Bildung Waldorfschule: Entspanntes Lernen oder Esoterik-Schule?

10. Januar 2023, 17:54 Uhr

Waldorfschulen erfahren in Sachsen stetig Zulauf. Daran ändern offenbar auch weit verbreitete Vorurteile und Kritik nichts. Doch wie verlassen Jugendliche die Waldorfschule? Sind sie wirklich für das Leben gerüstet? Oder stehen sie sogar besser da, weil sie besser gelernt haben, sich selbst und ihren Sinnen zu vertrauen? MDR SACHSEN hat mit der ehemaligen Schülerin Hannah Bothur gesprochen, die inzwischen erwachsen ist.

Frau Bothur, 13 Jahre Waldorfschule – wie ist Ihr Fazit?

Für meine persönliche Entwicklung war es eine unterstützende und kompetenzfördernde Schulerfahrung, aus der ich nachhaltig Kreativität schöpfen kann. Ich hatte selten das Gefühl, eine Einzelkämpferin sein zu müssen. Unterstützung und Rückhalt waren sehr präsent. Doch wie in anderen Schulen auch, gibt es Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen kann.

Von außen erlebe ich vor allem positives und neugieriges Feedback. Viele finden es toll, selten kommen kritische Kommentare. Oft sind es nur witzige Anmerkungen, ob ich jetzt auch meinen Namen tanzen könne.

Und? Tanzen Sie Ihren Namen?

Ja, das können wir!

Worin besteht der Sinn?

Tatsächlich haben wir vielleicht einmal unseren Namen getanzt. In der Eurythmie werden unter anderem Buchstaben mit Bewegung verbunden. Es geht darum, Inhalte in körperliche Bewegung zu übersetzen. Gedichte beispielsweise in eine Bewegung zu bringen.

Was hat Ihnen das gebracht?

Ich würde es nicht konkret dem Konzept der Eurythmie zuschreiben. Andere Mittel haben vielleicht einen ähnlichen Effekt. Doch regelmäßige Stunden künstlerischer Bewegung in einem sozialen Klassenverbund und einem gemeinsamen "Wir" bleiben nicht ohne Wirkung. Es geht um Körpergefühl, um Raumgefühl, um Rhythmus und die Interpretation von Gedichten, Liedern und Klavierstücken. Es ist eine willkommene Abwechslung im Schulalltag. Auswirkungen auf mein Leben kann ich nicht direkt benennen, doch unterschwellig hat dieser Ansatz etwas bewirkt.

Inwieweit?

Er ist Teil eines erfahrungsbezogenen Gesamtpakets mit starkem künstlerischen Ansatz, den ich der Waldorfschule Dresden zuschreiben würde. Hier liegt ein großer Fokus auf sinnlichen und praktischen Erfahrungen, der künstlerischen und musikalischen Ausbildung und auch auf Handwerk. Dieses Paket hat bei mir das Künstlerische sehr befördert, meine Interessen bestärkt. Es hat mir nachhaltig viel mitgegeben. Ich fühle mich breit aufgestellt und in Besitz vieler Grundfertigkeiten.

Sie erwähnten auch den sozialen Moment, das Gemeinsame…

Ja, den gab es auch. Wir haben das künstlerische Zusammenspiel im Klassenverbund erlebt. Immerhin sind wir ja 13 Jahre zusammen in die gleiche Klasse gegangen.

Sie waren 13 Jahre in der gleichen Klasse mit den gleichen Mitschülern?

Ja. In meiner Waldorfschule gingen alle Schüler und Schülerinnen in einer Klasse unverändert bis zum Abitur. Ich war genau genommen nur zwölf Jahre dabei, weil ich das erste Jahr eine staatliche Grundschule besuchte. Dort wurden meine Interessen ausgebremst, bald schon hatte ich kaum mehr Lust auf irgendetwas - so haben es mir meine Eltern zumindest erzählt.

An was können Sie sich erinnern?

Ich persönlich erinnere mich vor allem an Arbeitsblätter, die abgearbeitet werden mussten. Das hatte alles etwas sehr Reduziertes. Es gab nichts Warmes, insofern war ich damals nicht traurig, als ich nach der ersten Klasse die Schule wechselte. Die gemeinsamen 13 Jahre sind etwas Besonderes, sie können aber auch Probleme mit sich bringen.

Probleme, was meinen Sie damit?

