Uwe Steimle sitzt auf einem Stuhl und hält das Buch "Pollmer" in der Hand.
Uwe Steimle posiert vor Beginn der Lesung der Partei Freie Wähler im Saal des Stadtmuseums mit einer Ausgabe des Buches "Pollmer - Notizbuch eines Philologen" von Victor Klemperer. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

Umstrittene Veranstaltung So ist die Klemperer-Lesung in Dresden verlaufen

10. November 2023, 15:15 Uhr

In Dresden wurde am Jahrestag der Reichspogromnacht gleich zwei Mal aus Victor Klemperers Buch "LTI – Notizbuch eines Philologen" gelesen. Eine Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit der jüdischen Kultusgemeinde in Dresden statt. Eine weitere, umstrittene Lesung hatte die Stadtratsfraktion der Freien Wähler anberaumt, mit dem Kabarettisten Uwe Steimle, der ehemaligen Grünen Antje Hermenau, Arnold Vaatz (CDU) und dem Germanisten Ulrich Fröschle. Zunächst gab es Proteste der Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch. Die Veranstaltung selbst verlief aber ruhig, wie der Journalist Cornelius Pollmer berichet.

MDR KULTUR: In welcher Stimmung ist die Lesung im Stadtmuseum abgelaufen?

Cornelius Pollmer: Wie so oft in Dresden, wenn es vorher viel Aufregung gibt, wird es dann doch eher ruhig. Man kann fast sagen unspektakulär. Es war eine, wenn man mal auf die Form guckt, durchaus angemessene, würdige Veranstaltung. Sie begann mit einer Schweigeminute. Es gab dann eine Einführung zum Werk und Leben Klemperers. Dann die Lesung. Das war alles friedlich, atmosphärisch, durchaus angemessen.

Und trotzdem ist man den Verdacht nicht ganz losgeworden, dass es nicht nur um Klemperer ging und nicht nur um seinen faszinierenden Text, der – das ist ja dann auch wieder das Beruhigende – so einen Abend dann doch dominieren kann. Einfach weil er so gut ist und anderes zum Glück – wenn man ein bisschen in sich geht und zuhört – dahinter zurücktritt.

Das war alles friedlich, atmosphärisch, durchaus angemessen. Und trotzdem ist man den Verdacht nicht ganz losgeworden, dass es nicht nur um Klemperer ging und nicht nur um seinen faszinierenden Text, der – das ist ja dann auch wieder das Beruhigende – so einen Abend dann doch dominieren kann.

Cornelius Pollmer, Feuilletonist der "Süddeutschen Zeitung"

MDR KULTUR: Gab es auch Proteste im Umfeld oder hat sich das sozusagen alles im Vorfeld abgearbeitet?

Cornelius Pollmer: Ich habe keine gesehen. Es war Polizei da, das ist ja dann der übliche Vorgang, aber niemanden, den die Polizei hätte in Augenschein nehmen müssen. Das war alles ruhig und ich habe da niemanden gesehen.

Uwe Steimle, ein Mann steht vor einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon.
Uwe Steimle bei der Lesung aus Victor Klemperers Buch "LTI". Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

MDR KULTUR: Und auch bei den ausgewählten Textstellen haben Sie nichts Spektakuläres oder Besonderes bemerkt?

Cornelius Pollmer: Nein. "Die deutsche Wurzel" war dabei oder "An einem einzigen Arbeitstag", das hat Frau Hermenau gelesen. Und dann gab es noch einen vierten Lesenden, Herrn Fröschle, der hat "Wenn zwei dasselbe tun" gelesenen. Das waren mit Bedacht und interessant ausgewählte Passagen. Das Besondere war – und da beginnt auch das, was für mich ein bisschen unangenehm war – dass die Lesenden im Vorfeld offenbar gebeten worden waren, auch etwas zu einem biografischen Bezug zu Klemperer zu sagen und warum sie sich für diese Textstellen entschieden haben.

Cornelius Pollmer, ein junger Mann läuft auf einem Fußweg und hat die Hände in den Taschen.
Der Journalist Cornelius Pollmer. Bildrechte: MDR JUMP

Und das ist natürlich eine Geschmacksfrage. Das darf man machen. Ich fand das ein bisschen unangemessen am 9. November, dass dann unter anderem, wenn ich das erwähnen darf, Uwe Steimle nochmal auf die Corona-Zeit zurückgegriffen hat und gesagt hat, man sei zweieinhalb Jahre eingesperrt gewesen und die Aufarbeitung dieser Zeit, die einem versprochen worden sei, auf die warte man bis heute. Darüber kann man diskutieren, meinetwegen auch mit Uwe Steimle. Ich fand es im Rahmen einer Victor-Klemperer-Lesung an einem 9.11. in Dresden etwas unangemessen.

Victor Klemperer und sein Buch "LTI" In seinem 1946 erschienenen Buch "LTI. Notizbuch eines Philologen" setzt sich der jüdische Autor Victor Klemperer (1881-1960) mit der Sprache des Nationalsozialismus und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Menschen auseinander. "LTI" steht für "Lingua Tertii Imperii", lat. "Sprache des Dritten Reiches". Klemperer war Literaturwissenschaftler und Romanist und hat viele Jahrzehnte in Dresden gelebt und wissenschaftlich gearbeitet.

