Gutachter Tötungsfall Kezhia aus Klötze: Wie ein Professor der Polizei den Weg zur Leiche zeigte

Von Bernd-Volker Brahms, MDR SACHSEN-ANHALT

28. Oktober 2023, 11:40 Uhr

Die Auswertung des Fahrtenschreibers am Auto des 43-jährigen Tino B. führte die Polizei im April zum Fundort der getöteten Kezhia H. aus Klötze. Ein Geoinformatiker rekonstruierte exakt die gefahrenen Strecken. Sechs Wochen nach dem Verschwinden der jungen Frau aus Klötze konnte sie am 20. April gefunden werden – vergraben in einem Erdloch. Der Experte erläuterte nun am Landgericht Stendal sein Vorgehen.

Lange stocherten die Ermittlungsbehörden Anfang März im Dunkeln, nachdem die 19 Jahre alte Kezhia H. aus Klötze verschwunden war. Schnell geriet zwar der damals 42-jährige Freund der jungen Frau ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft. Jedoch fehlten handfeste Beweise – zuvorderst der Verbleib der 19-jährigen Frau.

Der Mann, der eine längere intime Beziehung zu der Vermissten hatte, verstrickte sich zwar in Widersprüche und wurde auch kurzzeitig verhaftet – musste aber wieder auf freien Fuß gesetzt werden.

"Es war wissenschaftlich herausfordernd"

Erst am 20. April konnte die Leiche der Frau gefunden werden. In einer rund zwei Meter tiefen Grube am Rande einer Kiesgrube in Bahrdorf (Landkreis Helmstedt) – etwa 40 Kilometer vom Heimatort der Getöteten entfernt. Erst dann konnte auch Tino B. als dringend Tatverdächtiger verhaftet werden. Seit September läuft der Prozess. Angeklagt ist Mord.

Ein wegen Mordes angeklagter Mann (2.v.l) wird zu Prozessbeginn in den Gerichtssaal gebracht. mit Video
Bildrechte: picture alliance/dpa | Matthias Bein

Den Durchbruch bei den Ermittlungen lieferte Professor Thomas Brinkhoff von der Jade-Hochschule im niedersächsischen Oldenburg. Der Geoexperte hatte mit seinem Team den Fahrtenschreiber des Firmenwagens des tatverdächtigen Mannes untersucht – und die Polizei letztendlich zum Tatort und dem Leichenfundort geführt. Ohne ihn würde es vermutlich derzeit keinen Prozess geben.

"Ich war überrascht, als ich den Auftrag von der Polizei bekommen habe", sagt der Hochschullehrer. Sein Institut für angewandte Photogrammetrie und Geoinformatik (IAPG) habe so etwas noch nie vorher gemacht. "Es war wissenschaftlich herausfordernd", sagt der 59-Jährige, der am Freitag im Landgericht Stendal detailliert die Ergebnisse seiner Arbeit vorstellte.

Digitaler Fahrtenschreiber ohne geografische Koordinaten

"Wir hatten von der Polizei Daten eines digitalen Fahrtenschreibers, eines sogenannten Tachografen erhalten", sagte Professor Brinkhoff im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. "Diese Daten bestehen aus einer Datumsangabe, einer Zeitangabe und einer Geschwindigkeitsangabe in Kilometern pro Stunde", sagt er. Nicht vorhanden gewesen seien geografischen Koordinaten, also beispielsweise GPS-Informationen.  

Die Wissenschaftler erstellten ein Profil der zurückgelegten Strecken. Die Geschwindigkeit des VW Crafters wurde dabei mit potenziellen Fahrstrecken in Verbindung gebracht. Straßenkarten und Luftbilder wurden abgeglichen. "Wir haben jeweils überprüft, ob die Strecken plausibel sind", so Brinkhoff.

Das Auto des Angeklagten im Kezhia-Prozess
Das Auto des Angeklagten: Die Auswertung des Fahrtenschreibers führte die Polizei zum Fundort der Leiche. Bildrechte: MDR/Polizeiinspektion Stendal

Immer, wenn dies nicht der Fall war, weil beispielsweise eine scharfe Kurve mit 90 km/h nicht durchfahren werden kann, dann sei die Strecke verworfen worden. So habe man sich schrittweise vorgearbeitet.   

Das entwickelte Verfahren wurde im weiteren Verlauf durch die Geoinformatiker Jörn Ahlers und Tobias Werner in einer webbasierten Kartenapplikation nutzbar gemacht und um interaktive Elemente erweitert. Mithilfe dieser Anwendung stand eine Plattform bereit, welche die eigenständige Ermittlungsarbeit der Polizei in Stendal bei der Erstellung eines umfangreichen Bewegungsprofils des Fahrzeugs unterstützte.

