Kasachstan Verstrahlt und vergessen? Opfer sowjetischer Atomtests kämpfen um Anerkennung
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19. November 2024, 11:07 Uhr
In Kasachstan kämpfen Überlebende der sowjetischen Atomwaffentests um Anerkennung und medizinische Versorgung. Die Explosionen auf dem "Polygon" Semipalatinsk führten zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, die bis heute spürbar sind. Die staatliche Unterstützung der Opfer ist bruchstückhaft, viele Forderungen bleiben unerfüllt.
Atomtest-Opfer schließen sich zusammen
"Wir sind hier, um gehört zu werden!" Maira Abenowa, eine charismatische ältere Frau, spricht mit starker Stimme, während sie sich an den Tisch im Kulturpalast von Semey lehnt. Um sie herum sitzen andere Überlebende der sowjetischen Kernwaffenversuche, die jahre- oder jahrzehntelang im Schatten der Atomtests gelebt haben.
Abenowa ist eine der Gründerinnen des "Komitees Polygon 21", das sich für die Opfer der Atomwaffentests einsetzt. "30 Jahre nach der Schließung des Testgeländes kämpfen wir immer noch um Anerkennung und Unterstützung", sagt sie. "Wir wollen, dass die Menschen wissen, was hier geschehen ist, und dass wir nicht vergessen werden."
Semipalatinsk: 2.500 Hiroshima-Bomben
Die Kernwaffentests auf dem Testgelände Semipalatinsk, auch Polygon genannt, begannen am 29. August 1949 unter dem Codenamen "Perwaja molnija", auf Deutsch "Erste Beleuchtung", und dauerten bis 1989. Das Uran für die erste gezündete Atomwaffe der Sowjetunion stammte von der Wismut in der ehemaligen DDR. Während dieser Zeit wurden nach offiziellen Angaben insgesamt 456 Tests durchgeführt. Uran-, Plutonium- und Wasserstoff-Bomben — aus Flugzeugen abgeworfen, per Artillerie ins Ziel geschossen oder stationär installiert.
"Hier auf kasachischem Boden fand ein regelrechter Atomkrieg statt", sagt einer der Überlebenden. Alle Zündungen in der Stratosphäre, an der Erdoberfläche und darunter entsprechen der Schlagkraft von 2.500 Hiroshima-Bomben. Hunderte weiterer Atomwaffentests fanden in anderen Regionen des Landes statt.
Im Glauben, ein ganz normales, sicheres Leben zu führen, waren die Menschen im Umfeld der kasachischen Kernwaffen-Testanlagen in Wahrheit jahrelang aggressiver Strahlung ausgesetzt. Erst ab 1953 begannen die sowjetischen Militärs, die Einheimischen nach und nach durch sporadische Radioansagen zu warnen, sie sollten die Häuser vor einem nächsten Test verlassen.
Die Auswirkungen der Strahlung waren anfangs noch nicht ausreichend erforscht und die Sicherheitsabstände bei den Tests zu gering. Laut offiziellen Zahlen wurden etwa 1,5 Millionen Menschen in der Region um das Testgelände direkt der Strahlung ausgesetzt und indirekt durch kontaminiertes Wasser oder verstrahlte tierische Lebensmittel.
Gesundheitliche Folgen der Atomtests
Ein älterer Herr namens Kurmasch Schamanbalin erzählt, dass er im Dorf Zarapan nahe des "Atomsees" Tschagan geboren wurde, der 1965 durch eine Kernwaffenexplosion geschaffen wurde. Im Rahmen des sowjetischen Programms "Atomexplosionen für die Volkswirtschaft" wurden damals Möglichkeiten erprobt, Nuklearwaffen für zivile Zwecke nutzbar zu machen.
Der Mann berichtet, dass er viele Nukleartests mit eigenen Augen gesehen hat. Weder seine Eltern, noch sein Bruder und er selbst hätten gewusst, was die Explosionen und die riesigen aufsteigenden Wolken bedeuteten. "Leider starben meine Eltern früh, ebenso wie mein Bruder und mein Sohn mit Anfang Zwanzig", sagt der Mann sichtlich ergriffen.
Viele Betroffene erzählen, dass Freunde, Familienangehörige oder sie selbst krank geworden sind. Oft könnten Ärzte bei den Überlebenden aber keine konkrete Diagnose stellen und somit auch keine angemessene Behandlung verschreiben. Einige berichten von verschiedenen Krebsarten, die in der Region stark zugenommen haben sollen, darunter Schilddrüsen- und Lungenkrebs.
Forschungslage zu Spätfolgen noch dünn
Konkrete Fallzahlen aus unabhängigen Quellen zu ermitteln ist schwer. Allerdings stellten Forschende der Universität Leicester in Großbritannien in einem Bericht aus dem Jahr 2002 fest, dass Menschen, die in der Nähe von Semipalatinsk hohen Strahlungsdosen ausgesetzt waren, eine um 80 Prozent höhere Rate an DNA-Mutationen aufwiesen als die Kontrollgruppen. Bei den Kindern war die Rate noch um 50 Prozent erhöht.
Außerdem bestätigt die Universität Zentralasiens nach Auswertungen verschiedener Forschungsergebnisse, dass die oberirdischen Tests zwischen 1949 und 1962 für bis zu 95 Prozent der Strahlenbelastung und der Umweltverseuchung in Kasachstan verantwortlich sind. Abseits der hohen Krebsraten untersuchte die Internationale Kommission für Strahlenschutz die Auswirkungen der Strahlenbelastung und stellte u.a. Lungen- und Nierenschäden, kognitive Störungen, Einschränkungen des Bewegungsapparates und eine erhöhte Sterblichkeit fest.