MDR KULTUR: Wir können jetzt noch einmal darüber spekulieren, warum denn diese zwei Veranstaltungen stattgefunden haben. Die erste Lesung in der Synagoge Dresden-Neustadt ist im September kommuniziert worden. Dann waren die Stadtratsfraktionen aufgefordert, sich für den 9. November etwas einfallen zu lassen. Und dann kamen die Freien Wähler relativ spät mit der Idee, aus dem "LTI" lesen zu wollen. Ist das einfach nur terminlich unglücklich gelaufen? Oder war das Vorsatz? Denn man könnte ja sagen: Mein Gott, macht was anderes. Und dann macht ihr eine "LTI"-Veranstaltung noch einmal. Aber so habt ihr das "LTI"-Publikum sozusagen gespalten.

Cornelius Pollmer: Wir spekulieren, das sagen Sie richtigerweise. Es ist so, wie Sie sagen, dass die eine Veranstaltung, die ja auch schon erprobt ist durch das Staatsschauspiel, lange Zeit feststand und als solche auch definiert war. Die Freien Wähler versuchen zu argumentieren, dass sie sich schon ganz lange um diesen Raum bemüht hätten. Aber ich glaube, dass das, wie sie es skizziert haben, erstmal wahrscheinlich zutrifft. Und jetzt kann man sagen: Warum nicht zwei Lesungen? Es waren beide übrigens sehr gut besucht, beide Säle voll mit Menschen. Und man hatte auch den Eindruck, wenn man so ein bisschen mit den Leuten geredet hat, dass diese Menschen vielleicht ein bisschen weiter sind als Teile des politischen oder medialen Betriebs und wirklich wegen der Sache hingingen und nicht wegen der Aufmerksamkeit dafür.

Das Staatsschauspiel wollte jetzt, das kann ich verstehen, nicht irgendein Konkurrenz-Gehabe aufmachen, sondern einfach die Lesung für sich stehen lassen. Die Freien Wähler hatten nach meinem Eindruck schon ein Interesse, Öffentlichkeit für sich auch herzustellen in diesem Rahmen. Und dieser Verdacht, dass es sich dabei auch um politische PR handeln könnte, den hat mir jedenfalls gestern niemand so richtig nehmen können.

Uwe Steimle, ein Mann steht vor einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon.
Hinter dem Rednerpult stand ein Werbeaufsteller der Fraktion Freie Wähler Dresden. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

MDR KULTUR: Es ist ja wertvolle Lebenszeit, die mit solchen Aufregungen dann auch vielleicht verschwendet wird. Wer hat da Fehler gemacht? War die Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch zu forsch, indem sie gesagt hat: Den Raum im Stadtmuseum bekommt ihr nicht, Freie Wähler, wenn Uwe Steimle aus dem "LTI" liest, dann bin ich nicht mehr dabei. Und Reclam überlegt: Kann das denn gut gehen, wenn Steimle das "LTI" liest? Und sagt dann: Ja, doch. Und wir berichten natürlich von Schritt zu Schritt und machen die Sache dadurch nicht kleiner, sondern immer größer. Ist das etwas, worüber wir nachdenken sollten?

Cornelius Pollmer: Ich denke schon deswegen darüber nach, weil ich mich gleich nach diesem Gespräch an meinen Schreibtisch sitzen werde, um selber noch einen Text zu schreiben über den gestrigen Abend. Und es ist natürlich mit dem Wissensstand von heute Morgen, wenn man sich die Frage stellt: Wäre es besser gewesen, man hätte diese zweite Veranstaltung einfach durchlaufen lassen und die Leute dort lesen lassen? Dann würde ich natürlich ja sagen.

Ich will auch nicht über jedes Stöckchen springen, das man mir hinhält. Ich glaube aber auch, dass es manchmal um die Frage geht, wie man über so ein Stöckchen springt und nicht, ob man drüber springt.

Cornelius Pollmer, Journalist

Und ich sehe trotzdem, dass es nicht so leicht ist, da immer sofort die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir leben in einer hoch beschleunigten medialen Welt. Wir sind immer in Reaktionen und Reizreaktionen gefangen. Und es geht immer mehr darum, schnell zu reagieren auf Dinge. Und das hat vielleicht die Kulturbürgermeisterin in dem Fall, auch wenn ich ihre Haltung in der Sache grundsätzlich respektieren kann und verstehen kann, getan.

Und dass wir darüber berichten, ist für mich immer auch eine große Frage. Ich will auch nicht über jedes Stöckchen springen, das man mir hinhält. Ich glaube aber auch, dass es manchmal um die Frage geht, wie man über so ein Stöckchen springt und nicht, ob man darüber springt. Und ich glaube auch, dass von vornherein über alles zu schweigen natürlich auch keine Lösung ist. Jetzt ist es hinterher immer leicht, schlau daherzureden. Ich weiß ehrlicherweise nicht, wie ich, wenn ich noch enger vor Ort zuständig gewesen wäre, da im Vorfeld anders reagiert hätte.

Quelle: MDR KULTUR (Gespräch mit Thomas Bille), Redaktionelle Bearbeitung: td, op

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. November 2023 | 08:40 Uhr

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