Migration Integration: Wo die Behörden in Sachsen blockieren

22. September 2023, 05:00 Uhr

In ganz Deutschland werden Fachkräfte in fast allen Branchen gebraucht. Doch in Sachsen wird Migranten der Einstieg durch eine restriktive Auslegung des Asylgesetzes besonders schwer gemacht – auch für Arbeitskräfte in der Pflege.

Das ist die Geschichte von Baydaa Taher-Ali. Sie ist mit ihrer Familie im Jahr 2015 aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. Inzwischen absolviert die junge Frau eine Ausbildung zur Pflegefachkraft – einem Beruf, in dem neue Kräfte dringend gebraucht werden. Doch der Berufseinstieg wurde der 29-Jährigen durch die Ausländerbehörde in Sachsen erschwert. So wie ihr geht es etlichen Migranten. Das zeigen die Recherchen von MDR Investigativ.

Taher-Ali hatte nach ihrer Ankunft in Deutschland einen Asylantragt gestellt. Mit ihrer Familie wurde sie dem Erzgebirgskreis zugewiesen und in einem Haus in Marienberg untergebracht. Knapp sechs Jahre wohnte sie dort mit ihrer Mutter, drei Brüdern und einer Schwester. 2020 hatte sie einen Job als Pflegehilfskraft im 30 Kilometer entfernten Chemnitz angenommen. Das Monatsticket kostete 141 Euro.  

Der einzige Bus nach Chemnitz fährt einmal pro Stunde – am Wochenende nur alle zwei Stunden. Dann startet die früheste Verbindung um neun Uhr. Der Frühdienst beginnt allerdings bereits um sechs Uhr. Die Lösung für Taher-Ali: Sie wechselte mit Kollegen Schichten und übernahm den Spätdienst, wenn es ging. "Oder mit Taxi fahren", sagt sie. Das kostet über 60 Euro. Hinzu kam, dass der Bus im Winter oft Verspätung hatte und die Fahrt ohnehin jeweils mehr als eine Stunde dauerte.

Antrag auf Umzug zum Arbeitsort: Abgelehnt

Weil ihre Arbeit darunter leidet, wollte Taher-Ali nach Chemnitz umziehen. Damals befindet sie sich im laufenden Asylverfahren und muss deshalb einen Antrag auf sogenannte Umverteilung stellen. In Sachsen werden Asylbewerber in einer Aufnahmeeinrichtung registriert und anschließend einer bestimmten Kommune und Wohnung zugewiesen. Nur mit einem genehmigten Antrag auf Umverteilung, darf man in eine andere Kommune umziehen.

Der Antrag der Irakerin wird erst von der Ausländerbehörde und dann von der übergeordneten Landesdirektion abgelehnt. Weil sie nicht zu engsten Verwandten ziehen möchte, bräuchte es laut Bescheid "sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht." Doch die lägen nicht vor. Im Schreiben heißt es: "Die Aufnahme einer genehmigten Erwerbstätigkeit […] stellt für sich allein keinen rechtlichen Grund für eine landesinterne Umverteilung dar."

Die entscheidende Passage im Asylgesetz: Humanitäre Gründe

"Ich war sehr traurig. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine Ablehnung bekomme", sagt Taher-Ali. Als sie kurze Zeit später – im Jahr 2021 – ihre Ausbildung beginnt, stellt sie erneut einen Antrag, der wiederum mit denselben Gründen abgelehnt wurde: Es lägen keine humanitären Gründe vor.

Solche "humanitären Gründe" wären für die Landesdirektion etwa Bedrohungslagen, wie häusliche Gewalt. Doch bei diesem Thema scheiden sich die Geister und der Streitpunkt sei immer derselbe, sagt Kristian Garthus-Niegel vom Sächsischen Flüchtlingsrat: "Ist Arbeit und Ausbildung ein humanitärer Grund? Wir kennen unterschiedliche Rechtsprechungen und Rechtskommentare, die genau das besagen. In diesen Fällen müsste das eigentlich auch als humanitärer Grund gelten."

Tendenziell sehen wir die Neigung dazu, bei solchen Kann-Fragen die Tür eher zuzumachen. Leider.

Kristian Garthus-Niegel Flüchtlingsrat Sachsen

Humanitäre Gründe sind im Asylgesetz nicht genau definiert und somit Auslegungssache. Für den Fall Taher-Ali bedeutet das: "Die Landesdirektion hätte das im Ermessen erlauben können", sagt Garthus-Niegel. In seinem Büro zeigt er MDR Investigativ 15 ähnliche Fälle. Immer kam es zu Ablehnungen. Bei diesen Kann-Entscheidungen, sagt er, hätten die Antragsteller in Sachsen eher schlechte Karten. "Tendenziell sehen wir eher die Neigung dazu, bei solchen Kann-Fragen die Tür eher zuzumachen. Leider."

