Löschwasserkatastrophe Einzigartiges Theaterspektakel im Görlitzer Güterbahnhof

12. Februar 2023, 09:30 Uhr

Not macht erfinderisch: Nach der Löschwasserkatastrophe baut das Görlitzer Theater den Güterbahnhof für ein deutschlandweit wohl einzigartiges Theaterspektakel aus. Die Besonderheit: Das Publikum wird zum Bestandteil der Inszenierung. Im Mai soll "Die Herzogin von Malfi" ihre Uraufführung in Görlitz als immersives Theaterstück haben.

Die Görlitzer Theaterleute sind kreativ. Das haben sie in den vergangenen Wochen nach der verheerenden Löschwasserkatastrophe bewiesen, indem sie immer neue Spielorte in Görlitz entdeckten und nutzten. Zwar mussten große Opern- oder Operettenproduktion ausfallen. Die Musik, die Arien, erklangen aber beispielsweise im Görlitzer Kaufhaus und anderen Ersatzspielorten. Das Görlitzer Theater selbst ist bis heute nicht bespielbar. Durch einen Fehler in der Brandmeldeanlage war das Bühnenhaus mit 30.000 Litern Wasser geflutet worden. Der Vorfall sorgte bundesweit für Schlagzeilen.

Familientragödie um eine Familie von Eisenbahnbesitzern

Jetzt wollen die Görlitzer Theatermacher wieder für bundesweites Aufsehen sorgen und zwar mit einem ungewöhnlichen Theaterprojekt. Mit leuchtenden Augen steht der Intendant des Gerhart-Hauptmann-Theaters, Daniel Morgenroth, auf einer ehemaligen Laderampe des Güterbahnhofs. Hinter ihm steht ein Rolltor aus Aluminium. Auf der Fläche vor ihm soll das Spektakel "Die Herzogin von Malfi" beginnen: "Das Publikum kommt dahinten vom Busbahnhof rein, geht hier nach vorne. Da gibt es Essen und Getränke, hier ist eine kleine Bühne und dort werden die 300 Zuschauer auf das Stück eingestimmt", beschreibt Morgenroth die Pläne.

Daniel Morgenroth steht vor dem künftigen Spiegelsaal
Daniel Morgenroth will im Mai zum ersten Mal in Görlitz ein immersives Theaterstück aufführen. Bildrechte: Uwe Walter

Mittendrin statt nur dabei

Erzähler sollen die Besucher mit der Rahmenhandlung und den Personen des Schauspiels von John Webster aus dem 17. Jahrhundert vertraut machen. Nach dem Auftakt startet in einer ehemaligen Lagerhalle vom Güterbahnhof das ungewöhnlichste Projekt in der Geschichte des Görlitzer Theaters, denn das Publikum wird zum Bestandteil der Performance um die Herzogin von Malfi.

Es ist eine Rachetragödie, in der ganz schlimme Sachen passieren und in der sich Zuschauerinnen und Zuschauer völlig frei bewegen können.

In der Lagerhalle gibt es verschiedene Spielorte. "Wir haben drei Paläste erschaffen, es gibt eine Kathedrale, es gibt einen Marktplatz, eine Taverne", zählt Morgenroth auf. "Es gibt Pferdestallungen, es gibt einen Wald mit einem künstlichen See". In der Rachetragödie sollen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer völlig frei bewegen können.

Die Tragödie von der Herzogin gilt als eines der Meisterwerke der englischen Dramatik aus der Shakespeare-Zeit. Allerdings wurde das Stück an den Charakter des ehemaligen Güterbahnhofs angepasst. "Wir haben aus der Herzogfamilie eine Dynastie von Stahlbaronen gemacht, weil das hier ein alter Güterbahnhof ist. Die Stahlbarone sind bei uns Eisenbahnbesitzer um 1900", erklärt der Görlitzer Intendant.

