Martin Debes Neues Buch widmet sich der extremen Thüringer Politik

16. März 2024, 18:00 Uhr

In seinem neuen Buch liefert der Journalist Martin Debes einen historischen Abriss der politischen Geschichte Thüringens - und erklärt, warum das Land oft Vorreiter für so manche Entwicklung in ganz Deutschland war. Wir haben uns mit ihm unterhalten.

Herr Debes, Ihr Buch trägt den Titel "Deutschland der Extreme - Wie Thüringen die Demokratie herausfordert". Warum ist Thüringen denn so extrem?

Ich habe bewusst von "Extremen" und nicht "Extremisten" gesprochen. Der Begriff meint zweierlei: Die Politik hier hat seit etwa 100 Jahren extreme Wechsel erfahren. Aber sie ist auch in Teilen extrem. Für den linken Ministerpräsident Bodo Ramelow selbst gilt dies zwar nicht. Aber er vertritt eine Partei, die einst die totalitäre organisierte SED war und linksradikale Elemente enthalten hat und teilweise noch enthält. Und wir haben einen AfD-Landesvorsitzenden namens Björn Höcke, der wohl der extremistischste und wirkmächtigste Politiker der AfD in Deutschland ist - und auch einer der bekanntesten.

Zum Autor Martin Debes wurde 1971 in Jena geboren. Der Journalist und Buchautor studierte in Jena und den USA Politikwissenschaften und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Debes arbeitete als Chefreporter für die "Thüringer Allgemeine" und berichtete aus Thüringen für die "Die Zeit" und den "Spiegel". Zum April 2024 wechselt er zum "Stern".

Sie schreiben auch, dass Thüringen ein Testfall für die bundesrepublikanische Demokratie geworden ist. Wie konnte es so weit kommen?

Seit der Landtagswahl 2019 gibt es eine komplizierte Konstellation im Landtag, die eine längere Vorgeschichte besitzt. Einerseits haben wir eine sehr starke Linke unter Ramelow, die allen Krisen der Bundespartei zum Trotz in Thüringen stark blieb, jedenfalls bis vor Kurzem. Auf der anderen Seite gibt es eine in großen Teilen rechtsextremistische Landespartei der AfD. Diese beiden Parteien besetzen die Mehrheit der Sitze im Parlament. Das ist die Hauptursache dafür, dass wir jetzt eine Minderheitsregierung ohne Partner haben. Anfangs gab es mit dem Stabilitätspakt noch eine Art Tolerierung, auch wenn dies die CDU nicht so nennen wollte. Doch seit der abgesagten Neuwahl im Sommer 2021 gibt es keinerlei Verbindlichkeit mehr. Seitdem dümpelt die Thüringer Politik nur vor sich hin.

Bodo Ramelow und Björn Höcke nach der Abstimmung zum Ministerrpäsidenten im März 2020.
Bodo Ramelow und Björn Höcke nach der Abstimmung zum Ministerrpäsidenten im März 2020 im Landtag. Bildrechte: IMAGO / Steve Bauerschmidt

In anderen Bundesländern wird es sehr wahrscheinlich nicht so weit kommen, weil die Linke dort gar nicht so stark ist.

Das stimmt. In dieser Hinsicht ist Thüringen tatsächlich einmalig. Aber trotzdem ist die Situation ein Testfall, weil es fast überall inzwischen schwerer geworden ist, handlungsfähige Mehrheiten zu bilden. Wenn der bayerische CSU-Ministerpräsident Söder sagt, die Union sollte nicht mehr mit den Grünen regieren, dann hätten CDU und CSU im Bund nach der nächsten Wahl nur noch einen Partner, nämlich die SPD. Das ist nicht sehr demokratisch und schränkt die politische Handlungsfähigkeit aller Beteiligten ein. Die einzige Ausnahme sollte die AfD sein. Sie ist zurecht von jeder Zusammenarbeit ausgeschlossen. Aber alle anderen Parteien müssen miteinander zumindest gesprächs- und bündnisfähig bleiben. Und noch etwas: Thüringen ist auch deshalb ein Testfall, weil es auch eines der ersten Länder mit einer Drei-Parteien-Regierung gewesen ist - mit zum Teil sehr unterschiedlichen Partnern. Und jetzt haben wir in Berlin mit der Ampel erstmals eine echte Drei-Parteien-Koalition, also dieselbe Versuchsanordnung, die fast noch schlechter funktioniert als anfangs in Thüringen.