Exakte Rekonstruktion der Fahrtroute

"Wir hatten zunächst nur die Daten für den 4. März", sagt Thomas Brinkhoff. Dies war der Tag, an dem Kezhia H. letztmals lebend gesehen worden war. Letztendlich war es auch ihr Todesdatum, wie sich später herausstellte.

Von großem Vorteil war, dass die Wissenschaftler die Information hatten, dass der Firmenbulli an jenem Samstag um 13:02 Uhr in Klötze an der Bushaltestelle hielt und Kezhia H. dort zustieg. Die Wissenschaftler hatten den Startpunkt und konnten nun anhand insbesondere der Geschwindigkeit des Fahrzeugs den exakten Weg rekonstruieren.

Thomas Brinkhoff, Sachverständiger Kezhia-Prozess
"Es war wissenschaftlich herausfordernd", sagt Thomas Brinkhoff. Bildrechte: MDR/Bernd-Volker Brahms

"Wir waren uns über alle wesentlichen Aspekte, die die Fahrroute betraf sicher", sagt der Hochschullehrer. Das heißt, das Hochschul-Team konnte sicher identifizieren, wo der Tatort war, wo sich der erste Ablageort der Leiche befand und wo der Leichnam endgültig vergraben worden sein musste.

Brinkhoff: "Zwischendurch gab es manchmal Bereiche mit Unsicherheiten. Aber, wenn man dann einen Ansatzpunkt gefunden hat, also beispielsweise eine charakteristische Ortsdurchfahrt, dann kriegt man das Ganze letztendlich schlüssig hin."

"Wir haben gespannt gewartet"

Bereits nach zwei Tagen konnten die Wissenschaftler erste Ergebnisse an die Polizei liefern. Sie wurden dann auch damit beauftragt, die Fahrten des Fahrzeugs für die Folgetage zu analysieren. Am 8. April waren sie fertig. "Wir haben dann sehr gespannt gewartet, was passiert", sagt Brinkhoff. Am 20. April wurde die Leiche ausgehoben.

Die Wissenschaftler haben mit ihrer Arbeit bereits für Furore gesorgt. "In einigen Fachzeitschriften wurde es bereits publiziert", sagt der Professor. Auch das Computer-Magazin "Ct" habe das Thema aufgegriffen. Er habe auch schon an der Polizei-Akademie in Niedersachsen einen Vortrag gehalten, weitere sollen folgen, sagt der Geoinformatiker.

Gleichzeitig sei man dabei, ein automatisiertes Verfahren zu entwickeln. "Das wird aber trotz KI immer an seine Grenzen stoßen, da die Strecken bewertet werden müssen", sagt der Wissenschaftler.

Daten gerade noch rechtzeitig gesichert

Relevanz werde die Analyse für die Polizei trotz technischer Entwicklungen wie GPS (Glbobal Positioning System) aber auch künftig haben. "Bei GPS greift der Datenschutz, da bekommt man nur Informationen vom Start und Ziel sowie eine Koordinate alle drei Stunden", so Brinkhoff. Eine genaue Streckenrekonstruktion sei damit nicht möglich.

Auch im Fall Kezhia habe der Datenschutz um ein Haar zugeschlagen, sagt der Professor. Die Polizei hatte den Fahrtenschreiber gerade noch rechtzeitig gesichert. Für den Tag vor dem Tötungsdelikt seien die Daten nicht mehr vorhanden gewesen.           

Der Prozess wird in der kommenden Woche fortgesetzt. 

Mehr zum Thema

MDR (Daniel George, Bernd-Volker Brahms)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 27. Oktober 2023 | 17:00 Uhr

0 Kommentare

Mehr aus Altmark und Elb-Havel-Winkel

Mehr aus Sachsen-Anhalt

Eine Collage aus einem Löschflugzeug am Brocken und dem Gradierwerk in Bad Dürrenberg 2 min
Bildrechte: MDR/dpa/imago
2 min 02.05.2024 | 18:00 Uhr

Erster Waldbrand, Ameos-Kliniken und ein Gradierwerk mit ungewisser Zukunft: die drei wichtigsten Themen vom 2. Mai aus Sachsen-Anhalt kurz und knapp. Präsentiert von MDR-Redakteur Daniel Tautz.

MDR S-ANHALT Do 02.05.2024 18:00Uhr 01:53 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/video-nachrichten-aktuell-zweiter-mai100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video