Labyrinth aus verschiedenen Spielorten

Die Lagerhalle und der dazugehörige Bürokomplex werden Spielorte. Fast jeder Raum, sogar die Toilette, werde bespielt und könne vom Publikum begangen werden, erklärt Morgenroth die Pläne. Das Publikum soll das Stück nicht nur sehen und hören, sondern auch riechen, schmecken und fühlen können.

Der Görlitzer Intendant schwärmt weiter: "Mit allen Sinnen ist man wirklich drin. Also man sitzt nicht nur, guckt und hört, sondern man kann auch anfassen."

Der Güterbahnhof soll zu einem Labyrinth werden, in welchem alle Sparten des Gerhart-Hauptmann-Theaters einbezogen werden. Tänzer sollen in den geheimen Räumen des Kardinals für Unterhaltung sorgen. Auf der kleinen Bühne der Taverne werden die Gäste sogar während der Vorstellung bewirtet.

Was ist ein immersives Theater? Beim immersiven Theater wird auf die Trennung von Bühne und Zuschauerraum verzichtet. Zudem ist das Publikum interaktiv an der Inszenierung beteiligt und kann zusammen mit den Akteuren des Theaters agieren. Dabei kann das Publikum die Aufführung auf unterschiedlichen Ebenen sowie an unterschiedlichen Spielorten erleben. Für Vorstellungen wird meist nicht das klassische Theater mit Bühne und Zuschauerraum gewählt, sondern ortsspezifische Räume.

Das Kulissenlager wird komplett verbaut

Für die perfekte Illusion sorgt Bühnenmeister André Winkelmann mit seinem Team. Für das Spektakel werde fast das gesamte Lager geplündert, sagt Winkelmann. Auf den Rückseiten der Kulissen stehen noch die Namen der Produktionen: Fledermaus, Orpheus, Tannhäuser oder Don Pasquale. Seit Wochen kreischen die Sägen, jaulen Akkuschrauber und rattern Bohrhämmer im Güterbahnhof. Nach der Flutkatastrophe im Theater hatte der Bühnenmeister noch feuchte Augen: "Es war gut, dass wir hier was Neues anfangen konnten und das ist sehr spannend."

Also wir haben erst mal die ganze Halle entrümpelt. Und dann haben wir uns inspirieren lassen von unseren alten Bühnenbildern. Dadurch haben sich hier die verschiedensten Räume ergeben.

André Winkelmann Bühnenmeister Gerhart-Hauptmann-Theater

Es ist kalt im Güterbahnhof, nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Trotzdem wird bei der Arbeit gescherzt und gelacht. Für Bühnenarbeiter, die sonst in warmen Werkstätten oder im Theater werkeln, ein ungemütlicher Arbeitsplatz. Der Bühnenmeister lacht: "Wir sind hier zu sechst und alle Kollegen sind mit viel Herzblut dabei. Da ist das mit den Temperaturen und den ganzen Bedingungen gar nicht so schlimm."

"Ein Wahnsinnsprojekt", meint André Winkelmann. Deshalb hoffen er und alle Görlitzer Theatermacher, dass das Haus bei den 14 geplanten Vorstellungen voll wird. Immersives Theater in Görlitz sei ein Experiment, auch für die Besucher, sagt Intendant Daniel Morgenroth.

Diese Art von Theater hat eine englische Theatergruppe erfunden, die das seit 20 Jahren sehr erfolgreich macht. Aber in dieser Größe habe ich das in Deutschland noch nie gesehen.

Daniel Morgenroth Intendant Gerhart-Hauptmann-Theater

"Görlitz ist hier echt Vorreiter. Wir schaffen hier was ganz Einmaliges," schwärmt der Theatermann, bevor er sich verabschiedet. Zuvor hat er aber noch schnell die Größe der Kleinkunstbühne in der Taverne besprochen. Bis zum 13. Mai muss alles fertig sein, denn dann hat die "Herzogin von Malfi" im Görlitzer Güterbahnhof Premiere. 

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Bautzen | 13. Februar 2023 | 13:30 Uhr

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