FAS Weißwasser
Jim und Joel beim Experimentieren. In der Freien Alternativschule in Weißwasser sollen die Kinder freiwillig lernen und ganz ohne Druck. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Elterninitiative Spielend lernen in der Freien Alternativschule in Weißwasser

13. Januar 2023, 18:00 Uhr

Sachsen hat mehr als 200 allgemeinbildende Schulen in freier Trägerschaft. Besonders viele alternative Konzepte werden in Dresden und Leipzig angeboten. Auf dem Land gibt es die Qual der Wahl nicht. Weil Eltern in der Oberlausitz mit der Schullandschaft unzufrieden waren, haben sie die Sache selbst in die Hand genommen. So ist eine kleine freie Schule mit gerade einmal 21 Kindern in Weißwasser entstanden und die verfolgt ein ganz eigenes Konzept.

Zwei Jungen tauchen konzentriert Pipetten in ein mit Flüssigkeiten gefülltes Glas. "Unten ist gefärbtes Wasser, oben ist Öl", erklärt Jim. "Man kann jetzt Wasser so darauf machen und dann gibt es kleine Kügelchen", fährt der Zehnjährige fort und drückt kleine Tropfen aus seiner Pipette. Jim ist gerade mit seinem Klassenkameraden Joel im Experimenterraum der Freien Alternativschule von Weißwasser zugange. Die FAS ist eine einzügige Mini-Grundschule. In einem langen, weißen Flachbau lernen derzeit exakt 21 Mädchen und Jungen.

Umgang auf Augenhöhe

Nicht nur in der Schülerzahl unterscheidet sich die Grundschule wesentlich von staatlichen Einrichtungen. Es gibt weder Stundenplan, noch Unterrichtsfächer und auch keine Noten. Stattdessen haben die Kinder viele Freiheiten und Eigenverantwortung und wuseln durch die verschiedenen Themenzimmer. Es gibt unter anderem einen Kreativraum, ein Nähkabinett, einen Toberaum, sogar die Küche ist nicht tabu. "Die Kinder sind keiner Klassenstufe zugeordnet, sondern sie sortieren sich bei den Aktivitäten nach Interesse und Könnensstand", erklärt die FAS-Leiterin und Grundschullehrerin Friederike Böttcher.

Dass die Jungen und Mädchen im Haus gleichwertig wie Erwachsene behandelt würden, sei ein wichtiger Teil des Konzepts, fügt die Sozialpädagogin Ursula Eichendorff hinzu. Sie teilt sich die Schulleitung mit Böttcher. Die Kinder der beiden Frauen gehen selbst auf die FAS. Das ist kein Zufall. Die Eltern haben die Schule bewusst auf ihre Ansprüche ans Bildungssystem zugeschnitten.

FAS Weißwasser
Die Entwicklung der Kinder zu dokumentieren, ist eine wichtige Aufgaben im Schulalltag von Ursula Eichendorff. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Elterninitiative gründet eine Schule

"Ein Konzept, wie wir es machen, ist im ländlichen Raum nicht vorhanden gewesen", denkt Eichendorff zurück. Die Weißwasser am nächsten liegenden Waldorfschulen beispielsweise befinden sich in Cottbus und Görlitz. "Da haben wir uns gesagt, dann müssen wir halt selber schauen, dass wir eine Schule auf die Beine stellen". Was schnell gesagt ist, habe viel Vorlauf und Mühe gebraucht, wie die Pädagogin beschreibt.

Das Konzept ist im ländlichen Raum nicht vorhanden gewesen. Dann müssen wir halt selber schauen, dass wir eine Schule auf die Beine stellen.

Ursula Eichendorff Sozialpädagogin und Schulleiterin an der FAS Weißwasser

Vor der ersten Einschulung im Jahr 2019 hätten sie ganze drei Jahre geplant, in die Gründung investiert, hospitiert, am Konzept geschrieben. Und dann noch das ganze Rechtliche, die Lehrersuche, die Suche nach einem Schulhaus, zählt Eichendorff auf. Bereut habe sie den ganzen Aufwand auf keinen Fall, betont sie. Aber man sei an der Erfahrung gewachsen. "Ja, total", bestätigt die Schulleiterin und lacht.

Gerade eben noch hat die 41-Jährige mit einem Jungen auf dem Fußboden vor kleinen Holzwürfeln gekniet und sich mit Mengenlehre beschäftigt. In einem Raum, umgeben von Regalen mit Büchern, Gesellschaftsspielen und Lernmaterial, mit bunten Postern an den Wänden. Gerade die Vermittlung mathematischer Inhalte funktioniere gut über Gesellschaftsspiele, finden die Pädagoginnen.

FAS Weißwasser
Die zehnjährige Lucy hat sich einfach auf den Tisch gesetzt und übt Anlaute in ihrem Heft. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Kein Leistungsdruck und viel Zeit zum Spielen

Im selben Raum haben ein paar Mädchen Pferde auf einem Tisch verteilt und spielen damit. Am Fenster hockt eine Schülerin auf einem Tisch. Vor ihr liegt ein Deutsch-Arbeitsheft, in das sie Silben einschreibt. Das ist das gelebte Schulkonzept: Alles soll ohne Leistungsdruck und auf freiwilliger Basis ablaufen. Die Erwachsenen fungieren dabei als Lernbegleiter und machen den Kindern Lernangebote, die sie annehmen oder je nach Tagesform eben auch nicht.

