Kriegsflüchtlinge Vom Krieg traumatisiert: Hilfe in Görlitz für Kinder aus der Ukraine

10. April 2023, 16:43 Uhr

Ein Mädchen, das sich selbst verletzt. Kinder, die plötzlich stottern. Ein Junge, der nicht mehr spricht. Sie alle bekommen Hilfe in einer Beratungsstelle für traumatisierte ukrainische Flüchtlinge, die ein Görlitzer gemeinsam mit ukrainischen Psychologinnen aufgebaut hat. Bei einem Besuch vor Ort wird klar, wie schwer die psychische Last von Krieg und Flucht gerade für Minderjährige ist. Und wie groß der Bedarf an Hilfsangeboten in ihrer Sprache.

Die Psychologin Viktoriia Sheliia geht durch die Bilder, die vor ihr auf einem Tisch liegen. Gemalt haben sie Kinder und Jugendliche mit Wasserfarben oder Filzstiften in der Görlitzer Beratungsstelle für ukrainische Geflüchtete mit posttraumatischer Belastungsstörung. Die Darstellungen vermitteln eine Vorstellung davon, was in den Seelen vieler Mädchen und Jungen vorgeht, die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflüchtet sind: Häufig zeigen sie Schreie, Trauer, Angst und Zerstörung. Ein Bild sticht besonders hervor: Darauf zu sehen ist eine Gestalt mit weißem Gesicht und schwarzer Kapuze, aus deren Augen Tränen aus Blut laufen. Ihre Kleidung ist blutverschmiert und im Hintergrund ist ein Galgen zu sehen. Gemalt hat es die 12-jährige Julia*.

Julia ist mit ihrer Mutter vor dem Krieg geflohen. In Görlitz begann sie, sich den Arm zu ritzen. Wegen schwerer Depressionen kam sie in die Psychiatrie. Aufgrund der Sprachbarriere fiel es den Ärzten dort aber schwer, ihr zu helfen. Deshalb kontaktierten sie die Beratungsstelle für ukrainische Geflüchtete mit posttraumatischer Belastungsstörung. So erzählt es Viktoriia Sheliia.

Die Beratungsstelle in Görlitz: Die Fakten

Die Beratungsstelle in Görlitz befindet sich zurzeit noch in der Elisabethstraße in Räumlichkeiten, die die Entwicklungsgesellschaft Niederschlesische Oberlausitz mbH (ENO) ihr kostenlos zur Verfügung gestellt hat. In den nächsten Tagen zieht sie um in größere Räumlichkeiten in der Arndstraße, weil sie mehr Platz braucht. 20 ukrainische Frauen arbeiten inzwischen ehrenamtlich für die Beratungsstelle. Da sie in Deutschland keine Zulassung als Psychotherapeutinnen haben, agieren sie als Selbsthilfegruppe. Sie bieten unbürokratisch und kostenlos Beratungen an, um ihre traumatisierten Landsleute zu unterstützen. Der Fokus ihrer Arbeit liegt bisher auf Frauen und Kindern. Es soll aber eine Selbsthilfegruppe für Männer hinzukommen. Die Beratungsstelle finanziert sich aus privaten Spenden. Görlitz für Familie e.V. ist der Trägerverein.

Die Psychologin und Psychotherapeutin, die in Charkiw in einer Privatklinik arbeitete und selbst aus der Ukraine geflohen ist, konnte dem Kind schließlich helfen, sagt sie: Durch gemeinsames Malen und den Austausch in einer Gruppe mit Gleichaltrigen, durch viele Einzelgespräche und durch Beratung der Mutter, die lernen musste, wie sie ihr Kind in dieser Situation am besten unterstützen kann. Heute geht es Julia besser, sagt Sheliia. Sie sei "stabil", komme in der deutschen Schule inzwischen gut zurecht und sei gut in Mathe.