Diese traurige Realität spiegelt sich auch in den Gesprächen mit den Überlebenden wieder. "Ich habe gesehen, wie viele Kinder in meiner Nachbarschaft mit schweren gesundheitlichen Problemen zur Welt kamen", sagt ein Teilnehmer des Treffens in Semey und fügt hinzu: "Es ist herzzerreißend."
Staatliche Unterstützung gering
Obwohl die kasachische Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um den Opfern der sowjetischen Kernwaffentests zu helfen, bleibt die Unterstützung oft unzureichend. So sieht das Gesetz von 1992 zur Anerkennung von Opfern der Atomwaffentests vor, dass nur Personen, die zwischen 1949 und 1990 in der Region lebten, als Geschädigte anerkannt werden. Später geborene Menschen werden nicht berücksichtigt.
Die Geschädigten haben einen speziellen Ausweis, der ihnen gewisse Vergünstigungen gewährt, etwa eine Einmalzahlung, deren Höhe von der Anzahl der Jahre abhängig ist, die eine Person in den kontaminierten Gebieten gelebt hat. Die Bemessungsgrundlage für diese Leistung war an den Mindestlohn in Kasachstan gekoppelt, wurde aber mit der Zeit herabgesetzt.
Ein zentrales Problem des Gesetzes ist die unklare Klassifizierung der Opfer, die zu Ungerechtigkeiten führt. Während das Leiden einiger Überlebender anerkannt wird, erhalten andere, deren Umstände vom Gesetz nicht erfasst sind, keine Unterstützung, berichtet die Gründerin von "Komitee Polygon 21", Maira Abenowa. Als besonders ungerecht wird beispielsweise empfunden, dass Überlebende, die aus einer verstrahlten Region um das Polygon wegziehen, meist ihre Ansprüche verlieren.
Außerdem betonen Betroffene in den Gesprächen, dass die Unterstützung angesichts hoher medizinischer Kosten nicht ausreichend sei und über die Jahre die monatliche Kompensationszahlung, aktuell umgerechnet 10 Euro, kontinuierlich gesenkt wurde. "Es gibt uns das Gefühl, dass wir vernachlässigt werden", so einer der Überlebenden.
Zivilgesellschaft vs. sowjetische Mentalität
Bis heute will die Mehrheit der Menschen in Semey das, was passiert ist, nicht hinterfragen. "Sie beten einfach, dass sie nicht von den Folgen der Tests betroffen sind. Sie trauen sich nicht zu fragen, wer ihnen dieses Leid zugefügt hat", erklärt Kurman Ajmukhanbetow, ein Künstler und Überlebender der Atomwaffentests.
Zwei zentrale Faktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle. Zum einen standen nach dem Zerfall der Sowjetunion ökonomische Fragen im Vordergrund. In den 1990ern hatten die Menschen wenig und mussten regelrecht ums Überleben kämpfen. Diese Notlage führte dazu, dass viele die verheerenden Auswirkungen der Tests ignorierten, in der Hoffnung, dass sie selbst nicht betroffen seien. So stahlen viele Menschen verstrahltes Metall vom Testgelände, um es gewinnbringend zu verkaufen.
Zum anderen, so Ajmukhanbetow, sind ehemalige Sowjetbürger nicht gewohnt, kritische Fragen an die Politik zu stellen. Dies könne für Menschen aus dem demokratischen Westen schwer zu verstehen sein: "Wir hatten nicht das Recht, Dinge zu hinterfragen, die unsere Regierung so festgelegt hat."
Abenowa, die Gründerin von Polygon 21, gibt sich aber hoffnungsvoll: "Die Zivilgesellschaft war in den letzten 30 Jahren nicht aktiv genug. Aber jetzt übernehmen wir die Verantwortung für uns und unsere Kinder. Wir haben lange geschwiegen, weil wir Angst hatten. Angst vor den Behörden, Angst, dass niemand uns glauben würde. Viele dachten, es sei besser, die Vergangenheit zu vergessen."
Die Angst habe dazu geführt, dass die Stimmen der Betroffenen lange Zeit ungehört geblieben seien, so Abenowa. Denn die weit verbreitete Stigmatisierung der strahlungsbedingten Erkrankungen, die sich u.a. in abwertenden Bezeichnungen niederschlägt, und die mögliche Ausgrenzung durch andere Kasachen hält viele Betroffene davon ab, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Hoffnungsschimmer für Atomtestopfer
Trotz der Herausforderungen kämpfen die Überlebenden der Atomwaffentests in Semey um Anerkennung und angemessene Unterstützung. "Wir fordern, dass die medizinische Versorgung verbessert und ein Zukunftsplan für unsere Region umgesetzt wird", sagt Abenowa. Und es scheint sich etwas zu bewegen: Mitte des Jahres fand ein erstes Treffen einer Regierungskommission mit Überlebenden statt.
Zukünftig sollen internationale Organisationen und Fachleute in die Entwicklung neuer Maßnahmen rund um das ehemalige Testgebiet einbezogen werden. So besteht trotz vieler Schicksalsschläge auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft. "Wir sind mehr als nur Opfer. Wir sind Überlebende. Und wir werden nicht schweigen", betont Abenowa mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 07. Dezember 2024 | 07:17 Uhr