Bauernverband alarmiert Landwirte beklagen Unterrichtsausfall – und geben Nachhilfe im Stall
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von Annette Schneider-Solis, MDR SACHSEN-ANHALT
22. November 2023, 19:00 Uhr
Besonders im ländlichen Raum nimmt der Unterrichtsausfall horrende Ausmaße an. Der Landesbauernverband schlägt Alarm: Immer weniger Schulabgänger bringen die Voraussetzungen für eine Berufsausbildung als Landwirt mit. Manch ein Betrieb muss seinen Auszubildenden erst einmal Nachhilfe geben.
- Landwirte im ländlichen Raum beklagen viel Unterrichtsausfall bei ihren Auszubildenden.
- Oftmals wird auf den Höfen selber Nachhilfe gegeben.
- Der Landesbauernverband sieht ein Versagen der Politik.
Hagen Scholz schreitet über den Hof der Agrargenossenschaft Altmärkische Höhe (Landkreis Stendal). Die drei neuen Auszubildenden folgen ihm. In einer Halle stoppt er. Die Kälber in den Laufställen kommen neugierig näher. "Wie viel Milch trinkt ein Kalb pro Tag?" Zögerlich antwortet einer der Lehrlinge: "Sechs Liter". Hagen Scholz nickt, fragt weiter: "Wir haben hier fünf Kälber, wieviel Milch muss angesetzt werden?"
Diese Aufgaben fallen den drei jungen Männern noch leicht. Schnell rechnen sie im Kopf, murmeln die richtige Antwort. Schwieriger wird es, wenn es um Prozente geht. Damit haben alle drei ihre Schwierigkeiten. Es fehlt ihnen Wissen, das sie aus der Schule nicht mitgebracht haben.
Lehrermangel führt zu Unterrichtsausfall
"Bei uns ist ab der achten so viel Unterricht ausgefallen, dass wir noch maximal zwei oder drei Tage in die Schule gegangen sind pro Woche", erzählt Friedrich Wokatz. "An den Tagen hatten wir dann auch nur drei bis vier Stunden. Sie hatten einfach nicht genug Lehrer, um Unterricht für alle anzubieten." Friedrich entschied sich, die Schule nach der neunten Klasse zu verlassen. "Lieber ein gutes Zeugnis in der neunten Klasse als ein schlechtes in der zehnten", begründet er seine Entscheidung. Bei Niclas Schneider und Justin Mankowski sah es nicht viel besser aus.
"Wir hatten in der Förderschule zwar alle Fächer, aber es wurde viel weniger gelehrt als in der Gesamtschule", erzählt Niclas. Und auch Justin musste erst ein berufsvorbereitendes Jahr in Salzwedel absolvieren, um überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. "Ich habe dann dort meinen Hauptschulabschluss nachgeholt" berichtet er. Erst danach habe er eine Lehrstelle bekommen.
Dabei haben die drei jungen Männer alle richtig Lust auf den Beruf des Landwirts. "Die Technik, die Tiere, die Arbeit auf dem Acker", schwärmen Friedrich, Justin und Niclas. Friedrich kurvt mit dem Vorderlader über den Hof, mit Schwung wirft er Stroh in einen Laufstall, die anderen beiden verteilen es mit der Forke. Das sieht schon richtig flüssig aus, und man sieht, dass es den dreien Spaß macht.
Nachhilfe im Betrieb
Doch die großen Herausforderungen warten noch. Wenn man ausrechnen muss, wie viel Dünger auf den Acker gehört. Oder wie viel Herbizide. Oder wie das Verhältnis zwischen Milchpulver und Wasser ist. Prozentrechnung bringen die drei neuen Auszubildenden alle nicht mit aus der Schule. Defizite, die sie nun gemeinsam mit ihrem Lehrbetrieb aufarbeiten müssen. "Wir setzen uns auch mal hin und rechnen", berichtet Hagen Scholz.
"Manchmal sprechen wir auch zwischendurch bei der Arbeit, wenn uns Lücken auffallen", so Scholz. Er, der erst vor einem Jahr nach Berufsausbildung mit Fachhochschulreife im Betrieb und einem Studium in Bernburg in den Betrieb zurückkehrte, gibt sein Wissen gern weiter. Vor ein paar Jahren hätten Friedrich, Niclas und Justin womöglich richtig schlechte Karten gehabt mit ihren Lücken.
"Wir hätten natürlich gern Azubis, die alles mitbringen, was wir brauchen. Aber die sind selten geworden", beklagt Betriebsleiter Frank Wiese. Landwirt ist ein hochtechnisierter Beruf: moderne Geräte, die bedient werden müssen, Dokumentationen, Roboter, Tierwohl, Qualitätskontrolle. All das braucht Wissen. Mehr Wissen, als viele aus der Schule mitbringen. Schuld ist der Unterrichtsausfall, der vor allem im ländlichen Bereich gravierend ist.
Bauernverband: "Politik versagt"
Ein Problem, das Frank Wiese seit Jahren beobachtet. Es reicht zurück bis zur Jahrtausendwende, als der Landeshaushalt auch auf Kosten der Bildung gesundgespart werden sollte. Dringend benötigte Lehrerinnen und Lehrer wurden nicht ausgebildet. Und die, die studieren durften, wurden in Sachsen-Anhalt nicht eingestellt. Jetzt gehen reihenweise Pädagogen in den Ruhestand und eine ganze Generation fehlt.
Frank Wiese, der im Landesbauernverband für Bildung zuständig ist, weiß, dass er mit seinem Problem nicht allein ist. "Wir müssen als Landwirte für jeden Handschlag Sachkundenachweise vorlegen. Im Gegenzug erwarte ich von der Schule, dass wir ausreichend Lehrer, aber auch Lehrer mit einer entsprechenden Qualifikation haben. Ohne jemanden zu diskreditieren, der als Quereinsteiger dieses Staatsversagen ausgleicht."
Leidenschaft für die Landwirtschaft
Bei Justin, Niclas und Friedrich hat Frank Wiese das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben – auch wenn die drei jungen Männer formal nicht die Voraussetzungen erfüllen, die der Betrieb gern hätte. Sie haben die Chance, ihre Wissenslücken zu schließen und bringen etwas mit, was ganz wichtig ist: Sie brennen für den Beruf. Das wiederum ist vielleicht wichtiger als ein gutes Zeugnis.
MDR (Annette Schneider-Solis, Mario Köhne)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 21. November 2023 | 19:00 Uhr
Altlehrer am 22.11.2023
Die dargestellten Fälle sind doch von LSA selbst verschuldet. Alle drei Schüler hätten in einer schülergerechten Hauptschule beste Bildungs- und Abschlusschancen. Mit der Vermittlung von praxisorientierten Basiskompetenzen im Fach Mathematik leistet die Hauptschule die beste Berufsvorbereitung.
Anita L. am 22.11.2023
Auch eine Hauptschule bedarf Lehrkräfte, um den Unterrichtsstoff zu vermitteln.