In den staatlichen Schulen wechselt man mehrmals, die Klassenverbünde mischen sich wieder neu. Das kann ein neuer Anfang und mit neuen Chancen verbunden sein. Bei uns war man fast gezwungen, die Probleme zu lösen. Das bringt natürlich Konfliktkompetenzen. Andererseits birgt der feste Klassenverbund auch das Risiko, dass Schülerinnen und Schüler auf ihre Rollen festgeschrieben werden und diese so schnell nicht wieder ablegen. Der Klassenclown bliebt also viele Jahre der Klassenclown, die Streber immer ehrgeizig und die Querschläger immer unangepasst. Ich kann mir vorstellen, dass man in einem neuen Klassenverbund, wie an staatlichen Schulen, sich noch einmal ganz neu entdecken und mit anderen Qualitäten entwickeln kann.

Wie war das bei Ihnen? Wurde Ihnen der Klassenverbund zu eng?

Ich war schon immer gut in Netzwerke eingebunden. Schon vor Schulbeginn tanzte ich in einer Ausdruckstanzgruppe der Jugendkunstschule. Daher war ich nicht allein auf die Strukturen der Waldorfschule angewiesen. Doch ich kann mir vorstellen, dass der Waldorfschulen-Kontext zu eng wird. Das wäre letztlich so, als hätte man einzig und allein den Arbeitskontext im Leben.

Wurde ein Engagement außerhalb der Waldorfschule gefördert?

Daran kann ich mich nicht erinnern. Gegen Ende der Schulzeit legten die älteren Schülerinnen und Schüler eigene Projekte auf, die außerhalb der Schule mit verankert waren. Doch an mehr Kooperationen mit dem Außen kann ich mich nicht erinnern.

Rudolf Steiner, Begründer der Waldorfpädagogik, hat mit der von ihm entwickelten "Geisteslehre" auch die damals populäre Rassenlehre sowie Antisemitismus verknüpft. Wie viel Rudolf Steiner hat bei Ihnen an der Schule stattgefunden?

Sehr wenig. Ich persönlich wurde mit seiner Weltanschauung nur sehr wenig bis gar nicht konfrontiert. Falls er doch einmal auftauchte, dann im Zusammenhang mit spirituellen, religiösen Elementen. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass dies in anderen Klassen anders war. Das hängt sehr viel mit den Lehrern persönlich zusammen. Fakt ist: Es gab keine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Weltbild Steiners. Es gab aber auch kein "Brainwashing", wie es sich manche vorstellen.

Die Verbindungen Steiners zur Rassenlehre spielten also keine Rolle?

Ich habe es nicht präsent erlebt. Im Gegenteil, alle Schülerinnen und Schüler, die ich kannte und bis heute kenne, sind kritisch gegenüber rechts-esoterischem Gedankengut eingestellt. Ich glaube, hier gibt es sehr viel Unterschiedlichkeit und auch hier hängt wieder viel von Lehrerinnen und Lehrern ab. Und ja, während der Corona-Zeit hat es an der Waldorfschule Dresden schon Hinwendungen zu verschwörerischen, esoterischen Erzählungen gegeben.

Apropos Bindung, es gibt noch weitere Kritik an Waldorfschulen: Durch die enge Bindung an Lehrkräfte stehen und fallen die Schüler mit der Sympathie durch die Pädagogen. Stimmt das?

Wir waren nicht nur auf einen Lehrer oder eine Lehrerin fokussiert, obwohl die Bindung in den jüngeren Klassen natürlich stärker ist als später. Gerade in den älteren Jahrgängen werden die engen Bindungen aufgebrochen. Doch tatsächlich kann es sein, dass die Schüler, die weniger auf Sympathie stoßen, auch hinten herunterfallen. Ich habe es selbst erlebt, dass es nicht die Kapazitäten gab, das aufzufangen. Ich denke, das liegt weniger am System als an den Kapazitäten. Kinder mit Problemen fallen auch an staatlichen Schulen durch das Raster.

Doch individuelle Betreuung braucht mehr Kapazitäten.

Das stimmt. Durch die offenen Konzepte ohne Noten besonders in den jüngeren Klassen bedarf es eines genauen Blicks auf jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin, um Stärken und Schwächen zu erkennen. Dafür braucht es Zeit und Kapazitäten. Die individuelle Betreuung hat auch an der Waldorfschule Grenzen. Wie andere Schulen brauchen sie Unterstützung von Sozialarbeitern und externen Experten.