Noten können die Qualität von etwas nicht widerspiegeln, sie sagen für mich überhaupt nichts aus.

Friederike Böttcher Leiterin der FAS Weißwasser und Grundschullehrerin

Dass Lernen auf diese freiwillige Art funktioniert, ist sich Böttcher sicher. "Wir orientieren uns genauso am sächsischen Lehrplan. Nur der Weg ist ein anderer", sagt die 37-Jährige. Statt Zensuren zu verteilen, setze man auf bestärkende Worte. "Noten können die Qualität von etwas nicht widerspiegeln, sie sagen für mich überhaupt nichts aus. Das kann ich durch Worte viel besser machen", so Böttcher.

Stattdessen wird die Entwicklung der Kinder stetig dokumentiert. Die Eltern wiederum erhalten in Gesprächen Rückmeldungen über den Lernstand. Anstelle eines Zeugnisses gibt es am Schuljahresende einen Jahresbrief.

FAS Weißwasser
Friederike Böttcher hält wenig von Schulnoten. Statt Zensuren zu verteilen, setzt sie auf bestärkende Worte. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Die Kinder mögen es, dass sie sich frei bewegen und auch jederzeit spielen können. Der zehnjährige Jim ist froh, "dass man nicht so wie an anderen Schulen am Tisch sitzen und Buchstaben schreiben muss." Dem stimmt sein Kumpel Joel zu. "Es macht mir Spaß, dass ich mehr spielen kann." Auch finde er toll, dass es nicht so viele Kinder in der Schule gibt. Joel ist eines der Kinder, deren Eltern einen weiten Schulweg für dieses Konzept in Kauf nehmen. Der Neunjährige fährt jeden Tag mit dem Zug aus dem brandenburgischen Ort Schwarze Pumpe hierher.

Es macht mir Spaß, dass ich mehr spielen kann.

Joel 9 Jahre alter Schüler

Abstimmen im Morgenkreis

Struktur in den Schultag bringt der Morgenkreis um 9 Uhr. Auf einer grünen Tafel werden dann gemeinsam die Regeln besprochen und der Tag geplant. Das erfolgt demokratisch, wie Böttcher erklärt. Jeder könne Anträge einbringen, über die dann abgestimmt werde. Da man selten eine Regel finde, die alle auf Anhieb toll finden, habe man eine zweiwöchige Testphase für Neuerungen eingeführt. Auf die Weise seien etwa getrennte Spielzeiten für Jungs und Mädchen im Toberaum ausgehandelt worden, nachdem es vorher Streit gab. Die Uhrzeiten stehen jetzt am Zimmer, genauso wie die Namen der Schüler, die die Verantwortung für den Raum tragen.

FAS Weißwasser
Adrian Rinnert vermisst im Rahmen eines Elterneinsatzes mit Jim den Schulflur. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Über Hospitationen sei Eichendorff widergespiegelt worden, dass die Kinder der FAS gut miteinander arbeiten und über ein starkes Selbstvertrauen verfügen. "Ich glaube, das sind grundlegende Fähigkeiten, die wir gesellschaftlich brauchen und worauf dann alles andere aufbaut", sagt die Schulleiterin. Wichtig sei eine Grundsicherheit. Sie bemerke in anderen Umgebungen oft ein negativ beeinflusstes kindliches Selbstbild. Dass Kinder Angst haben, Fehler zu machen. So sei beispielsweise bei einigen Schülern, die von anderen Schulen gewechselt sind, eine starke Mathe-Angst zu beobachten.

Lehrkräfte für Oberschule gesucht

Die Eltern, die ihr Kind in die Freie Alternativschule schicken, tun es aus Überzeugung. Und sie werden über ehrenamtliche Tätigkeiten in den Schulalltag mit eingebunden. Gerade vermisst der Mann von Friederike Böttcher den Werkenraum, um neue Dämmplatten zu verlegen. Ein paar Jungs helfen ihm und rechnen die Maße zusammen. Denn die FAS soll im neuen Schuljahr um die 5. Klasse wachsen.

FAS Weißwasser - Schulgebäude.
In einem langgezogenen Gebäude in Weißwasser hat die Freie Alternativschule ihr Domizil. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Die behördliche Genehmigung für die sogenannte Oberschule Plus bis zur 10. Klasse ist vom Schulamt bereits erteilt. Auch die zusätzlichen Räume wurden vorgerichtet. Allerdings braucht die nun wachsende Gemeinschaftsschule noch Lehrkräfte, um den Fachunterricht abzudecken. Keine leichte Situation in Sachsen, wo man Lehrer mittlerweile wie Gold suchen könne, wie es Eichendorff ausdrückt.

Zahlen und Fakten zur Freien Alternativschule in Weißwasser

  • Zahl der Schüler insgesamt: 21
  • Diese Klassenstufen werden unterrichtet: 1 bis 4, altersgemischt
  • Schulgeld: durchschnittlich 140 Euro im Monat
  • Pädagogisches Profil der Schule: offener Unterricht, Strategie der "Bildung für Nachhaltige Entwicklung", Grundsätze von Maria Montessori
  • Schule in freier Trägerschaft
  • Besonderheiten: demokratische Schulkultur, selbstgesteuertes Lernen ohne Fächer und Noten
  • Mehr Infos zur Freien Alternativschule Weißwasser auf deren Homepage.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Januar 2023 | 20:00 Uhr

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