Halle-Attentat: Reportage zum sechsten Prozesstag Schüsse in Helbra, die niemand hörte

26. August 2020, 15:07 Uhr

Ein Tisch voller Waffen – am sechsten Verhandlungstag wurden die Gewehre und Pistolen gezeigt, die der Attentäter von Halle gebaut und verwendet hatte. Vor Gericht haben Ermittler des BKA ausgesagt. Erste Waffen hatte Stephan B. demnach bereits 2011 gekauft und mitten in Helbra testweise genutzt.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Zwei selbstgebaute Waffen
Am sechsten Prozesstag ging es vor allem um die Waffen des Attentäters. Bildrechte: MDR/Max Schörm

Auf einem Tisch im Gerichtssaal liegen die acht Gewehre und Pistolen, mit denen zwei Menschen getötet, zwei weitere schwer verletzt und dutzende traumatisiert worden sind. Es sind längliche Kartons. Beschriftete Aufkleber des BKA zeigen an, was sich darin befindet.

Als ein Gutachter die Waffen zeigt und erläutert, ist der Angeklagte zunächst ganz fasziniert von seinen eigenen Bauten. Mehrfach grinst er. Er macht Anmerkungen, kommentiert die Ergebnisse der Gutachter. Längst nicht alle dieser Waffen waren bei dem Anschlag verwendet worden - doch das BKA hat alle getestet. Wenn der Gutachter sagt, dass ein bestimmter Waffentyp nicht funktioniere, widerspricht der Angeklagte und erläutert, wie die selbstgebaute Waffe doch noch abgefeuert werden könne.

Dem Angeklagten gegenüber sitzt Ismet Tekin, auf den Stephan B. auf der Ludwig-Wucherer-Straße am 09. Oktober 2019 gefeuert hatte. Er starrt ausdruckslos auf die Waffen, mit denen in seinem Laden, dem Kiez-Döner, ein Mensch erschossen worden ist. Später sagt er zum Verhalten seines Gegenübers, es nerve ihn. 

Er ist irgendwie stolz drauf, was er getan hat. Für ihn ist einfach alles egal: Wer gestorben ist, verletzt ist, erschüttert ist.

Ismet Tekin, Betroffener

Tat jahrelang vorbereitet

Der Attentäter von Halle hatte sich offenbar früher Waffen beziehungsweise Teile von Waffen gekauft, als bisher bekannt war. Vor Gericht hatte Stephan B. bisher gesagt, er habe sich erst ab März 2019 auf den Anschlag am jüdischen Jom Kippur-Feiertag vorbereitet. Das Attentat von Christchurch, Neuseeland, nannte er als Auslöser.

Doch die Ermittler des Bundeskriminalamtes zeichnen ein anderes Bild: So habe der Angeklagte bereits 2011 ein Schwert und ein Kampfmesser der Firma Glock gekauft. Beide Waffen hatte er demnach acht Jahre später dabei, als er in Halle zwei Menschen tötete. 

Ab 2012 hatte Stephan B. damit begonnen, Chemikalien, Metallteile und Spezialwerkzeuge zum Waffenbau und zur Herstellung von Munition im Internet zu bestellen. Von der frühesten Chemikalien-Bestellung (Zinkpulver) können die Ermittler nicht sagen, ob sie dem Waffenbau diente. Spätestens ab Mai 2015 wurde es eindeutig: Damals orderte der Angeklagte online 11,3 Kilogramm Bleischrot für die Munitionsherstellung. 2017 folgten beispielsweise Präzisionsrohre, seitdem viele andere Teile und Chemikalien.

Waffennarr seit Jugendzeiten

Der Angeklagte selbst hatte bereits am ersten Verhandlungstag ausgesagt, die Flüchtlingskrise 2015 habe ihn zum Waffenbau bewegt. Im Großen und Ganzen passe das zu den Ergebnissen der Finanz-Ermittlungen, sagte einer der sechs BKA-Ermittler, die am Dienstag befragt worden sind. Tatsächlich seien die meisten Komponenten nach 2015 gekauft worden.

Weitere Recherchen von MDR EXAKT und MDR SACHSEN-ANHALT erweitern dieses Bild aber. Bereits im Juni 2020 konnten MDR-Reporter mit einem früheren Bekannten von Stephan B. in Benndorf sprechen. Demnach war der Angeklagte schon zu Jugendzeiten fasziniert von Waffen. 

Von 2007 bis 2008 hatte Stephan B.s Schwester versucht, ihren Bruder in ihren eigenen Freundeskreis zu integrieren. Maik Langner, der Bekannte aus dieser Zeit, sagte MDR SACHSEN-ANHALT, dass Stephan B. sich schon damals sehr für Waffen interessiert habe. Gespräche hätten sich um Waffen gedreht; etwa um die Erfahrungen, die Stephan B. bei der Bundeswehr bei der Schießausbildung mit den Standardwaffen P8, G3 und G36 gemacht hatte. Über eine Absicht, selbst Waffen herzustellen, habe er damals aber noch nicht geredet.

Waffentests im Schuppen

2015 kaufte der Angeklagte dann ein Karabiner-Gewehr im Internet und begann kurz darauf die Materialien zur Munitionsherstellung zu bestellen. Mehrere Bohrer waren von der Mutter des Angeklagten bezahlt worden. Mit den Werkzeugen und einem 3D-Drucker fertigte er mehrere Pistolen, zwei automatische Waffen und zwei improvisierte Schrotflinten.