Unbürokratische Hilfe ohne öffentliche Mittel

Viktoriia Sheliia arbeitet ehrenamtlich in der Görlitzer Organisation, so wie alle ihre Kolleginnen: 20 Frauen aus der Ukraine, überwiegend Psychotherapeutinnen, aber auch Sozialpädagoginnen, eine Kindergärtnerin und eine Logopädin. Gegründet hat die Gruppe der Görlitzer Joachim Trauboth gemeinsam mit mehreren geflüchteten Ukrainerinnen "ohne einen Cent öffentliche Mittel", wie er sagt.

Die Hilfe, die die Frauen anderen bieten, ist auch Selbsthilfe. Gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun, statt sich passiv ihrem Schicksal zu ergeben, gibt ihnen Kraft, berichten sie. Sie alle haben ihre eigene Fluchtgeschichte: Viktoriia Sheliia zum Beispiel kam mit zwei kleinen Kindern und ihrer Mutter nach Görlitz.

Ihre Kinder verkrafteten die Flucht, die Trennung vom Vater, der in der Ukraine bleiben musste, und die neue Umgebung nicht gut. "Wenn sie schlafen, weinen sie. Wenn sie träumen, weinen sie. Sie haben Angst vor dem Einschlafen, sie haben Angst vor lauten Geräuschen", erzählt die Mutter. Ihr damals dreijähriger Sohn begann infolge des Stresses zu stottern.

Sprachstörungen durch permanente Anspannung

Die Logopädin Yevheniia Kozlova aus Bachmut, die seit einigen Wochen in der Beratungsstelle arbeitet, berichtet dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Erfahrungen von Krieg und Flucht Sprachstörungen entwickelt haben. Häufig sei das durch die permanente Anspannung bedingt, unter der sie seit Beginn des Krieges stehen. Deshalb macht Kozlova mit ihnen vor allem Atemübungen, um den Körper und insbesondere das Zwerchfell zu entspannen. Denn wenn der Atemmuskel zu verspannt ist und verkrampft, könne das auch zu Sprachproblemen führen, erklärt die Logopädin.

Die Expertinnen ergänzen sich mit ihren unterschiedlichen Ansätzen. Während Kozlovas Ansatz über den Körper geht, setzt die Psychologin Sheliia an der Psyche der Kinder an. Sie berichtet, dass viele von ihnen aufgrund ihrer Erfahrungen Rückschritte in ihrer Sprachentwicklung gemacht hätten oder nur noch wenig sprechen. Neu in der Behandlung sei zum Beispiel ein zehnjähriger Junge, der völlig verstummt sei. Um die Ursachen herauszufinden, teilen die Psychologinnen die Kinder zunächst in Gruppen ein, in denen sie basteln oder malen. Dabei beobachten sie sie und versuchen, die Ursache für die Probleme herauszufinden, um ihnen dann gezielt helfen zu können.

Gründer warnt vor "dramatischen Schicksalen"

Der Görlitzer Rentner Joachim Trauboth hatte die Idee zu der Beratungsstelle und hat sie gemeinsam mit zwei ukrainischen Psychotherapeutinnen aufgebaut. Viele dieser Kinder hätten ihre Verwandten und ihre Häuser verloren, sagt er. Häufig seien sie so traumatisiert, traurig und gehemmt, dass es ihnen extrem schwer falle, in einer deutschen Schule zurechtzukommen und von den Mitschülern anerkannt zu werden. "Das sind Kinder, die kaum zu integrieren sind. Vorausgesetzt, man gibt sich keine Mühe und versucht nicht, sie zu therapieren und ihr Selbstbewusstsein aufzubauen", sagt er. "Wenn wir ihnen eine Chance geben wollen, dann müssen wir ihnen alles zur Verfügung stellen, was wir an Therapie, an Zuwendung und an Nächstenliebe haben. Sonst haben wir dramatische Schicksale vor uns."

*Name von der Redaktion geändert.

MDR (jwi)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 27. Februar 2023 | 19:05 Uhr

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