100. Jubiläum Jenaplan-Schule: Reformpädagogik aus Thüringen ist weltweit bekannt
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24. April 2024, 11:26 Uhr
Der Unterricht an Jenaplan-Schulen ist anders: keine 45-Minuten-Stunden, keine Noten in der Grundschule und kein Sitzenbleiben mehr. Auch die Altersdurchmischung spielt eine große Rolle beim reformpädagogischen "Jenaplan". In Jena wird jetzt dessen 100. Jubiläum gefeiert.
- Wie 40 Jahre nach der Schließung die Jenaplan-Schule zurück nach Jena kam
- Was in der Jubiläums-Ausstellung alles zu sehen ist
- Warum die Jenaplan-Abiturientinnen weniger Prüfungsstress haben
Die Augen der 91-jährigen Ulli Wittich-Großkurth leuchten, als sie das alte Schulgebäude betritt und sofort sind die Erinnerungen wieder da: "Ich war ein sehr glückliches Kind in dieser Schule, sie war unser Lebensinhalt".
Die Rede ist von der alten Universitätsschule in Jena. Peter Petersen übernahm 1924 deren Leitung und erprobte und entwickelte hier sein reformpädagogisches Konzept weiter, das inzwischen weltweit unter dem Namen "Jenaplan" bekannt ist.
1939 wurde Ulli Wittich-Großkurth hier in der Grietgasse eingeschult. Auch ihre Schwester lernte dort und von Anfang an gab es einen engen Kontakt zwischen Elternhaus und Lehrerschaft. "Die Lehrer kamen regelmäßig zu uns. Ich durfte sogar, wenn eine Lehrerin mit langen Haaren kam, ihre Haare kämmen und Frisuren aufstecken."
Der offene Umgang miteinander, die Freiheit beim Lernen, die Hilfsbereitschaft der Kinder untereinander - all das sind Sachen, von denen die ehemalige Schülerin erzählt. "Die Freundschaften, die wir dort geschlossen haben, halten bis heute."
Ich war ein sehr glückliches Kind in dieser Schule, sie war unser Lebensinhalt.
Und gelernt hat sie auch alles, was sie brauchte. Auch wenn sie mit Mathe bis heute auf Kriegsfuß steht: "Ich war nie gut im Rechnen, bin aber trotzdem eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden. Und meine Kollegen haben mich in den Zentralvorstand des Verbandes bildender Künstler gewählt, weil ich mich immer für andere eingesetzt habe. Das habe ich von Petersen gelernt."
Die Universitätsschule war übrigens die einzige Jenaplan-Schule, die in der NS-Zeit geöffnet blieb. 1950 allerdings wurde sie - mittlerweile 250 Schülerinnen und Schüler zählend - durch das Thüringer Ministerium für Volksbildung unter Leitung von Ministerin Torhorst als "reaktionäres Überbleibsel aus der Weimarer Republik" geschlossen.
Der Jenaplan kommt zurück nach Jena
1991 entstand dann die erste Thüringer "Jenaplan-Schule" nach der Wende. Auslöser war ein Treffen ehemaliger Schülerinnen und Schüler auf der Leuchtenburg.
Die Lehrerin Gisela John leitete damals den Jenaer Kulturausschuss und Hans Schenker war Schulamtsleiter. Beide waren zu dem Treffen eingeladen und was sie dort über die Schulzeit der Senioren hörten, hat sie fasziniert.
"Und da haben wir gesagt, dass wir diese Schule wieder brauchen in Jena. Das war Ende September 90. Und dann haben wir über den Kulturausschuss ins Stadtparlament einen Beschluss eingebracht. Das Schulamt von Jena sollte beauftragt werden, die Gründung einer Jenaplan-Schule vorzubereiten. Das ist einstimmig angenommen worden", erinnert sich Gisela John.
