Aschersleben Stadtschreiber-Projekt "Nine Points of View" mit Jean Back aus Luxemburg gestartet
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06. Oktober 2024, 09:37 Uhr
Aschersleben gilt als älteste Stadt in Sachsen-Anhalt. Nicht aus der Historie, sondern der Gegenwart sollen nun gleich neun Stadtschreiber berichten: Dahinter steckt mit "Nine Points of View" ein besonderes Literatur-Projekt, das Profis und junge Leute vor Ort zusammenbringt – und einen frischen Blick aus europäischer Perspektive erlaubt. Den Anfang machte jetzt Jean Back aus Luxemburg, der Jugendlichen von der Gemeinschaftsschule "Albert Schweitzer" Lust aufs Erzählen und die ganz eigene Story machte.
- Von seinen Eindrücken als Stadtschreiber in Aschersleben hat Jean Back aus Luxemburg am Freitag bei einer Lesung berichtet.
- Back ist einer von neun Autorinnen und Autoren, die im Rahmen des Literatur-Projektes "Nine Points of View" für jeweils zwei Wochen eingeladen wurden.
- Zum Programm gehören Begegnungen und ein Schreib-Workshop mit Jugendlichen. Am Ende sollen ein Buch sowie eine Kunstmappe erscheinen, die einen frischen Blick auf die Stadt erlauben.
Mit dem luxemburgischen Autor Jean Back ist das Literaturprojekt "Nine Points of View" in Aschersleben gestartet. Am Freitag stellte der 71-Jährige seine Eindrücke von den Begegnungen mit der Stadt und den Menschen bei einer Lesung aus ersten Textfragmenten und im Publikumsgespräch vor. Ohne Vorwissen und Vorurteile, aber mit großer Neugier sei er vor zwei Wochen nach Aschersleben gekommen, berichtet Back im Interview mit MDR KULTUR.
Er sei mit dem Internet-Navigator auf dem Smartphone zu den Sehenswürdigkeiten der ältesten Stadt in Sachsen-Anhalt gesaust. Interessant seien aber vor allem seine vielen Gespräche unterwegs gewesen, dabei seien ihm alte und junge Menschen meist offen und mit großer Herzlichkeit begegnet.
Die Menschen sind mir mit Herzlichkeit begegnet.
Europa im Kleinen: Neun europäische Autoren in Aschersleben
Back wurde von der Kreativwerkstatt – Werkstätten für Kunst und Wissenschaft nach Aschersleben eingeladen, als einer von neun Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus den neun europäischen Ländern, die an Deutschland grenzen. Das Projekt wird von der Stadt, der Bundeskulturstiftung und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.
In jeweils zweiwöchigen Aufenthalten sind sie nicht nur Stadtschreiber für kurze Zeit, wie Sven Großkreutz als Mitinitiator des Projektes betont. So wie Back arbeiteten sie jeweils auch in Workshops mit Schülerinnen und Schülern.
Exkursion und Workshop mit Schülern
Nicht nur den geplanten halben, sondern vier Tage habe Back sich dafür Zeit genommen, erzählt Großkreutz im Gespräch mit MDR KULTUR. "Auf einer Wanderung von der Kreativwerkstatt, symbolisch gen Nordwesten in Richtung Luxemburg, wurden erst Fundstücke gesammelt, die sie zu kurzen Texten inspirieren sollten." Einige, die die Stimmung in der Stadt auf ihre ganze eigene Weise spiegelten, so Großkreutz, seien am Freitagabend im Theatersaal der Kreativwerkstatt zu hören gewesen.
Back sei es gelungen, die meisten der 13-Jährigen für das Projekt zu begeistern, findet Großkreutz, der in Aschersleben aufgewachsen ist und heute als Maler und Grafiker in Halle lebt: "Teenager, die sich sonst in dem Alter eher verpuppen, haben sich in der Arbeit an den Texten geöffnet."
Rund 100 Jugendliche begleitete Back im Workshop. Er habe sich über ihre Spontaneität und die vielen Fragen gefreut, sagt er im Rückblick. Entstanden seien düstere, traurige, aber auch lustige Texte: "Es war eine tolle und intensive Erfahrung."
Es war eine tolle und intensive Erfahrung.
Jean Back: Keine Sprachbarrieren
Sprachbarrieren gab es für Back in Aschersleben nicht. Geboren in Düdelingen im Kanton Esch, nahe der französischen Grenze, wuchs er dreisprachig auf. Seine Bücher schreibt er von Beginn an auf Deutsch und Luxemburgisch.
Für seine Novelle "Amateur", die sich um Schüler-Unruhen im Jahr 1971 dreht, bekam er 2010 den Europäischen Literaturpreis. In seinem Debüt-Roman "Wollékestol" erzählt er von seiner Kindheit in einer Stadt, die lange von der Stahlindustrie, deren Niedergang in den Siebziger und Achtziger Jahren sowie Abwanderung geprägt war.
