Jahrestag Ukrainekrieg Ein Jahr in Thüringen: Ukrainische Familien zwischen Ankommen und Verzweifeln

20. Februar 2023, 18:00 Uhr

Seit der Invasion in die Ukraine hat MDR Thüringen zwei Flüchtlingsfamilien in Weimar begleitet. Vieles klappt schon gut - doch Olexandra, Mutter von zwei Kindern, ist am Ende ihrer Kräfte. Die Integration überfordert sie.

"Danke, dass du für uns kämpfst", "Komm lebend zurück" - in bunter Kinderschrift hat eine Neunjährige diese Grüße auf kleine Zettel gemalt. Sie werden von Weimar aus an die Front geschickt. Zusammen mit Kerzen, die Ehrenamtliche hier in Blechdosen mit zusammengerollter Pappe fertigen und anschließend mit Wachs übergießen.

"Unser Kerzenprojekt soll Menschen helfen, den kalten Winter zu überleben", sagt Olexandra. Seit fast einem Jahr lebt sie jetzt schon in Weimar. Wir haben sie mehrmals im vergangenen Jahr besucht und über ihr Ankommen und ihr neues Leben in Thüringen berichtet. Und nun, fast ein Jahr nach Beginn des Kriegs am 24. Februar 2022, treffen wir sie erneut in Weimar. Olexandra hat vor zwei Monaten das Kerzenprojekt gestartet - abwechselnd treffen sie und die anderen sich mittwochs in Räumen der Caritas oder wie an diesem Nachmittag, in der Other Music Academy (OMA).

Mit den Kerzen teilen wir unsere Liebe, unsere Unterstützung.

Olexandra

Viele der Ehrenamtlichen hier sind Frauen, deren Ehemänner, Söhne oder Väter in der Heimat sind. Nur ein paar ältere Männer sind dabei. Die Kerzen sind eine Möglichkeit, etwas zum Kampf beizutragen, den die Menschen in den besetzten und umkämpften Gebieten gegen die russischen Aggressoren leisten, sagt Olexandra: "Viele sind ohne Zuhause jetzt oder haben keinen Strom, keine Heizung. Mit den Kerzen teilen wir unsere Liebe, unsere Unterstützung."

Olexandra wollte alles richtig machen

So sehr sich Olexandra für ihre Landsleute engagiert, so vertrackt ist derzeit ihre private Situation. Noch vor einem knappen Jahr strahlte sie nach der Ankunft in Weimar Optimismus und Frohmut aus. Jetzt ist Olexandra am Ende. Überfordert wirkt sie, kontrolliert ständig ihr Handy, als wir auf dem Weg zu ihr nach Hause sind. "Ich habe Gewicht verloren, auch mal meinen Deutschkurs verpasst", erzählt sie dann.

Es fühle sich wie Versagen an, sagt sie. Und erzählt, wie sie im vergangenen Herbst eine Chance sah, eigenes Geld zu verdienen und an einer deutschen Universität ein viermonatiges Stipendium für ukrainische Geflüchtete annahm. Wie sie eine eigene Wohnung für sich und ihren Sohn mietete, weil die Wohnung der Weimarer Familie langsam zu eng wurde, in der sie die ersten acht Monate mit wohnen konnten. Nur die Tochter hat dort jetzt noch ein Zimmer.

Mit den Nerven am Ende

Jetzt, kurz vor dem Kriegsjahrestag, wächst ihr alles über den Kopf: Sozialleistungen vom Jobcenter dürfte sie erst in einigen Wochen wieder bekommen - weil sie zuvor eigenes Geld erhalten hat. Außerdem hat sie Streit mit ihrem Vermieter.

Die deutsche Bürokratie, die neue Sprache, die sie noch nicht gut genug beherrscht und die Unsicherheit, wie es für sie, die Kinder und den Ehemann bei Kiew weitergehen wird, dominieren den Alltag. "Jeder Schritt braucht so viel mehr Energie als zu Hause", sagt sie. Immer wieder neue Briefe, immer wieder neue Ratschläge, an wen sie sich mit was wenden soll. In ihrer Wohnung lässt Olexandra an diesem Abend den Kopf hängen.

Deutschland… ich weiß nicht. Vielleicht war ich zu optimistisch.

Olexandra

Ein paar Tage später wird sie sagen: "Deutschland… ich weiß nicht. Vielleicht war ich zu optimistisch. Ich habe versagt und muss jetzt die Konsequenzen ziehen." Es ist Olexandra wichtig zu sagen, dass sie viel Unterstützung von Freunden und auch der Stadt bekommt. Doch ihre Zukunft bleibt ungewiss, auch die Frage, ob sie wirklich in Deutschland bleiben wird. Ende des Monats wird sie zurück in eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete ziehen: ein Zimmer für drei Personen.

Nikita kommt klar

Ortswechsel, eine Dachgeschosswohnung in Weimar: Herman ist gerade von der Schule nach Hause gekommen und drischt zu AC/DC auf sein elektronisches Schlagzeug ein. Am Tag des Kriegsausbruchs ist Herman zusammen mit den beiden älteren Geschwistern und seinem Vater Nikita aus dem Osten der Ukraine, aus Tschernihiw, nach Deutschland aufgebrochen. Die Drumsticks seien noch von daheim, erzählt der Neunjährige, das neue Schlagzeug haben sie dann in Weimar angeschafft.