Dann musste alles recht schnell gehen. Denn Thüringen habe damals das alte gegliederte Schulgesetz der Bundesrepublik übernommen, wie John erzählt. Wie die Schulgründung vonstattenging, erzählt Gisela John im folgenden Audio:
1991 war es dann geschafft. Mit der "Jenaplan-Schule Jena" entstand ein vielbeachtetes Erfolgsmodell. Sie gehörte dann im Jahre 2006 zu den allerersten Schulen, denen der Deutsche Schulpreis verliehen wurde.
Zehn Jahre lang hat Gisela John die Schule geleitet. Und sie würde es immer wieder machen. "Ich wollte immer Lehrerin sein, hätte aber nie gedacht, dass ich eine Schule leiten könnte. Und wir haben ja anfangs alles selbst gemacht - gebaut, gestrichen, geputzt." Aber der Unterricht, sagt sie, ist an ihrer Schule entspannter als anderswo. "Die Lehrer sind nicht solche Einzelkämpfer, die Arbeit mit den altersgemischten Gruppen ist einfach schön."
Das Besondere: In der Jenaplan-Schule lernen die Kinder während ihrer gesamten Schulzeit gemeinsam. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass der Freistaat Thüringen dem Ausbau der Gemeinschaftsschule generell große Priorität einräumt, unabhängig vom pädagogischen Konzept.
An Gemeinschaftsschulen lernen Schülerinnen und Schüler gemeinsam und entsprechend ihrer Leistungsmöglichkeiten, Begabungen und Interessen, wobei sie individuell gefördert werden. Es geht dabei um gemeinsames Lernen bis einschließlich Klassenstufe 8. Abschlussbezogen wird erst ab der Klassenstufe 9 unterrichtet.
Thüringen exportiert Bildungskonzept in alle Welt
Mittlerweile gibt es in Deutschland wieder an die 70 Jenaplan-Schulen. Das Interesse wächst auch in anderen Ländern wie Belgien, Norwegen, Japan, Rumänien, Österreich, Portugal, Taiwan, Italien, Ungarn, Lettland, Chile - überall dort arbeiten Kindergärten und Schulen nach dem Jenaplan.
In Jena wurde im Jahr 2008 eine Diskussion um Peter Petersen und seine Rolle im Nationalsozialismus ausgelöst. Diese führte 2011 zu dem Beschluss des Stadtrats, den Petersenplatz in "JenaPlan" umzubenennen. Auch das wird in der Jubiläums-Ausstellung dargestellt.
Ausstellung zum Jubiläum
Es gibt überhaupt sehr viel zu besprechen und zu erzählen aus 100 Jahren Jenaplan. Deshalb kam Gisela John auf die Idee, eine Ausstellung dazu zu gestalten. Und tatsächlich hat sie auch diese Idee umgesetzt. "Da muss ich aber einen ganz schwachen Moment gehabt haben, als ich mir das vorgenommen habe. Aber es sollte irgendwie auch ein Abschluss für mich sein."
Da muss ich aber einen ganz schwachen Moment gehabt haben, als ich mir das vorgenommen habe.
In der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (Thulb) sammelte sie Fotos aus dem Schulalltag, Schüler- und Gruppenarbeiten, Zeichnungen, Unterrichtsmaterialien und Möbelnachbauten.
Das Konzept, das das Team entwickelt hat, spannt den Bogen vom historischen Jenaplan zu aktuellen Grundfragen heutiger und künftiger Pädagogik und Schulentwicklung.
Groß war das Team nicht, aber in der Thulb wurden die Frauen sehr unterstützt, erzählt John. "Ohne Frau Dr. Jana Gierschke und Carolin Barthel vom Zentrum für Lehrerbildung wäre das alles nicht zu schaffen gewesen."
Es geht um das Miteinander von Kindern und Lehrern in der Schule, um die Leistungskultur, den Unterschied zwischen Zensuren und verbalen Bewertungen, um fachübergreifenden Unterricht und darum, wie Schule heute sein müsste, um Bildung zeitgemäß und gerecht zu machen.