Also ist die Waldorfschule kein Paradies für entspannte Kuschel-Pädagogik?

Wir hatten große Klassen mit 30 Leuten, auch hier sind Kapazitäten begrenzt. Wir sonnten uns nicht in kleinen Klassen mit unendlich viel Zeit. Letztlich ist es für jeden sehr individuell. Ich persönlich hatte in einer Krise sehr viel Unterstützung erfahren, so viel, dass es mir schon fast zu viel wurde.

Manche sagen auch, dass Waldorf-Absolventen mit gutem Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit ausgestattet sind. Was meinen Sie?

Ich persönlich empfinde eine innere Ruhe, das habe ich schon vielfach zurückgespiegelt bekommen. Aber Selbstwertempfinden steht und fällt mit vielen Aspekten. Durch das Erleben und das Tun, die vielen praktischen Momente, die wir in unserer Schulzeit erlebt haben, empfinde ich eine Grundsicherheit. Ich habe Vertrauen, "das schaffe ich schon", fühle mich selbstwirksam. Durch die Erfahrungen abseits der Theorie habe ich eben tatsächlich vieles schon ausprobiert.

Das klingt gut!

Ja. Doch ich kann natürlich nicht sagen, dass alle Waldorfschüler die gleiche Präsenz und die gleichen positiven Eigenschaften haben. Ich kenne viele Menschen mit staatlicher Schulbildung, die selbstbewusst, positiv und motiviert durchs Leben gehen und auch Waldorfschulabgänger, die in Krisen stecken. Dafür sind Menschen viel zu individuell, als dass man sagen könnte, dieser eine Schultyp eignet sich für diesen Menschentyp und bringt diese ganz bestimmten Absolventen.

Welche Wege sind Sie und Ihre Mitschüler nach dem Abitur gegangen?

Einige haben direkt studiert, andere begannen eine Ausbildung. Manche sind ins Ausland und wiederum andere direkt zum Arbeiten gegangen. Ganz verschiedene Weg, wie überall anders auch.

Sie können – müssen aber kein Abitur machen?

Das ist richtig. Wir gehen alle in eine Klasse und am Ende der elften Klasse entscheidet jeder, ob er lieber zwölf Jahre Realschule oder 13 Jahre Abitur machen möchte.

In Sachsen wird das Abitur doch in zwölf Jahren absolviert?

Nicht in der Waldorfschule. Zu Beginn der Abiturzeit stehen wir noch nicht auf dem gleichen Anforderungsniveau wie Schülerinnen und Schüler der gleichen Stufe aus staatlichen Schulklassen. Es zählt auch nur die eigentliche Abiturprüfung, Vornoten fließen nicht ein.

Dadurch sind die Ergebnisse viel stärker von der Leistung an den Prüfungstagen abhängig. Für mich persönlich war diese Prüfungsform eher hinderlich. Das Abitur an staatlichen Schulen, bei denen die Leistungen vor der Prüfung relevant sind, spiegelt ein Ergebnis wider, was dem Wissen der Schülerinnen und Schüler mehr entspricht. Ich habe mich gut vorbereitet gefühlt, trotzdem war es ein enormer Druck in der Prüfungszeit.

Würden Sie Ihre eigenen Kinder auf eine Waldorfschule schicken?

Ich würde auf jeden Fall eine alternative Schule bevorzugen, da ich die mit der persönlichen Erfahrung viel besser begleiten kann. Doch mir ist klar, dass hier auch nicht automatisch Wunderkinder herauskommen. Den Einfluss von Medien und sozialen Problemen beispielsweise gibt es an jeder Schule.

Hannah Bothur besuchte von der zweiten bis zur 13. Klasse die Freie Waldorfschule in der Marienallee Dresden. Nach ihrem Abitur im Jahr 2013 ging die Absolventin für ein Jahr nach Neuseeland. Heute arbeitet sie als Ergotherapeutin. Neuseeland ist ihr großer Traum geblieben.

Zahl der Schüler auf Waldorfschulen in Sachsen

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes besuchten im Schuljahr 2021/22 insgesamt 2.762 Schülerinnen und Schüler in Sachsen neun Waldorfschulen mit 100 Klassen. Im Schuljahr 1992/93 sind es noch 702 Schülerinnen und Schüler an drei Schulen mit 27 Klassen gewesen.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Januar 2023 | 20:00 Uhr

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