Ihr Buch ist auch ein Querschnitt durch die politische Geschichte Thüringens. Sie beginnen weit vor dem 20. Jahrhundert in der Zeit der Fürstentümer und der Kleinstaaterei. Warum spielt das heute noch eine Rolle?

Thüringen ist auch deshalb besonders, weil es hier bis 1918 überdurchschnittlich viele Kleinfürstentümer auf engstem Raum gab. Dadurch haben wir einerseits bis heute eine sehr hohe kulturelle Dichte, mit Schlössern, Theatern, Orchestern an Orten, an denen Menschen aus ganz Deutschland, geforscht, gedichtet und komponiert haben. Auf der anderen Seite konnten sich dadurch keine Metropolen bilden. Die einzig größere Stadt ist Erfurt und gehörte bis 1945 formal gar nicht zu Thüringen, sondern zu Preußen. Schaut man hingegen nach Sachsen, wo durch andere Erbfolgeregelungen ein Königreich entstand. Dort konnten sich Metropolen entwickeln, mit Dresden als politischem und Leipzig als wirtschaftlichem Zentrum. Wenn also in diesem Jahr immer von den angeblichen drei Ost-Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Rede ist, dann wird unterschlagen, dass diese Länder trotz ihrer gemeinsamen DDR- und Transformationsgeschichte durchaus unterschiedlich sind, und zwar auch politisch. Immerhin gehören die drei Ministerpräsidenten der CDU, der SPD und der Linken an.

Oft werden heute Parallelen zur Weimarer Republik gezogen. Vor 100 Jahren beteiligten Bürgerliche zum ersten Mal Rechtsextreme an der Regierung.

Die Parallelen sind da, wobei es wichtig ist, keine Analogien zu ziehen. Die heutigen Rahmenbedingungen sind deutlich andere. Aber die gesellschaftlichen Mechanismen und die Motivation der Handelnden lassen sich gut vergleichen. Also: Vor fast genau 100 Jahren, im Februar 1924, wurde der Landtag in Thüringen gewählt. Vorher gab es eine Regierung aus SPD und KPD, ähnlich wie in Sachsen. Nachdem die Reichswehr einmarschiert war, und die Regierung sich auflöste, bildete sich der Ordnungsbund, eine Allianz von sehr konservativen Parteien, zum Teil auch nationalistischen Parteien. Ihre Parole: Links abwählen. Damit hatte der Bund auch Erfolg, doch zur absoluten Mehrheit im Landtag fehlten am Ende zwei Stimmen: Die kamen dann von der sogenannten völkischen Liste, einer Art Tarnorganisation der NSDAP, die seit dem kurz zuvor gescheiterten Münchner Putsch verboten war. Listenchef Arthur Dinter war ein bekennender Antisemit, der ein erfolgreiches Buch über die sogenannte Blutschande geschrieben hatte. Seine Bedingung war, dass alle Juden aus der Verwaltung raus müssten, unter anderem. Auch das Bauhaus wurde damals bekanntlich aus Weimar vertrieben.

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MDR FERNSEHEN Do 14.03.2024 14:13Uhr 02:50 min

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Was ist die Parallele zu heute?

Überlegt man sich, was wäre, wenn die AfD in Thüringen irgendwie mitregieren könnte oder sogar die absolute Mehrheit bekäme, und was dann unter anderem nicht mit dem Bauhaus, sondern mit dem MDR geschähe, dann kann man diese Parallelen durchaus als Warnung begreifen.

In der DDR entstanden später die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Sie schreiben, dass in dieser Zeit bei den Menschen in Teilen eine irreale Vorstellung vom Westen entstanden ist, die noch viele Jahre nach der Wiedervereinigung nachgewirkt hat. Wie meinen Sie das?