Während Herman zu seiner Schwester ins Zimmer geht, um gemeinsam Deutsch zu lernen, ist Zeit für ein Gespräch mit seinem Vater, über den wir auch wiederholt berichtet haben.

Was die größten Herausforderungen in den vergangenen 12 Monaten für ihn gewesen sind? "Ich habe am Anfang echt befürchtet, dass wir keine eigene Wohnung bekommen und wie das finanziert werden soll", sagt Nikita. Auch weil er von vielen anderen Ukrainern weiß, die in Weimar immer noch Probleme haben, eine eigene Wohnung zu finden.  

Außerdem sei es schwierig gewesen, einen Schulplatz für die beiden jüngeren Kinder zu finden. "Wir mussten uns halt alle auf ein komplett anderes System einstellen", erzählt er.

Volles Pensum für die Kinder

Der Tag von Nikitas Kindern ist durchgetaktet: Der neue deutsche Schulunterricht, der Fernunterricht für die ukrainische Schule, auf den Nikita immer noch besteht. Hinzu kommt der wöchentliche Musikunterricht und Sportkurse. Mit dem Geld, das er vom Jobcenter für die Wohnung bekommt, den Hartz IV-Leistungen und dem Kindergeld, komme er hin, sagt Nikita. Aber auch nur, weil er Klamotten secondhand kauft und immer wieder Lebensmittel von der Tafel.

Momentan erzieht Nikita seine Kinder wieder alleine. Er will nicht viel darüber sprechen, warum die Mutter seiner Kinder vor einigen Wochen entschieden hat, wieder nach Dubai zu gehen und dort zu arbeiten - so wie schon zu Beginn des Krieges.

"Wir hatten vor Kriegsausbruch schon Beziehungsprobleme und jetzt hat es einfach nicht mehr geklappt", sagt Nikita. Weil die Familie deswegen auch weniger Wohngeld bekommt, muss sich Nikita langsam nach einer neuen Wohnung umschauen, obwohl die aktuelle für alle so gut passt.

Die Scham des Geflohenen, der überlebt hat

Im März letzten Jahres schilderte Nikita unter Tränen, wie ihm die Scham, dem Krieg entflohen zu sein und überlebt zu haben, zusetze. Ein Jahr später beschäftigt ihn das Thema immer noch und er fragt sich immer wieder, was sein Beitrag für die Zukunft seines Landes ist.

Ich erziehe hier meine drei Kinder, damit sie einen guten Start ins Leben haben.

Nikita

"Wir sitzen hier in einer warmen Wohnung und dort kämpfen sie in den Gräben." Er versuche, sich von dem Schamgefühl zu distanzieren, sagt Nikita, denn er ist überzeugt, dass die Flucht die richtige Entscheidung gewesen ist. "Ich erziehe hier meine drei Kinder, damit sie einen guten Start ins Leben haben und irgendwann unser Land wiederaufbauen können."

Zukunftspläne in Weimar

Mitte Februar haben Nikita und seine älteste Tochter Nastya nun den Deutsch-Test für Zuwanderer abgelegt - bestehen sie ihn, ist die abschließende Sprachprüfung des Integrationskurses geschafft. Nikita plant, weiter intensiv Deutsch zu lernen und denkt darüber nach, eine Ausbildung zu beginnen.

In seinem ukrainischen Leben hat Nikita in verschiedenen Bereichen gearbeitet - in der kommunalen Administration aber auch als Journalist. Was es hier in Deutschland genau werden soll, weiß er noch nicht genau: "Ich bin auf der Suche, aber ich habe das System noch nicht ganz verstanden."

Hinweis: Das Kerzenprojekt von Olexandra und den anderen Ukrainerinnen und Ukrainern trifft sich jeden Mittwochnachmittag. Die Gruppe lädt andere Menschen ein, mit an den Kerzen zu arbeiten oder Wachsreste als Sachspende abzugeben. Die nächsten Treffen sind am 4. und 11. März um 14 Uhr am Co-Labor am Burgplatz.

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 10. Februar 2023 | 08:00 Uhr

36 Kommentare

faultier am 22.02.2023

Wieso Bäcker ist einer der wichtigsten und ehrenwertesten Berufe überhaupt und Genau solche Migranten die auch solche Jobs annehmen sind herzlich willkommen ,leider laufen genug Problemfälle ohne Motivation und Anpassungswillen hier herum und die will ich auch nicht hier haben.

Vheissu am 22.02.2023

Aber dass ist nur Ihre gefühlte Wahrnehmung, weil Sie die vielen Tausend, die bei Zalondo, Amazon und anderswo fleißig arbeiten, gar nicht wahrnehmen, sondern nur die auf den Marktplätzen präsenten Männergruppen sehen.

Kleingartenzwerg am 22.02.2023

"Ich kenne einen Flüchtling aus Nordafrika, der arbeitet."

Es geht auch nicht um diesen und die anderen die einen Sozialversicherungspflichtigen Job haben und sei es im Barbershop, es geht um die anderen und das sind auch nach meiner persönlichen Erfahrungen nicht gerade wenige ohne alle gleichsetzten zu wollen.

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