Das Nicht-Ausschöpfen von Ermessensspielräumen gebe es auch in anderen Bundesländern. In Sachsen seien die Ausländerbehörden aber besonders restriktiv, so Garthus-Niegel. Dabei braucht der Freistaat jede Hand. Bis zum Jahr 2030 fehlen etwa 150.000 Erwerbstätige, schätzt das Sächsische Wirtschaftsministerium.

Ausbildung und Arbeit gelten in Sachsen nicht als humanitäre Gründe

"Wir brauchen ausländische Arbeitskräfte, wir müssen ein Wohlfühlklima schaffen. Diese Erkenntnis muss auch bis in die letzte Amtsstube vordringen", sagt der Sächsische Ausländerbeauftragte Geert Mackenroth. Im Büro des CDU-Landtagsabgeordnete werden auch Migranten bei Problemen mit Behörden beraten. Deren Mitarbeiter nimmt Mackenroth in Schutz. Sie seien überlastet. Doch er wünscht sich mehr Weitblick und die Ermessensspielräume sollten gerade für diejenigen genutzt werden, die arbeiten wollen.

Wir brauchen ausländische Arbeitskräfte, wir müssen ein Wohlfühlklima schaffen.

Geert Mackenroth Ausländerbeauftragter in Sachsen

Wie etwa im Fall von acht Migranten, die aufgrund einer aufgenommenen Arbeit umziehen wollen. Einige von ihnen hatten entsprechende Anträge gestellt, die allesamt abgelehnt wurden. Für deren Anliegen ist eine Petition eingereicht worden, welche am Sächsischen Landtag vor einen Ausschuss kommen wird.

MDR Investigativ werden interne Einschätzungen zu den einzelnen Petitionsfällen zugespielt. Das Innenministerium verteidigt die Entscheidungen der Ausländerbehörden. In allen acht Fällen heißt es nahezu identisch: "Der Petition kann nicht abgeholfen werden." Unterzeichnet von Innenminister Armin Schuster (CDU).

Der Ausländerbeauftrage Mackenroth kann nachvollziehen, dass das Sächsische Innenministerium die Entscheidungen der Ausländerbehörden nicht in Frage stellt. Denn Fakt sei: Bei Ermessensfragen gebe es kein falsch oder richtig. "Aber nur eine Entscheidung hilft dem Antragsteller." Deswegen wäre es gut, da entsprechend zu agieren.

Bundesinnenministerium legt Asylgesetz anders aus

Über die unterschiedliche Bewertung hätte MDR Investigativ auch gern mit Innenminister Schuster gesprochen. Doch die Interviewanfrage wird abgelehnt. Schriftlich teilt das Ministerium mit: "Es ist durchaus möglich und nicht ungewöhnlich, dass der Ausländerbeauftragte eine andere Auffassung als das Sächsische Staatsministerium des Inneren in ausländerrechtlichen Einzelfragen vertritt. Die Diskrepanz erklärt sich durch eine unterschiedliche rechtliche Bewertung."

Diese eher restriktive Rechtsauslegung reicht das Ministerium an die nachgeordneten Behörden durch. Das zeigt sich auch in den Ablehnungsbescheiden von Taher-Ali oder anderen Betroffenen. Ausbildung oder Arbeit seien keine humanitären Gründe, die einen Umzug rechtfertigten.

Das Bundesinnenministerium dagegen legt das Asylgesetz anders aus. Schriftlich teilt man MDR Investigativ mit: "Der Gesetzgeber nimmt einen humanitären Grund insbesondere dann an, wenn […] konkret bestehende Ausbildungsmöglichkeiten oder konkrete Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit vorliegen." Dennoch: In Sachsen bleibt vorerst alles, wie es ist, heißt es aus dem Innenministerium in Dresden.

Zu viele Steine auf dem Weg der Integration?

"Was wir seit Jahren sehen, ist, dass man in Sachsen eher auf Ordnungspolitik als auf Integration setzt, vom Innenministerium", kritisiert Garthus-Niegel vom Flüchtlingsrat in Sachsen. "Und damit legt man Leuten, die sich integrieren wollen, Steine in den Weg. Bis viele dann irgendwann nicht mehr den Sinn des Ganzen sehen und dann aufhören zu arbeiten."

Taher-Ali musste für ihren Job einiges in Kauf nehmen. Erst als ihr Asylantrag im letzten Jahr anerkannt wurde, konnte sich die Irakerin ihren Wunsch erfüllen und nach Chemnitz ziehen. Nun muss sie nicht mehr pendeln. "Wenn ich Nachtdienst habe, ich habe keine Probleme mehr", sagt sie. Denn ihre Wohnung sei ganz in der Nähe des Senioren- und Pflegezentrums. Jetzt habe sie das Gefühl in Deutschland angekommen zu sein.

Mehr zum Thema

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 13. September 2023 | 20:15 Uhr

Mehr aus Sachsen