 2021 gerade mal rund 3,5 ambulant tätige Kinderärzte. In der vertragsärztlichen Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA) gilt der Bördekreis ebenso wie der Landkreis Stendal, der Saalekreis und der Kreis Mansfeld-Südharz als kinderärztlich unterversorgt.

Die Folgen merkt Roland Achtzehn beim Blick in sein Wartezimmer. "An manchen Montagen", sagt er, "haben wir allein vormittags in der Akutsprechstunde mehr als 80 Patientinnen und Patienten." Mehr als 3000 Kinder und Jugendliche werden in seiner Praxis pro Quartal behandelt, viele davon mehrmals. Sie kommen aus dem ganzen Bördekreis und manchmal gar aus anderen Ecken des Landes. Denn als Kinderlungenspezialist ist Roland Achtzehn überregional gefragt.

Selbst aus dem rund 70 Kilometer entfernten Gardelegen bringen Eltern ihre Kinder in Achtzehns Wanzlebener Praxis. "Ich versuche, das Ortsprinzip anzuwenden. Das heißt, wer nicht aus dem Bördekreis kommt, wird momentan abgelehnt, weil wir die Arbeit sonst nicht mehr schaffen", sagt Roland Achtzehn. Für die Lungenpatienten gebe es aber Ausnahmen.

Immer mehr Arbeit für Kindermediziner

Seit 1996 praktiziert Roland Achtzehn in Wanzleben. "Der Job ist in der Zeit wesentlich stressiger geworden", sagt der Kinderarzt. Nicht nur, weil die Anzahl der zu versorgenden Patientinnen und Patienten immer größer werde und die Digitalisierung derzeit mehr Ärger als Nutzen stifte. "Eltern schicken ihre Kinder heute viel öfter zum Arzt, es als vor 20 oder 30 Jahren der Fall war", sagt Achtzehn.

Auch die Corona-Pandemie habe zu mehr Arbeit für die Kinderärzte geführt. Zum einen, weil Kinder schon mit leichtesten Infektanzeichen in die Praxen kämen. "Außerdem haben durch die Pandemie viele Gesundheitsprobleme stark zugenommen, etwa im psychischen Bereich." Das Problem: Für solche Patientinnen und Patienten bräuchte es eigentlich mehr Zeit für Gespräche, als sie der eng getaktete Praxisalltag zulässt. "Wir versuchen dann, Termine an den Tagesrandzeiten zu finden, wenn mehr Zeit ist, aber irgendwann stoßen Sie an Belastungsgrenzen", sagt der Kindermediziner.

"Die Arbeit würde eigentlich für drei reichen", sagt Achtzehn, der sich die Praxis mit einer angestellten Kinderärztin teilt. Zumal neben dem Praxisalltag regelmäßig Notdienste in der Landeshauptstadt anstünden. "Die Kinderärzte in Magdeburg würden das alleine sonst gar nicht mehr schaffen", so Achtzehn. Nicht nur die Ärzte leiden unter der hohen Arbeitsbelastung, auch das medizinische Personal und letztlich die Patienten. Schon seit zwei Jahren sucht Achtzehn eine weitere Medizinische Fachangestellte, um sein Team zu entlasten – bislang erfolglos.

Das nervt!

Mutter aus Magdeburg über lange Wartezeiten bei Kinderärzten

Wie ihm gehe es vielen Praxen im Land, berichtet Achtzehn, der auch Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Sachsen-Anhalt ist. Überall fehle es an Ärzten und Personal. Die Folge für die Kinder und ihre Eltern: Lange Wartezeiten und bisweilen schlechte Erreichbarkeit der Praxen. Kerstin aus Magdeburg, die mit ihrer Tochter zur Lungenuntersuchung nach Wanzleben zu Roland Achtzehn kommt, ansonsten aber mit ihr in der Landeshauptstadt zum Kinderarzt geht, berichtet etwa, dass sie dort sehr lange auf Termine warten und bei Akutfällen stundenlang im Wartezimmer sitzen müsse: "Das nervt!"