Es ist nur ein Teil einer sehr komplexen Prägung, die auch ich erfahren habe, der 18 Jahre in der DDR gelebt hat. Was ich damit meine: Einerseits bekamen wir vom Staat ein Zerrbild vom Westen vermittelt, vom faulenden Kapitalismus, von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit. Diese Propaganda verfing zum Teil. Auf der anderen Seite ist man von der Westwerbung im Fernsehen berieselt worden. Für mich als Kind und Jugendlicher wirkte die BRD wie das Schlaraffenland. Als wir dann 1989 in den Kirchen und auf die Straße waren, glaubten wir an das Versprechen absoluter Freiheit, aber auch von grenzenlosem Konsum. Beides wurde naturgemäß enttäuscht, denn absolute Freiheit gibt es in keiner Gesellschaft, und Reichtum für alle auch nicht.

Wie prägt das heute noch?

Ja. Das hat die Reaktion auf die Corona-Maßnahmen gezeigt. Wir haben einen Rechtsstaat, der oft mühsam und langsam funktioniert, und eine Politik, die mit der Krise überfordert war. Daraus resultierte eine Übergriffigkeit des Staates, die sich wie die Unfreiheit in der DDR anfühlte.

Dies ist oft Teil heutiger Debatten und von Vorwürfen.

Ja. Aber es gibt noch eine andere zentrale Ursache: Der Zeitgeist hat sich geändert. So finden sich Leute, die früher mit ihren Meinungen die Mehrheit darstellten, heute in der Minderheit wieder. Ihnen wird stark widersprochen, ihre Meinung ist nicht mehr dominant, gar unerwünscht. Das übersetzen sie für sich als Einschränkung der Meinungsfreiheit - und wählen dann entsprechend Parteien, die dieses Gefühl ventilieren.

Sie schreiben auch von einem kollektiven ostdeutschen Selbstbewusstsein, das in DDR und danach entstanden sei. Zwischen Autoritätsgläubigkeit und Widerstand, zwischen Stolz und Selbstzweifeln, aber auch zwischen Weltoffenheit und Fremdenfeindlichkeit bewegten sich die Leute. Inwiefern ist das heute geblieben?

Aufgrund der Brüche in der Geschichte sind die Ostdeutschen besonders widersprüchlich. Schon in der DDR entstand das Gefühl der "Zweitklassigkeit", da musste die Westverwandtschaft gar nicht erst zu Besuch kommen. Als Reaktion entwickelte sich Trotz: Jeder formulierte es für sich anders. Die einen sagten, wir sind als Sozialisten auf der Seite des Fortschritts, die anderen waren stolz auf die vielen Weltmeister und Olympiasieger. Wir haben alle versucht, unser Leben ein bisschen größer und gleichwertiger zu machen. Diese trotzig-stolze Identität, zu der unbedingt auch die Erinnerung an die Selbstermächtigung im Herbst 1989 gehört, ist auch ein Erklärungsansatz für die Ergebnisse in Wahlen und Umfragen.

Bild von Zeitungen und historisches Foto eines Mannes mit Bart. Darüber stilisiert die Umrisse Westdeutschlands mit Auge, welches Richtung Ostdeutschland blickt. 11 min
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Bewegend war auch die Phase nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung, die sogenannte Transformation. Es gab sehr viel Hoffnung und dann auch Enttäuschung. Was hat das mit den Menschen gemacht?

Sehr viel. Ich wende mich mit meinem Buch auch vor allem an die Leserinnen und Leser in der alten Bundesrepublik. Denn dort gibt es ja das Bild, dass es 40 Jahre diese seltsame DDR gab und danach eine kurze Transformationszeit, in der ganz viel Geld in den Osten floss. Und jetzt müsse aber auch mal gut sein. Sehr oft fehlt dabei jedes Verständnis für unfassbar große Brüche. Die meisten Menschen mussten ihren Job wechseln und verloren ihn. Sie mussten komplett neu angefangen. Für viele war dies ein schwerer Schlag, für andere aber auch eine großartige Chance. Die Gesellschaft, die ja auf der Vorstellung einer totalitär organisierten Gleichheit beruhte, teilte sich in kürzester Zeit in Verlierer und Gewinner. Wenn also gesagt wird, das sei jetzt alles schon 34 Jahre her und die Ostdeutschen sollen mal nicht so tun, dann antworte ich: Nein! Die Traumata der Transformation wirken nach. Und die Ergebnisse lassen sich in allen ökonomischen, sozialen und demografischen Daten ablesen, bei Vermögen, Einkommen, Altersdurchschnitt. Millionen Menschen wanderten ab - und kamen nie wieder.