Eröffnet wird die Ausstellung in der Thulb in Jena am Donnerstagabend. Geöffnet ist sie dann vom 26. April bis Ende Oktober.
Gemeinsam lernen bis zum Schulabschluss
Jenaplan-Schulen sind staatliche Schulen. Im Unterschied dazu besuchen etwa 11,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Thüringen Schulen in freier Trägerschaft. Diese Freien Schulen sind sogenannte Ersatzschulen.
Lotte, Julika und Emma stecken gerade mitten im Abi-Stress, in wenigen Wochen endet ihre Schulzeit. An Jenaplanschulen übrigens nach 13 Jahren. Und natürlich sind sie genauso aufgeregt wie alle anderen Schülerinnen und Schüler, die jetzt ihre Prüfungen ablegen.
Trotzdem ist es für sie anders: "Ich bin der Meinung, dass ich hier aus dieser Schule rausgehe mit einem Selbstvertrauen, dass ich weiß, ich habe mir mit den Lehrern gemeinsam ein Wissen erarbeitet, worauf ich vertrauen kann, das ich jetzt in den Abiturprüfungen anwenden kann."
Wir haben gelernt, wie man lernt. Und wenn es ein Problem gibt, können wir selber eine Lösung finden.
In ihrer Schule, so sagen sie, wurde nicht nur der Lernstoff vermittelt. Es ging nicht nur ums Lernen an sich, sondern auch um Teamfähigkeiten und die eigene Entwicklung. "Und um Selbststrukturierung. Wir haben gelernt, wie man lernt. Und wenn es ein Problem gibt, können wir selber eine Lösung finden."
Vertrauen in eigene Leistungsfähigkeit
Die jungen Frauen wissen, dass diese Vorbereitungen ausreichen, um die Prüfungen zu schaffen. "Mit dem, was man uns hier mitgegeben hat, wird das gut ausgehen." Was die drei Schülerinnen über ihre Schulzeit erzählen und wie es für sie weitergeht, erzählen sie im folgenden Audio.
Die Abiturprüfungen sind nur eine Momentaufnahme für sie: "Die Noten zeigen unser Wissen in der Prüfung, nicht unseren Wert als Mensch". Und ein bisschen Glück sei auch dabei, finden sie. "Die Aufgaben kommen ja vom Land, da weiß man nicht, was man bekommt."
Die Noten zeigen unser Wissen in der Prüfung, nicht unseren Wert als Mensch.
Aber man spürt, dass sie Vertrauen haben in sich selbst und in das, was ihre Schule ihnen mitgegeben hat.
Und das bleibt ihnen ihr Leben lang, sagt Ulli Wittich-Großkurth. Und die muss es wissen. Immerhin liegt ihre Zeit in der Jenaplanschule inzwischen mehr als 80 Jahre zurück.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 22. April 2024 | 06:18 Uhr
Sigrun vor 33 Wochen
@Dermbacher
Zum einem muss man das ursprüngliche Konzept als Konzept in seiner Zeit sehen. Wenn ich will, kann ich allen pädagogischen Konzepten des letzten Jahrhunderts rassistisch-völkische Positionen.
Beachtet werden muss allerdings auch, dass es zwei Phasen der Überarbeitung des Jena-Plan-Konzepts gab, 1945 ff. und 1990 ff. Der Vorwurf "rassistisch-völkische Positionen" verbietet sich spätestens seit dem Ende des 2. Weltkriegs.
Dermbacher vor 33 Wochen
Der Bildungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer hat festgestellt, dass das pädagogische Konzept von Jenaplan auf rassistisch-völkische Positionen im Nationalsozialismus beruht!
Tom0815 vor 33 Wochen
@Mr. Nobody
Danke für den Hinweis an @Atheist, dass EINE persönliche/individuelle Sicht/Erfahrung seltenst als DIE WAHRHEIT taugt. Sowas wird aber glaube ich heutzutage in einigen Schulen auch bereits gelehrt. ;-)