Frauke Grund, ebenfalls aus Magdeburg, die mit ihrem Sohn zur Grippeschutzimpfung gekommen ist, erzählt, sie sei froh, dass ihr Sohn bereits Teenager ist und sie heutzutage keinen neuen Kinderarzt mehr suchen müsse: "Ich möchte bei dieser Situation keine kleinen Kinder mehr haben."

Viele Kinderärzte finden keine Nachfolger

Glaubt man den Statistiken, könnte sich der Mangel an Kinderärzten in Sachsen-Anhalt künftig weiter zuspitzen. Mehr als 25 Prozent aller Kindermediziner im Land waren im Jahr 2021 mindestens 60 Jahre alt. Viele Kinderärztinnen werden also in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen – und längst nicht alle finden Nachfolgerinnen für ihre Praxen.

Die Lebensmodelle junger Menschen hätten sich verändert, sagt Roland Achtzehn, selbst 62 Jahre alt. Kaum jemand, der von der Universität komme, hätte heutzutage noch Lust, für viel Geld eine Praxis zu kaufen und 60-Stunden-Wochen zu arbeiten, schon gar nicht in ländlichen Regionen.

Ein Grund dafür sei auch, dass es der ambulanten Medizin an Wertschätzung in Politik und Gesellschaft fehle, findet Roland Achtzehn. Während etwa Kliniken während der Pandemie viel Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren hätten, sei dies bei kleinen Praxen nicht der Fall gewesen, obwohl diese das Rückgrat der medizinischen Versorgung seien.

"Die Luft brennt"

Die KVSA teilt auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit, sie fordere seit Jahren "die dringend notwendige Erhöhung der Anzahl der Medizin-Studienplätze, um den Bedarf an Ärzten sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich zukünftig decken zu können." In den Praxen ist jedoch noch längst keine Entlastung spürbar, im Gegenteil. "Die Luft brennt", sagt Roland Achtzehn. In Hamburg und Bayern seien für Oktober bereits Ärztestreiks geplant, um auf die Situation aufmerksam zu machen, auch in Sachsen-Anhalt gebe es solche Überlegungen.

"Aber wenn ich daran teilnehme, schneide ich mir ins eigene Fleisch, weil am nächsten Tag noch mehr Patienten vor der Tür stehen", sagt der Kinderarzt aus Wanzleben. Dass sein Wartezimmer für den Rest seines Berufslebens voll sein wird, an diesen Gedanken hat sich Roland Achtzehn längst gewöhnt. Spätestens in fünf Jahren möchte er sich zur Ruhe setzen. Ob er bis dahin einen Nachfolger für seine Praxis gefunden hat? "Ich hoffe es", sagt Roland Achtzehn.

MDR SACHSEN-ANHALT-Reporter Lucas Riemer
Bildrechte: Magnus Wiedenmann

Über den Autor Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.

Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 04. Oktober 2022 | 13:30 Uhr

1 Kommentar

Gisi5 am 04.10.2022

Es ist schon schlimm wenn man als Erwachsener nicht richtig behandelt wird. Aber als Kind?
Aber die andere Seite, wir saßen früher auch schon mit unseren kranken Kindern stundenlang in der Praxis. Nur haben wir gedacht, dass es nach der Wende besser wird. Fehlanzeige. Es wurde immer mehr geschlossen. Und wenn ich nun hören musste, dass eine Kinderärztin noch Samstags und Sonntags im Impfzentrum zum Impfen war, kann es wohl nicht so schlimm mit der Belastung sein.
Ich weiß, dass eigentlich alle am Anschlag arbeiten. Aber wenn noch zu viel Kraft ist, im Impfzentrum zu arbeiten. Naja, ist bestimmt einfacher. Wenn ich noch an meine Impfung denke, meine Diagnosen hat da wirklich niemand interessiert. Aufklärung gab es, "wenn sie Kopfschmerzen oder Fieber haben, dann nehmen Sie Ibu oder Paracetamol". Coole Sache. Aber davon will oder darf ja keiner erhahren. Geht das alles mal ei Bisschen lebensnaher - wirklicher?

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