Wichtige Positionen in Thüringen und Ostdeutschland wurden damals von Westdeutschen besetzt. Hatte man sich das anders vorgestellt?

Ja, es gab auch eine, wenn auch deutlich kleinere Gegenbewegung aus dem Westen. Dabei kamen Leute mit großem Wissen und viel Erfahrungen, deren Hilfe dringend nötig war. Oft genug aber setzten sich auch Menschen, die im Westen nie Karriere gemacht hätten, auf hohen Posten fest - und holten ihre Freunde nach. Diese Netzwerke existieren bis heute. Ich will niemanden pauschal beurteilen oder gar diffamieren. Aber das Ergebnis dieses Elitenaustauschs ist, dass Ostdeutsche in den ostdeutschen Führungspositionen oft noch in der Minderheit sind.

Interessanterweise sprechen gerade die Spitzenpolitiker, die aus dem Westen kamen, für Thüringen und für die Thüringer.

Ja, wir haben mehrheitlich Landtagsspitzenkandidaten, die aus dem Westen kommen. Es gibt zwei Ausnahmen: Eine ist Mario Voigt, der CDU-Landeschef; die andere ist Madeleine Henfling, die Co-Spitzenkandidatin der Grünen. Was allerdings auch stimmt: Die gebürtigen Thüringer müssen sich selbst an die Nase fassen und fragen, warum sie nicht selbst antraten. Und warum haben es Ramelow und Höcke jeweils für ihre Klientel geschafft, den ostdeutschen Interessenvertreter zu geben? Gerade jene Ostdeutschen, die sich darüber beklagen, dass sie angeblich von den Westdeutschen kolonialisiert wurden, laufen jetzt jemandem wie Höcke hinterher, der von Wende 2.0 faselt und 1989 für sich zu vereinnahmen versucht. Obwohl diese Taktik komplett dreist ist, funktioniert sie offenkundig.

Mario Voigt, CDU-Landeschef, spricht beim Politischen Aschermittwoch des CDU-Landesverbands Thüringen in der Festhalle der Vereinsbrauerei Apolda.
Einer von zwei Spitzenkandidaten aus Ostdeutschland: Mario Voigt Bildrechte: picture alliance/dpa | Martin Schutt

In den vergangenen zehn Jahren überschlugen sich geradezu die politischen Ereignisse in Thüringen. Ein Satz in ihrem Buch ist besonders hängengeblieben: "Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedergründung Thüringens bleibt die Politik zum Teil eine Amateurveranstaltung." Kommen da auch viele Probleme her?

Wir haben nicht nur den Elitenaustausch. Wir haben generell ein Elitenproblem. Das hängt auch mit der Abwanderung und der Geburtenarmut zusammen. Der Fachkräftemangel betrifft auch die Politik. Es gibt wenige gute einheimische Leute mit dem nötigen Selbstbewusstsein. Deshalb haben wir größtenteils eher durchschnittliches politisches Personal, das mit der politischen Dauerkrise sichtlich überfordert ist.

Blicken wir auf dieses Jahr, in dem uns wichtige Wahlen bevorstehen. Bleibt sich Thüringen als Land der Extreme treu?

Alles deutet darauf hin. Wir haben ja jetzt zusätzlich noch zwei neu gegründete Parteien, die um die Stimmen der Wähler in Thüringen buhlen: zum einen das Bündnis Sahra Wagenknecht, das, wenn es sich nicht ganz dumm anstellt, im nächsten Landtag sitzen dürfte - und zum anderen die Werteunion unter Hans-Georg Maaßen. Falls er, was er bisher ausschließt, für den Landtag antritt, könnte er über fünf Prozent kommen. So oder so wird die Werteunion der CDU und AfD Stimmen wegnehmen, während die Wagenknecht-Partei sich vor allem bei Linke, AfD und vielleicht auch der SPD bedienen dürfte. Die Machtkonstellation, die daraus entsteht, wird zwar nicht extremistisch sein. Aber es könnte, wie schon nach der Landtagwahl 2019, großes und ja: extremes Chaos herrschen. 

Informationen zum Buch "Deutschland der Extreme - Wie Thüringen die Demokratie herausfordert" von Martin Debes
erschienen beim Ch. Links Verlag am 14. März 2024
280 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-96289-213-5

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MDR (sar)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 26. März 2024 | 19:00 Uhr

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