Back favorisiert als Genre die Kurzgeschichte, für "European Cloud", in der es um Rassismus geht, bekam er 2018 den Preis des Europäischen Parlamentes.
Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Back für das Kulturministerium. 1989 begründete er das Centre national de l’audiovisuel in Düdelingen als Institut für Film, Ton und Fotografie, das er bis Ende 2015 leitete. Seitdem widmet er sich ganz dem Schreiben.
Genau hinhören: Buch und Kunstmappe geplant
Zu seiner Arbeitsweise gehört es, mit Mikrofon und Aufnahmegerät unterwegs zu sein. Auch in Aschersleben wollte er genau hinhören, was die Stadt heute prägt. Ganz im Sinne einer kleinen Figur, die er beim Ascherslebener Goldschmied Kunert, der mit seinen 83 Jahren noch arbeite, entdeckt habe, erzählt Back. Als Anstecker getragen sehe sie aus, als wolle sie einem ins Ohr kriechen. Mit dem Goldschmied sei er ins Gespräch gekommen über den Materialmangel zu DDR-Zeiten und den Niedergang des kleinen Landes. Die jungen Leute, die er im Café Happy Day traf, hätten ihm erzählt: "In Ostdeutschland fehle es heute nicht an Arbeitsplätzen, sondern an Menschen".
Im Gespräch mit MDR KULTUR appelliert Back, der sich als überzeugten Europäer bezeichnet: "Wir leben auf einem einzigartigen Kontinent. Wir sollten uns den offenen Geist bewahren. Wir haben Werte zu verteidigen."
Wir leben auf einem einzigartigen Kontinent. Wir sollten uns den offenen Geist bewahren.
Fortsetzung folgt mit Maarten Inghels aus Belgien
An seinen Textfragmenten wird Back in den nächsten Wochen zuhause weiterarbeiten. Münden soll das Literaturprojekt "Nine Points of View" in ein Buch und eine künstlerisch gestaltete Mappe mit den Texten der Jugendlichen. Als nächstes kommt der belgische Schriftsteller und Künstler Maarten Inghels, Jahrgang 1988, nach Aschersleben, um als europäischer Nachbar auf die ostdeutsche Kleinstadt am Nordostrand des Harzes zu blicken.
Nine Points of View: Neun Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus neun europäischen Ländern in Aschersleben
- Jean Back, Jahrgang 1953, Luxemburg, ab 22. September, Abschlusslesung und Gespräch 4. Oktober
- Maarten Inghels, Jahrgang 1988, Belgien, ab 3. November, Abschlusslesung und Gespräch 15. November, ab 19 Uhr
- Michael Stavarič, 1972 geboren im tschechischen Brno, lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien, Österreich. Ab 12. Januar 2025, Abschlusslesung und Gespräch 24. Januar, ab 19 Uhr
- Dora Kaprálová, Tschechien, Mitte Februar 2025 kommt die Autorin, die auch für ihre Reportagen und Radiodokumentationen bekannt ist. Ihre Lesung findet am 28. Februar, 19 Uhr, statt.
- Helene Laurain, Jahrgang 1988, Frankreich. Die Autorin und Übersetzerin setzt sich stark mit den Themen Feminismus und Mutterschaft auseinander. Anfang März kommenden Jahres reist sie an, ihre Lesung findet am Freitag, 14. März 2025, 19 Uhr statt.
- Monica Cantieni, Jahrgang 1965, Schweiz, kommt Mitte März, ihre Lesung findet am 28. März 2025, 19 Uhr, statt.
- Charlotte Weitze, Jahrgang 1974, Dänemark. Sie ist Festivalleiterin, Dramatikerin und Dozentin und unter anderem für ihre Kurzgeschichten bekannt. Sie kommt am 4. Mai 2025, ihre Abschlusslesung findet am 16. Mai statt.
- Marjolein Visser, 1989, Niederlande, ist die jüngste Stadtschreiberin. Die Schriftstellerin, Psychologin und Kulturanthropologin schreibt vor allem Prosa und Sachbücher. Außerdem begleitet sie im Rahmen einer Stiftung Schriftsteller, Journalisten und Dichter mit Fluchthintergrund. Visser kommt am 15. Mai 2025 nach Aschersleben, ihre Lesung findet am 30. Mai statt.
- Tadeusz Dąbrowski aus Polen bestreitet das Finale. Der Dichter, Essayist und Redakteur bei einer Kulturzeitung ist außerdem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die Zahl seiner Veröffentlichungen ist immens, seine Gedichte wurden in 30 Sprachen übersetzt. Als letzter Stadtschreiber reist er am 1. Juni 2025 an, seine Lesung findet am 12. Juni, wie gewohnt 19 Uhr im Theatersaal statt.
Quelle: MDR KULTUR (Vladimir Balzer, Katrin Schlenstedt), Kreativwerkstatt Aschersleben
Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 23. September 2024 | 16:40 Uhr