Der Angeklagte selbst erklärte heute, er habe alle seine Waffen auch getestet: Im Schuppen des Hauses seines Vaters in Helbra habe er mit jeder Waffe mindestens einen Schuss zum Test abgefeuert. Eine Holzkiste mit Stoff und mehrere Holzplatten sollen als Ziel gedient haben. Niemand hatte das offenbar gehört und ist misstrauisch geworden.

Das juckt keinen mehr. Die Gefahr, dass es gehört wird, ist groß. Aber interessiert es jemanden?

Gutachter des Bundeskriminalamtes zu Testschüssen in Helbra

Mit seinen Aussagen über die Waffentests im Schuppen widerspricht der Angeklagt sich selbst. Zu Beginn des Prozesses hatte er noch erklärt, die Waffen nicht allesamt probegeschossen zu haben. Das fällt auch Ismet Tekin auf: "Also frage ich mich: Wie geht das, wenn ich im Haus meines Vaters mit Waffen rumspiele, dass mein Vater nichts mitkriegt?"

Angeklagter: Aufmerksam, interessiert, grinsend

Nicht nur Schusswaffen, sondern auch Brand- und Sprengsätze hatte der Angeklagte bei seinem Anschlag verwendet. Ein weiterer Gutachter des BKA stellte ein Gutachten zu der Bombe vor, die der Angeklagte am Tor zum jüdischen Friedhof gezündet hatte, um so auf das Synagogen-Gelände zu gelangen. Als das BKA einen Nachbau dieser Bombe zündete, wurden Splitter fortgeschleudert, die noch auf eine Distanz von 157 Meter tödliche Verletzungen hervorrufen konnten. Am Tag des Anschlages hatte das Tor der Explosion zum Glück stand gehalten.

Als der Gutachter über die Explosionskraft der Bombe spricht, macht der Angeklagte Einlassungen; es entwickelt sich eine Art "Fachgespräch" zu Sprengstoffen. Stephan B. fragt nach, wie genau die Ermittler seine Bombe rekonstruiert haben, welche Art von Sprengstoff dabei verwendet wurde, stellt Unterschiede bei den Mengen und der Dichte der verwendeten Sprengstoffe heraus. Die Einschätzung des Gutachters zur Gefährlichkeit der Bombe beeinflusst das nicht wesentlich.

Als der Gutachter mehrfach ein Video abspielt, das die Explosion der Vergleichsbombe zeigt, beugt sich der Angeklagte vor zu einem Monitor, wirkt völlig konzentriert und aufmerksam – und grinst mit jedem Durchlauf des kurzen Videos etwas mehr.

Betroffener: Enttäuscht von den Ermittlungsergebnissen

Ismet Tekin verfolgt jede Regung des Angeklagten genau. Er war am Tag des Anschlages auf der Ludwig-Wucherer-Straße, heute gehört ihm der Kiez-Döner. "Ich will wissen, wer ist hinter ihm, wer ist neben ihm", sagt er: Die Frage nach möglichen Hintermännern, nach möglichen Unterstützern des Angeklagten beim Waffenbau, kommt seiner Meinung nach bisher im Prozess zu kurz. 

Insgesamt waren sechs Ermittler an diesem Verhandlungstag geladen worden. Nicht alle wirkten gut vorbereitet. Einige konnten die Fragen des Gerichtes und der Anwälte der Nebenkläger nicht beantworten. Oft ist der Satz "Das müsste ich jetzt nachschauen" zu hören; oft wird auf Kollegen verwiesen. Das betrifft vor allem einen Komplex: den Abruf und die Verteilung der Daten-Archive, die der Angeklagte direkt vor der Tat ins Internet gestellt hatte.

Darin befanden sich unter anderem 3D-Druck-Daten für die Herstellung von Waffen. Von zwei Brüder aus Nordrhein-Westfalen waren die Daten sofort heruntergeladen und weiterverbreitet worden. Inwiefern der Hintergrund dieser Leute ausermittelt worden war, konnte ein BKA-Mann nicht genauer sagen – das sei "nicht relevant". 

Weitere Verhandlungstage bis November

Morgen, am 26.08.2020, könnte es Antworten auf Ismet Tekins Fragen geben. Dann sollen weitere Zeugen zum Umfeld des Angeklagten aussagen – und weitere Ermittler des BKA befragt werden, unter anderem zu den Bewegungen und Kontakten von Stephan B. im Internet. Außerdem hat das Gericht inzwischen weitere Verhandlungstermine angesetzt. Das Urteil kann nun für den 18. November erwartet werden.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen - häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

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Quelle: MDR/jd

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 25. August 2020 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

husar am 26.08.2020

Man kann nur hoffen,das der Prozess noch jahrelang dauert,damit auch jede Einzelheit über den Angeklagten und seine Familie und seine Bekannten ans Licht kommt.

Haller am 26.08.2020

Ja wo war Ismet Tekin nun genau?
Kann der MDR da nicht einmal einen Lageplan bieten?
Wo war der Bruder von Ismet Tekin und wann genau ist Rifat Tekin wie geflohen ?
Warum kann der MDR nicht über diesen Tatort berichten?

Haller am 26.08.2020

Lustig wie hier plötzlich Waffen die niemals im Film verwendet würden und auch nicht im Manifest auftauchen.

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